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Metzler Lexikon Philosophie: Rückwirkungsverbot

Dem R. zufolge darf jemand nicht für eine Handlung bestraft werden, die zur Tatzeit noch nicht mit einer gesetzlichen Strafandrohung versehen war. Dieses an Gesetzgeber wie Richter gleichermaßen adressierte Gebot der lex praevia ist gemeinsam mit denen der lex certa (Bestimmtheitsgebot), lex scripta (Ausschluss des Gewohnheitsrechts) und der lex stricta (Analogieverbot) in Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich und in § 1 StGB einfachgesetzlich verankert (»nulla poena sine lege«, so zuerst J.P. A. Feuerbach 1801). Das R. bezieht sich im Kern auf Kriminalstrafen, umgreift aber auch das Ordnungswidrigkeiten-, Disziplinar- und Standesrecht; für das sonstige öffentliche Recht ist hingegen der allgemeinere und weniger strenge rechtsstaatliche Vertrauensschutzgedanke maßgeblich. Das R. wirkt nur zugunsten des Beschuldigten, indem es sich auf neue gesetzliche Straftatbestände und Strafverschärfungen beschränkt, schließt freilich Änderungen der Rechtsprechung nicht aus. Es erfasst nach herrschender Auffassung nicht verfahrensrechtliche Normen wie z.B. Verjährungsfristen, wohl aber Rechtfertigungsund Schuldausschließungsgründe. Obwohl in den Menschenrechtsdokumenten des ausgehenden 18. Jh. erstmals klar ausformuliert, lässt sich das R. rechtsund ideengeschichtlich sehr viel weiter bis in das römische und kanonische Recht zurückverfolgen, soweit dort Materien dem Natur-, Gewohnheits- oder Richterrecht versperrt werden sollten. Seinen tragenden Sinn findet es weniger im Schuldgrundsatz als im Gedanken der Verlässlichkeit der Rechtsordnung und der Rechtssicherheit. Der Einzelne soll auf das bestehende Recht vertrauen können; dem Gesetzgeber soll verwehrt sein, die Vergangenheit nach seinen aktuellen Vorstellungen umzuwerten. Zur in Art. 7 Abs. 2 EMRK vorgesehenen Ausnahme vom R. hat die Bundesrepublik mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG einen Vorbehalt erklärt. Die gleichwohl vom Bundesverfassungsgericht in der sog. Mauerschützen-Entscheidung (BVerfGE 95, 96; i.E. bestätigt durch EGMR NJW 2001, 3035 [3037 ff.]) vertretene These, das R. entfalte seine strikte Schärfe nur in rechtsstaatlichen Demokratien, könne aber für »extremes Unrecht« Ausnahmen erleiden, ist irrig. Eher käme wegen der in rechtsstaatlichen Demokratien vorhandenen zusätzlichen Sicherungen das Gegenteil in Betracht. Dass selbst Hobbes (Leviathan, Kap. 27) das R. propagierte, belegt dessen umfassenden, gerade auch absolutistische und andere vorrechtsstaatliche Systeme umfassenden Anspruch.

Literatur:

  • H. Dreier: Gustav Radbruch und die Mauerschützen. In: Juristenzeitung 1997. S. 421–434
  • V Krey: Keine Strafe ohne Gesetz. Berlin/New York 1983
  • G. Schöckel: Die Entwicklung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes bis zur französischen Revolution (Diss. Göttingen 1952). Göttingen 1968
  • H.-L. Schreiber: Gesetz und Richter. Frankfurt 1976
  • B. Schünemann: Nulla poena sine lege? Berlin/New York 1978
  • A. Thier: Zeit und Recht im »ius commune« – Entwicklungsstufen des Rückwirkungsverbots in der Kanonistik. In: O. Condorelli (Hg.): »Panta rei«. Studi dedicati a Manlio Bellomo. Bd. V. Rom 2004/05. S. 383–406.

HD

  • Die Autoren
AA Andreas Arndt, Berlin
AB Andreas Bartels, Paderborn
AC Andreas Cremonini, Basel
AD Andreas Disselnkötter, Dortmund
AE Achim Engstler, Münster
AG Alexander Grau, Berlin
AK André Kieserling, Bielefeld
AM Arne Malmsheimer, Bochum
AN Armin Nassehi, München
AR Alexander Riebel, Würzburg
ARE Anne Reichold, Kaiserslautern
AS Annette Sell, Bochum
AT Axel Tschentscher, Würzburg
ATA Angela T. Augustin †
AW Astrid Wagner, Berlin
BA Bernd Amos, Erlangen
BBR Birger Brinkmeier, Münster
BCP Bernadette Collenberg-Plotnikov, Hagen
BD Bernhard Debatin, Berlin
BES Bettina Schmitz, Würzburg
BG Bernward Gesang, Kusterdingen
BI Bernhard Irrgang, Dresden
BK Bernd Kleimann, Tübingen
BKO Boris Kositzke, Tübingen
BL Burkhard Liebsch, Bochum
BR Boris Rähme, Berlin
BS Berthold Suchan, Gießen
BZ Bernhard Zimmermann, Freiburg
CA Claudia Albert, Berlin
CH Cornelia Haas, Würzburg
CHA Christoph Asmuth, Berlin
CHR Christa Runtenberg, Münster
CI Christian Iber, Berlin
CJ Christoph Jäger, Leipzig
CK Christian Kanzian, Innsbruck
CL Cornelia Liesenfeld, Augsburg
CLK Clemens Kauffmann, Lappersdorf
CM Claudius Müller, Nehren
CO Clemens Ottmers, Tübingen
CP Cristina de la Puente, Stuttgart
CS Christian Schröer, Augsburg
CSE Clemens Sedmak, Innsbruck
CT Christian Tewes, Jena
CZ Christian Zeuch, Münster
DG Dorothea Günther, Würzburg
DGR Dorit Grugel, Münster
DH Detlef Horster, Hannover
DHB Daniela Hoff-Bergmann, Bremen
DIK Dietmar Köveker, Frankfurt a.M.
DK Dominic Kaegi, Luzern
DKÖ Dietmar Köhler, Witten
DL Dorothea Lüddeckens, Zürich
DP Dominik Perler, Berlin
DR Dane Ratliff, Würzburg und Austin/Texas
EE Eva Elm, Berlin
EJ Eva Jelden, Berlin
EF Elisabeth Fink, Berlin
EM Ekkehard Martens, Hamburg
ER Eberhard Rüddenklau, Staufenberg
EWG Eckard Wolz-Gottwald, Davensberg
EWL Elisabeth Weisser-Lohmann, Bochum
FBS Franz-Bernhard Stammkötter, Bochum
FG Frank Grunert, Basel
FPB Franz-Peter Burkard, Würzburg
FW Fabian Wittreck, Münster
GK Georg Kneer, Leipzig
GKB Gudrun Kühne-Bertram, Ochtrup
GL Georg Lohmann, Magdeburg
GM Georg Mildenberger, Tübingen
GME Günther Mensching, Hannover
GMO Georg Mohr, Bremen
GN Guido Naschert, Tübingen
GOS Gottfried Schwitzgebel, Mainz
GS Georg Scherer, Oberhausen
GSO Gianfranco Soldati, Tübingen
HB Harald Berger, Graz
HD Horst Dreier, Würzburg
HDH Han-Ding Hong, Düsseldorf
HG Helmut Glück, Bamberg
HGR Horst Gronke, Berlin
HL Hilge Landweer, Berlin
HND Herta Nagl-Docekal, Wien
HPS Helke Pankin-Schappert, Mainz
HS Herbert Schnädelbach, Berlin
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JA Johann S. Ach, Münster
JC Jürgen Court, Köln
JH Jörg Hardy, Münster
JHI Jens Hinkmann, Bad Tölz
JK Jörg Klawitter, Würzburg
JM Jörg F. Maas, Hannover
JOP Jeff Owen Prudhomme, Macon/Georgia
JP Jörg Pannier, Münster
JPB Jens Peter Brune
JQ Josef Quitterer, Innsbruck
JR Josef Rauscher, Mainz
JRO Johannes Rohbeck, Dresden
JS Joachim Söder, Bonn
JSC Jörg Schmidt, München
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KE Klaus Eck, Würzburg
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MR Mathias Richter, Berlin
MRM Marie-Luise Raters-Mohr, Potsdam
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MSI Mark Siebel, Hamburg
MSP Michael Spang, Ellwangen
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MW Markus Willaschek, Münster
MWÖ Matthias Wörther, München
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PCL Peter Ch. Lang, Frankfurt a.M.
PK Peter Kunzmann, Jena
PN Peter Nitschke, Vechta
PP Peter Prechtl †
RD Ruth Dommaschk, Würzburg
RDÜ Renate Dürr, Karlsruhe
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RK Reinhard Kottmann, Münster
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RLA Rolf-Jürgen Lachmann, Berlin
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TM Thomas Mormann, Unterhaching
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TP Tony Pacyna, Jena
TW Thomas Welt, Bochum
UB Ulrich Baltzer, München
UT Udo Tietz, Berlin
UM Ulrich Metschl, München/Leonberg
VG Volker Gerhardt, Berlin
VM Verena Mayer, München
VP Veit Pittioni, Innsbruck
VR Virginie Riant, Vechta
WAM Walter Mesch, Heidelberg
WB Wilhelm Baumgartner, Würzburg
WH Wolfram Hinzen, Bern
WJ Werner Jung, Duisburg
WK Wulf Kellerwessel, Aachen
WL Winfried Löffler, Innsbruck
WM Wolfgang Meckel, Butzbach
WN Wolfgang Neuser, Kaiserslautern
WP Wolfgang Pleger, Cochem/Dohr
WS Werner Schüßler, Trier
WST Wolfgang Struck, Erfurt
WSU Wolfgang Schulz, Tübingen
WvH Wolfram von Heynitz, Weiburg

Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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