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Metzler Lexikon Philosophie: Sittlichkeit

bezeichnet ein Verständnis des Menschen, sich aus eigener Verpflichtung heraus an einer allgemeinen (sozialen) Verbindlichkeit zu orientieren, und bezeichnet gleichermaßen eine soziale und geschichtliche Wirklichkeit, in der sich solche Verbindlichkeiten (in Institutionen und Lebensformen) realisieren. Der Begriff akzentuiert einen deutlichen Unterschied zur bloß gelebten Sitte, d.h. zu einem Verständnis des Richtigen, das durch die vorgegebene Ordnung und die sozial geprägten Lebensgewohnheiten determiniert ist. Deshalb ist der volle Anspruch der S. mit an die Ausbildung des Gedankens der Selbstbestimmung gebunden. – Bei Aristoteles kann in zweierlei Hinsicht von S. gesprochen werden. Zum einen umfasst der Tugendbegriff den Aspekt der bewussten Entscheidung: Der Tugendhafte – verstanden i.S. der sittlichen Tüchtigkeit – wird als jemand charakterisiert, der sich nicht von Lust und Unlust leiten lässt. Er weiß das scheinbar Gute vom wirklich Guten zu unterscheiden und vollzieht aus einer klaren Entscheidung heraus eine Handlung um ihrer selbst willen. Auch die Wahl der richtigen Mittel ist als sittliche Erwägung einzuschätzen. Der andere – damit verbundene Aspekt – hängt mit dem Strebensbegriff zusammen, bei dem das Ziel im Handeln selbst liegt, d.h. in einer dem Handeln immanenten Vollkommenheit. Es stellt ein Streben dar, das als in sich selbst sinnvoll gilt. Aber die – im Vergleich zur Neuzeit – eingeschränkte S. bei Aristoteles zeigt sich darin, dass der Handelnde die Norm des Ethos internalisiert haben muss und die verbindliche Ordnung zum Ziel des Handelns nehmen muss.

Seit Kant versteht man unter S. die Übereinstimmung einer Handlung mit den als universal verbindlich anerkannten Normen. Deren universale Verbindlichkeit basiert auf ihrer rationalen Begründbarkeit, die frei anerkannt und nicht durch Anwendung von Zwang oder kraft Tradition durchgesetzt werden soll. Das zugehörige subjektive Verständnis entspricht dem einer Selbstbestimmung und Selbstbindung. Dieses Selbstverständnis repräsentiert jener Wille, der Stellung nimmt zu seinen Begierden, statt ihnen blindlings zu folgen. Als sittlicher Wille ist er aufgefordert, sich selbst nach eigenen Regeln zu bestimmen und diese Regeln nach allgemeinen (und nicht subjektiv beliebigen) Maximen zu gestalten. Von Kant her lässt sich S. als jene Form der Verbindlichkeit bestimmen, kraft derer eine Praxis für sich und als sie selbst auf ihren Sinn und ihre Verantwortbarkeit hin beurteilt wird. – Hegels Kritik an Kant klagt die S. als eine in der Wirklichkeit zu realisierende und realisierte Vernunft ein. Er kritisiert an Kant die Beschränkung des vernünftigen Seins auf die reine Innerlichkeit. Er kritisiert dies als halbierte praktische Vernunft, da von der äußeren Wirklichkeit, der das Individuum angehöre und in der es zu handeln habe, abgesehen wird. Seine Auseinandersetzung mit Kant mündet in die These, die Kantische Moralität als Form der S. lasse den Gedanken einer Realisierung des Vernünftigen in der Wirklichkeit gar nicht zu. Wenn die Zweiteilung in rein vernünftige Willensbestimmung einerseits und Handeln unter äußeren Bedingungen andererseits aufgehoben werden soll, müssen Vorkehrungen in der sozialen Wirklichkeit getroffen werden, die solcher moralischen Einstellung objektiv korrespondieren. Die Moralität der Gesinnung muss durch S. der historischen Lebensformen ersetzt werden.

Literatur:

  • Aristoteles: Nikomachische Ethik
  • R. Bubner: Moralität und Sittlichkeit – die Herkunft eines Gegensatzes. In: W. Kuhlmann (Hg.): Moralität und Sittlichkeit. Frankfurt 1986. S. 64 ff
  • G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. §§ 151 ff
  • O. Höffe: Sittlichkeit. In: H. Krings/H. M. Baumgartner/Ch. Wild (Hg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Bd. 5. München 1974. S. 1341 ff
  • I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
  • J. Ritter: Moralität und Sittlichkeit. In: Metaphysik und Politik. Frankfurt 1969. S. 281 ff.
  • Die Autoren
AA Andreas Arndt, Berlin
AB Andreas Bartels, Paderborn
AC Andreas Cremonini, Basel
AD Andreas Disselnkötter, Dortmund
AE Achim Engstler, Münster
AG Alexander Grau, Berlin
AK André Kieserling, Bielefeld
AM Arne Malmsheimer, Bochum
AN Armin Nassehi, München
AR Alexander Riebel, Würzburg
ARE Anne Reichold, Kaiserslautern
AS Annette Sell, Bochum
AT Axel Tschentscher, Würzburg
ATA Angela T. Augustin †
AW Astrid Wagner, Berlin
BA Bernd Amos, Erlangen
BBR Birger Brinkmeier, Münster
BCP Bernadette Collenberg-Plotnikov, Hagen
BD Bernhard Debatin, Berlin
BES Bettina Schmitz, Würzburg
BG Bernward Gesang, Kusterdingen
BI Bernhard Irrgang, Dresden
BK Bernd Kleimann, Tübingen
BKO Boris Kositzke, Tübingen
BL Burkhard Liebsch, Bochum
BR Boris Rähme, Berlin
BS Berthold Suchan, Gießen
BZ Bernhard Zimmermann, Freiburg
CA Claudia Albert, Berlin
CH Cornelia Haas, Würzburg
CHA Christoph Asmuth, Berlin
CHR Christa Runtenberg, Münster
CI Christian Iber, Berlin
CJ Christoph Jäger, Leipzig
CK Christian Kanzian, Innsbruck
CL Cornelia Liesenfeld, Augsburg
CLK Clemens Kauffmann, Lappersdorf
CM Claudius Müller, Nehren
CO Clemens Ottmers, Tübingen
CP Cristina de la Puente, Stuttgart
CS Christian Schröer, Augsburg
CSE Clemens Sedmak, Innsbruck
CT Christian Tewes, Jena
CZ Christian Zeuch, Münster
DG Dorothea Günther, Würzburg
DGR Dorit Grugel, Münster
DH Detlef Horster, Hannover
DHB Daniela Hoff-Bergmann, Bremen
DIK Dietmar Köveker, Frankfurt a.M.
DK Dominic Kaegi, Luzern
DKÖ Dietmar Köhler, Witten
DL Dorothea Lüddeckens, Zürich
DP Dominik Perler, Berlin
DR Dane Ratliff, Würzburg und Austin/Texas
EE Eva Elm, Berlin
EJ Eva Jelden, Berlin
EF Elisabeth Fink, Berlin
EM Ekkehard Martens, Hamburg
ER Eberhard Rüddenklau, Staufenberg
EWG Eckard Wolz-Gottwald, Davensberg
EWL Elisabeth Weisser-Lohmann, Bochum
FBS Franz-Bernhard Stammkötter, Bochum
FG Frank Grunert, Basel
FPB Franz-Peter Burkard, Würzburg
FW Fabian Wittreck, Münster
GK Georg Kneer, Leipzig
GKB Gudrun Kühne-Bertram, Ochtrup
GL Georg Lohmann, Magdeburg
GM Georg Mildenberger, Tübingen
GME Günther Mensching, Hannover
GMO Georg Mohr, Bremen
GN Guido Naschert, Tübingen
GOS Gottfried Schwitzgebel, Mainz
GS Georg Scherer, Oberhausen
GSO Gianfranco Soldati, Tübingen
HB Harald Berger, Graz
HD Horst Dreier, Würzburg
HDH Han-Ding Hong, Düsseldorf
HG Helmut Glück, Bamberg
HGR Horst Gronke, Berlin
HL Hilge Landweer, Berlin
HND Herta Nagl-Docekal, Wien
HPS Helke Pankin-Schappert, Mainz
HS Herbert Schnädelbach, Berlin
IR Ines Riemer, Hamburg
JA Johann S. Ach, Münster
JC Jürgen Court, Köln
JH Jörg Hardy, Münster
JHI Jens Hinkmann, Bad Tölz
JK Jörg Klawitter, Würzburg
JM Jörg F. Maas, Hannover
JOP Jeff Owen Prudhomme, Macon/Georgia
JP Jörg Pannier, Münster
JPB Jens Peter Brune
JQ Josef Quitterer, Innsbruck
JR Josef Rauscher, Mainz
JRO Johannes Rohbeck, Dresden
JS Joachim Söder, Bonn
JSC Jörg Schmidt, München
JV Jürgen Villers, Aachen
KDZ Klaus-Dieter Zacher, Berlin
KE Klaus Eck, Würzburg
KG Kerstin Gevatter, Bochum
KH Kai-Uwe Hellmann, Berlin
KHG Karl-Heinz Gerschmann, Münster
KHL Karl-Heinz Lembeck, Würzburg
KJG Klaus-Jürgen Grün, Frankfurt a.M.
KK Klaus Kahnert, Bochum
KRL Karl-Reinhard Lohmann, Witten
KS Kathrin Schulz, Würzburg
KSH Klaus Sachs-Hombach, Magdeburg
LG Lutz Geldsetzer, Düsseldorf
LR Leonhard Richter, Würzburg
MA Mauro Antonelli, Graz
MB Martin Beisler, Gerbrunn
MBI Marcus Birke, Münster
MBO Marco Bonato, Tübingen
MD Max Deeg, Cardiff
MDB Matthias Bloch, Bochum
ME Michael Esfeld, Münster
MFM Martin F. Meyer, Koblenz/Landau
MK Matthias Kunz, München
MKL Martin Kleinsorge, Aachen
MKO Mathias Koßler, Mainz
ML Mark Lekarew, Berlin
MLE Michael Leibold, Würzburg
MM Matthias Maring, Karlsruhe
MN Marcel Niquet, Frankfurt a.M.
MQ Michael Quante, Köln
MR Mathias Richter, Berlin
MRM Marie-Luise Raters-Mohr, Potsdam
MS Manfred Stöckler, Bremen
MSI Mark Siebel, Hamburg
MSP Michael Spang, Ellwangen
MSU Martin Suhr, Hamburg
MW Markus Willaschek, Münster
MWÖ Matthias Wörther, München
NM Norbert Meuter, Berlin
OB Oliver Baum, Bochum
OFS Orrin F. Summerell, Bochum
PE Peter Eisenhardt, Frankfurt a.M.
PCL Peter Ch. Lang, Frankfurt a.M.
PK Peter Kunzmann, Jena
PN Peter Nitschke, Vechta
PP Peter Prechtl †
RD Ruth Dommaschk, Würzburg
RDÜ Renate Dürr, Karlsruhe
RE Rolf Elberfeld, Hildesheim
REW Ruth Ewertowski, Stuttgart
RH Reiner Hedrich, Gießen
RHI Reinhard Hiltscher, Stegaurach
RK Reinhard Kottmann, Münster
RL Rudolf Lüthe, Koblenz
RLA Rolf-Jürgen Lachmann, Berlin
RM Reinhard Mehring, Berlin
RP Roland Popp, Bremen
RS Regina Srowig, Würzburg
RTH Robert Theis, Strassen
RW Raymund Weyers, Köln
SD Steffen Dietzsch, Berlin
SIK Simone Koch, Bochum
SP Stephan Pohl, Dresden
SZ Snjezana Zoric, Würzburg
TB Thomas Bausch, Berlin
TBL Thomas Blume, Dresden
TF Thomas Friedrich, Mannheim
TG Thomas Grundmann, Köln
TH Thomas Hammer, Frankfurt a.M.
TK Thomas Kisser, München
TM Thomas Mormann, Unterhaching
TN Thomas Noetzel, Marburg
TP Tony Pacyna, Jena
TW Thomas Welt, Bochum
UB Ulrich Baltzer, München
UT Udo Tietz, Berlin
UM Ulrich Metschl, München/Leonberg
VG Volker Gerhardt, Berlin
VM Verena Mayer, München
VP Veit Pittioni, Innsbruck
VR Virginie Riant, Vechta
WAM Walter Mesch, Heidelberg
WB Wilhelm Baumgartner, Würzburg
WH Wolfram Hinzen, Bern
WJ Werner Jung, Duisburg
WK Wulf Kellerwessel, Aachen
WL Winfried Löffler, Innsbruck
WM Wolfgang Meckel, Butzbach
WN Wolfgang Neuser, Kaiserslautern
WP Wolfgang Pleger, Cochem/Dohr
WS Werner Schüßler, Trier
WST Wolfgang Struck, Erfurt
WSU Wolfgang Schulz, Tübingen
WvH Wolfram von Heynitz, Weiburg

Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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