Metzler Lexikon Philosophie: Rationalitätstypen
Unübersichtliche Phänomenbereiche nötigen zu typisierender Begriffsbildung, um sich in ihnen orientieren zu können, und dies ist im Feld des modernen Begriffs ˲Rationalität˱ der Fall. Dies ist insofern kein neuer Tatbestand, als auch die traditionelle Philosophie niemals über ein einheitliches Vernunftkonzept verfügte. So konnte ein und dasselbe Begriffswort sachlich Verschiedenes bezeichnen oder umgekehrt das, was wir auf den ersten Blick als etwas Einheitliches ansehen, in verschiedener Hinsicht ausdifferenziert werden. So erscheint in der antiken griechischen Philosophie der logos einmal als die objektive Weltvernunft, die als ewiges Weltgesetz alle Dinge und Ereignisse bestimmt (Heraklit, Stoa), und dann auch als das subjektive Vermögen von Vernunft und Sprache, das den Menschen vom Tier unterscheidet (Aristoteles). Die platonische Unterscheidung zwischen noësis und dianoia, die man mit der zwischen dem intuitiven und diskursiven Erkennen übersetzen kann, wird in der lateinischen Tradition die zwischen intellectus und ratio, und diese wiederum wird nach einer merkwürdigen Vertauschung im Spätma. in der deutschen Terminologie mit ˲Verstand˱ und ˲Vernunft˱ wiedergegeben; Kant fügte dem dann noch die Urteilskraft als ein von Verstand und Vernunft zu unterscheidendes rationales Vermögen hinzu. Folgenreich war auch die aristotelische Unterscheidung zwischen den der Theorie und der Praxis zugeordneten dianoëtischen Tüchtigkeiten: Wissenschaftliches Erkennenkönnen (episteme) und intuitive Einsicht (nous) auf der einen Seite, Herstellenkönnen (techne) und Klugkeit (phronesis) auf der anderen, sowie Weisheit (sophia) als Einheit von episteme und nous; in diesem Sinne hat dann auch Kant grundsätzlich zwischen theoretischer und praktischer Vernunft unterschieden. Diese traditionellen Vernunfttypen sind weiterhin im philosophischen Diskurs präsent, aber sie können im Umkreis der modernen Rationalitätstheorien nicht unbesehen übernommen werden. Als methodisches Vorbild bietet sich vor allem Max Webers handlungstheoretische Typologie an, die es gestattet, soziale Handlungen nach den Arten und Graden der Rationalität zu ordnen, die den Handelnden leitet; er geht davon aus, dass zweckrationales Handeln der Handlungstyp ist, der uns am verständlichsten erscheint, während wertrationales, affektuelles und traditionales Handeln als Abweichungen von jenem »reinen« Rationalitätstyps erscheinen. In allen Fällen handelt es sich deswegen um Rationalität, weil das Wort ˲Rationalität˱ zunächst nicht mehr meint als den Inbegriff der Gründe, den Handelnde selbst für ihr Handeln haben; eine normative Stellungnahme dazu ist hier nicht im Spiel. Diese Typologie wurde von Jürgen Habermas aufgenommen und umgestaltet zur doppelten Unterscheidung zwischen verständigungs- und erfolgsorientiertem Handeln und monologischem und intersubjektivem Handeln, woraus sich – da verständigungsorientiertes Handeln in monologischer Hinsicht keinen Sinn macht – die Trias »instrumentelle, strategische und kommunikative Rationalität« ergibt. Im theoretischen Bereich war besonders Karl Poppers Vorschlag folgenreich, angesichts der unüberwindlichen Schwierigkeiten des traditionellen Rationalitätskonzepts zureichender Begründung (Münchhausen-Trilemma) einen alternativen Rationalitätstypus zu bevorzugen – den der kritischen Prüfung – von dem sich zeigen lässt, dass er viel besser mit dem modernen Wissenschaftsverständnis zusammenpasst; dieser Rationalitätstypus ist die Grundlage der Philosophie des Kritischen Rationalismus.
Eine leistungsfähige Rationalitätstypologie muss von dem Dispositionsprädikat ˲rational˱ ausgehen, das nur Menschen zuschreibbar ist; Rationalität ist ein menschliches Vermögen und nicht mehr als ein metaphysischer Weltzustand behauptbar, wie die traditionelle Philosophie von Heraklit bis zu Hegel in ihrer Mehrheit geglaubt hatte. So können wir auch Dinge, Ereignisse oder Zustände nur dann rational nennen, wenn sie auf menschliches Handeln als ihre Herkunft verweisen; so gesehen ist ˲Systemrationalität˱ (Luhmann) eine Metapher, die in Wahrheit ˲Funktionalität˱ meint. Das lateinische Wort ˲ratio˱ verweist überdies selbst auf das, was wir denen zuschreiben, die wir für rational halten: nämlich Gründe für ihre Meinungen, Überzeugungen und Handlungen. Rationalität als Disposition meint somit die Kompetenz, Gründe zu haben, über Gründe zu verfügen und Gründe zu präsentieren, und dies Dritte nennen wir ˲Begründung˱. Eine Rationalitätstypologie beginnt darum am besten mit einer Typologie von Begründungen und konstruiert sie im Sinne von Antworten auf Warum-Fragen. Dabei empfiehlt es sich, theoretische von praktischen und objektive von subjektiven Begründungen zu unterscheiden. Theoretische Begründungen beantworten in objektiver Hinsicht Warum-Fragen die sich auf die Existenz oder Veränderung von Dingen, Ereignissen und Zuständen in der Welt beziehen; solche objektiven »Gründe« (rationes) nennen wir im Unterschied zur metaphysischen Tradition ˲Ursachen˱ (causae) und die »Begründung« aus Ursachen ˲Erklärung˱, aber es ist keine Frage, dass solche Erklärungen Rationalität voraussetzen, die man dem Typus ˲kognitive Rationalität˱ zuordnen kann. – Die subjektiv-theoretischen Begründungen beantworten die Frage, warum es sinnvoll oder geraten ist, von der Existenz bestimmter Dinge, Ereignisse oder Zustände überzeugt zu sein; man nennt sie allgemein epistemische Begründungen, was es nahelegt, sie dem Typus ˲epistemische Rationalität˱ zuzuordnen. – Antworten auf Warum-Fragen in praktischen Zusammenhängen, die sich auf objektive Gründe dafür beziehen, dass etwas zu tun oder zu lassen sei, kann man normative Begründungen nennen; wir kennen sie aus rechtlichen Zusammenhängen, aber auch Gebrauchsanweisungen gehören dazu, denn sie sagen uns, was wir tun müssen, um das zu erreichen, was wir wollen; dies verweist auf den Typus ˲normative Rationalität˱. Schließlich erkundigen wir uns auch nach den subjektiven Gründen oder Motiven für das, was jemand getan hat oder zu tun vorhat; Antworten darauf sind subjektiv-praktische oder auch intentionale Begründungen, und in diesem Sinne kann man von praktischer Rationalität sprechen.
Unsere rationalen Fähigkeiten erschöpfen sich aber nicht darin, Warum-Fragen zu stellen und zu beantworten; Rationalität ist auch erfordert, wenn es darum geht, die in solchen Antworten enthaltenen Feststellungen und somit Behauptungen überhaupt zu beurteilen. Im Unterschied zu Erklärungen und Begründungen, die sich sämtlich auf Dinge, Ereignisse und Zustände in der Welt beziehen, nennen wir die Thematisierung von Behauptungen Argumentation. Dabei geht es um die Geltungsansprüche, die wir immer dann erheben, wenn wir etwas behaupten; bezogen auf die vier Typen der Begründungsrationalität sind dies abgesehen vom logischen Anspruch der Stringenz die Geltungsansprüche ˲Wahrheit˱ (kognitiv), ˲Richtigkeit˱ (normativ), Plausibilität (epistemisch), Sinnvollsein (praktisch), aber in anderen Kontexten ist mit weiteren Geltungsansprüchen zu rechnen wie Wahrhaftigkeit, Authentizität oder ästhetischer Qualität. Die argumentative Erörterung von Geltungsansprüchen vollzieht sich im Wechselspiel von Kritik und Rechtfertigung, und sie ist der Ort dessen, was Popper und der Kritische Rationalismus als Kritische Rationalität ins Zentrum ihres Philosophieverständnisses rücken; es lässt sich zeigen, dass dies mit dem übereinkommt, was Kant als Einheit von Vernunft und Kritik in seinem Konzept kritischer Vernunft zusammengedacht hatte, wobei der Urteilskraft neben Verstand und Vernunft die führende Rolle zufällt. Die Unterscheidung zwischen kommunikativem Handeln und Diskurs bei Habermas lässt sich hier aufnehmen, denn unter ˲Diskurs˱ ist bei ihm nichts anderes als die nur indirekt auf Fakten Bezugnehmende argumentative Erörterung von Geltungsansprüchen gemeint, weswegen man an dieser Stelle auch von ˲Diskursrationalität˱ sprechen könnte. – Wichtig ist, dass die Geltungsansprüche ˲Wahrheit˱ und ˲Richtigkeit˱ die Rationalität von Behauptungen und Begründungen mit dem in Verbindung bringen, was objektiv der Fall ist oder gilt, während das Plausible und praktisch für sinnvoll Gehaltene auch dann als rational gelten kann, wenn es sich nachträglich als irrig oder wenig sinnvoll herausstellt; hier entscheidet nur die subjektive Informationsbasis, die zur Verfügung stand. (In diesem Sinne unterscheidet Max Weber zwischen objektiver Richtigkeitsrationalität und subjektiver Zweckrationalität, die z.B. in Fragen der ökonomischen Rationalität allein zur Debatte steht.) Es stellt sich freilich die Frage, ob man unabhängig von der subjektiven Rationalitätsperspektive überhaupt feststellen kann, was objektiv wahr oder richtig ist, weswegen verschiedene Theoretiker das Wahre und Richtige mit dem, was man mit guten Gründen behaupten und gegen Kritik verteidigen kann, geradezu identifizieren (Habermas, Putnam u. a.); es ist aber keine Frage, das von Wissenschaft, Technologie, Justiz oder Moral zumindest der Anspruch, auf der Grundlage zutreffender Informationen das objektiv Richtige zu tun, vom Rationalitätsanspruch nicht getrennt werden kann. – Der Begründungsrationalität in ihren verschiedenen Gestalten und der Diskursrationalität liegt aber ein dritter Rationalitätstypus zugrunde, der das Vermögen betrifft, überhaupt etwas zu äußern, was als Einzelbehauptung in eine Begründung eingehen kann oder als Argument in Diskursen verwendbar ist; dies ist der logos, den Aristoteles dem Menschen als Spezifikum zugesprochen hatte, und der als ratio in der traditionellen Definition des Menschen als animal rationale wiedererscheint. Dieser weite, normativ neutrale Rationalitätsbegriff (Rationalität) betrifft das Vermögen, etwas Verständliches zu äußern oder zu tun, wobei die Sprechakttheorie deutlich macht, dass im Felde der Sprechakte das Sichäußern und Tun zusammenfallen. Da man zeigen kann, dass Rationalität qua Verständlichkeit, die man auch als Kommunikationsrationalität bezeichnen kann, nur in einem intersubjektiv geteilten symbolischen Medium möglich ist, gewinnt die Theorie der Rationalitätstypen hier Anschluss an die Anthropologie des animal symbolicum (Cassirer).
Die hier vorgestellte Rationalitätstypologie ist das Ergebnis eines Versuchs, die Rationalitätstheorie auf eine möglichst breite Basis zu stellen sowie ein Maximum der Rationalitätsphänomene zur berücksichtigen, mit denen sich die philosophische Tradition ebenso wie die modernen Theoretiker der verschiedensten Disziplinen beschäftigten; natürlich sind hier Alternativen denkbar. Von Rationalitätstypen ist z.B. auch dort die Rede, wo verschiedene Denk- und Begründungsstile in Philosophie und Wissenschaft vergleichend untersucht werden; hier wird das Wort anders verwendet als im Zusammenhang einer Rationalitätstheorie im engeren Sinn.
Literatur:
- E. Cassirer: Versuch über den Menschen. Hamburg 1996. S. 51
- J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt 1981
- C. G. Hempel: Der Begriff der Rationalität und die Logik der Erklärung durch Vernunftgründe. In: Ders.: Aspekte der wissenschaftlichen Erklärung. Berlin/New York 1977. S. 191–222
- N. Luhmann: Zweckbegriff und Systemrationalität. Tübingen 1968
- M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. J. Winckelmann. Köln 1964.
HS
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