Metzler Lexikon Philosophie: Sollen
Im S. wird eine unbedingte Aufforderung (an den Willen des Menschen) zum Ausdruck gebracht. Für die Moralphilosophie hat Kant in besonderer Weise den Anspruch eines unbedingten S.s formuliert: Im Begriff der Pflicht kommt eine solche unbedingte Aufforderung an einen freien Willen zur Sprache. Die Vernunft nötigt den Willen, dem Sittengesetz zu gehorchen. Eine solche unbedingte Verbindlichkeit, d.i. praktische Notwendigkeit, kann nach Kant einzig daraus abgeleitet werden, dass die Vernunft dieses S. gebietet und nicht irgendwelche Vorstellungen von Nützlichkeit oder Glückseligkeit. Die Bezeichnung S.sethik weist auf diesen besonderen Umstand der Verpflichtung hin. Bei Fichte wird das Freiheitsprinzip zum absoluten Grund des S.s: Das Ich in absoluter Selbstbestimmung realisiert sich als ein Streben, das seinen eigenen Gesetzen bedingungslos gehorchen will. Auch Schelling folgt den Kantischen Vorgaben, wenn er das S. als die objektivierende Forderung des Selbstbestimmens darstellt: Das Ich soll die reine Selbstbestimmung wollen. Hegel kritisiert daran, dass mit dem S. einzig eine Idee formuliert ist. Er hält Kant entgegen, dass ein Sittengesetz, das sich auf das S. beschränkt, nur ein postuliertes Sein ist, das in einen unendlichen Progress führt, ohne jemals in der Wirklichkeit Gestalt annehmen zu können. Schopenhauer beurteilt das Kantische S. als Relikt einer theologischen Moralvorstellung, das nur in Beziehung auf Strafe und Belohnung einen Sinn hat (und insofern nicht unbedingt gelten kann). Ähnlich argumentieren Anscombe und Foot, wenn sie in Zweifel ziehen, dass das S. einzig aus einer vernünftigen Begründung (die keiner weiteren Begründung mehr bedarf und insofern als unbedingt gelten kann) resultiere. Die besondere Kraft des moralischen S.s ist bestenfalls ein Relikt des Glaubens an einen göttlichen Gesetzgeber. Also handle es sich nicht um eine Begründung, sondern um eine psychologische Erklärung. In der Transzendentalpragmatik und Diskurstheorie wird dagegen geltend gemacht, dass ein unbedingtes S. sich aus jenen implizit immer schon anerkannten Normen ableiten lässt, die jedem Sprechen und Argumentieren zugrunde liegen. Diesen nach-kantischen Begründungsformen stellt Tugendhat eine teilweise empirisch begründete Form des moralischen S.s entgegen. Sie basiert auf der Annahme einer spezifischen moralischen Sanktion, die sich in der Empörung anderer Personen und in der eigenen Scham über ein negativ bewertetes Verhalten äußert. Voraussetzung für die Wirksamkeit einer solchen Sanktion ist, dass es zum eigenen Selbstverständnis des betreffenden Individuum gehört, Mitglied in der moralischen Gemeinschaft sein zu wollen. In der Diskussion der Metaethik hat Hare dem präskriptiven Stellenwert von »sollen« folgendermaßen herausgehoben: Wer ein S.surteil ausspricht, verpflichtet sich damit, eine Handlung auch in anderen hypothetischen Situationen zu akzeptieren. Sein-Sollen-Differenz.
Literatur:
- G. E. M. Anscombe: Moderne Moralphilosophie. In: G. Grewendorf/G. Meggle (Hg.): Seminar: Sprache und Ethik. Frankfurt 1974. S. 217–243
- J.G. Fichte: System der Sittenlehre. Ges. Ausg. I/5. S. 68 ff., S. 145
- R.M Hare: Freiheit und Vernunft. Frankfurt 1983. S. 45 ff
- I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Akad.-Ausg. 4. S. 344 ff
- W. Kuhlmann: Ethikbegründung – empirisch oder transzendentalphilosophisch? In: Sprachphilosophie. Hermeneutik. Ethik. Würzburg 1992. S. 176–207
- P. Prechtl/A. Schöpf: Das Verhältnis von Moralentwicklung und Geltung. In: Phil. Rundschau 39 (1992). S. 29–51
- E. Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt 1993
- Ders.: Probleme der Ethik. Stuttgart 1984
- U. Wolf: Das Problem des moralischen Sollens. Berlin/New York 1984.
PP
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