Metzler Lexikon Philosophie: Spekulation, spekulativ
(lat. speculari: beobachten), ursprünglich das Denken, das die Wahrheit an sich zum Gegenstand hat, unabhängig von einem praktischen Bezug; es richtet sich im Unterschied zur praktisch ausgerichteten Erfahrung auf das Wesen der Dinge und ihre ersten Prinzipien. Die Bedeutungsvielfalt des Begriffs S. und der historische Wandel seiner Bestimmung und Bewertung rühren daher, dass er von Anfang an im Spannungsfeld von intuitivem und diskursivem bzw. reinem und empirischen Denken angesiedelt ist. – Speculatio war die lat. Übersetzung von griech. »theoria« (Betrachtung) und zunächst auch gleichbedeutend mit contemplatio (Kontemplation). In ihrer Unabhängigkeit von lebenspraktischen Zusammenhängen war die theoria als reine Tätigkeit des Denkens gefasst, die es nur mit sich selbst und nicht mit einem ihr fremden Stoff zu tun hat; sie ist damit auch reine Wirklichkeit (energeia). Aber schon bei Aristoteles war dieses Denken, das seine Gegenstände selbst anschauend hervorbringt, ein göttliches Ideal, an dem der Mensch, dessen Denken an sinnliche Wahrnehmung gebunden ist, nur teilhat. – Angesichts der Problematik des Zusammenbestehens von freiem Denken und inhaltlicher Gebundenheit an die Sinne wurde die Umdeutung des S.sbegriffs durch Augustinus bedeutsam, der S. in bewusster Abgrenzung zur Tradition und unter Berufung auf 1. Cor. 13, 12 von »speculum« (Spiegel) herleitete: In der S. erblickt der Mensch die Wahrheit wie in einem dunklen Spiegel, wobei er selbst als das Abbild Gottes in seinem geistigen Wesen den Spiegel darstellt, der infolge des Sündenfalls verdunkelt ist und durch die gläubige Hinwendung zu Gott klarer werden kann. Die wesentliche Reflexivität des s.en Denkens wird hierbei also gewahrt, aber mit Elementen der neuplatonischen Emanations- und Aufstiegslehre dynamisch überformt, wobei die S. gegenüber der ursprünglichen Bedeutung auch einen moralisch-praktischen Zug erhält. – Im christlichen MA. wird S. als die Erkenntnis der Dinge in Gott durch die Begriffe des Denkens zur Form des Erkennens schlechthin. Dabei hat das menschliche diskursive Denken dadurch Anteil am göttlichen intuitiven, dass es auf höchste Prinzipien und oberste Begriffe (Transzendentalien) zurückgeführt wird, die zwar der sinnlichen Wahrnehmung entnommen sind, aber nur dadurch ihre Funktion erfüllen, dass sie intentional nicht auf das Wahrgenommene, sondern auf ihr Erkanntsein durch Gott bezogen werden. Daher spielt in der S. des MA. das formale Verfahren (Syllogismus) eine große Rolle, in dem der Mensch das Wesen der Dinge zwar nicht unmittelbar, aber auf unbestimmte vermittelte Weise begreift. Mit der Unbestimmtheit, die durch den Begriff der Analogie gefasst wird, enthält die ma. S. ein erkenntniskritisches Moment, das in der neuzeitlichen Sicht verlorengeht. – Die an Aristoteles und Augustinus anknüpfende Auffassung der S. im MA. beruhte auf der Einheit von Denken und Wirklichkeit. Mit der Überwindung des Universalienrealismus (Universalienstreit) durch Ockham wurde diese Basis entzogen. An die Stelle der Vermittlung des Erkennens über die Teilhabe an der göttlichen Intuition setzt Ockham die unmittelbare, zur sinnlichen Wahrnehmung parallel verlaufende intuitive Erkenntnis der Einzeldinge und bereitet damit den neuzeitlichen Empirismus vor, der in stärksten Gegensatz zur S. tritt. Ockhams eigene Abgrenzung des s.en Wissens gegen das praktische knüpft an die mit der Aristotelesrezeption wieder stärker in den Vordergrund getretene ursprüngliche Bedeutung an, wie sie sich etwa auch in der zur gleichen Zeit entstehenden s.en Grammatik dokumentiert. – Aus der Sicht des in der Neuzeit die Vorherrschhaft gewinnenden empiristischen Ansatzes wird die S. überflüssig, weil ihr zum einen die Fundierung in der sinnlichen Erfahrung fehlt und zum anderen infolge der pragmatischen Ausrichtung des neuen Ansatzes eine rein theoretische Wissenschaft nicht mehr begründet werden kann. Dabei wird übersehen, dass die mittelalterliche S. durchaus die Gebundenheit allen menschlichen Erkennens an sinnliche Wahrnehmung berücksichtigte und einen moralisch-praktischen Zug hatte. So entstand durch empiristische Deutung die Rede von der unnützen, abstrakten S. Dieser Begriff von S. ist seitdem der vorherrschende: ein Denken in bloßen Möglichkeiten, das allenfalls als heuristisches Mittel der Hypothesenbildung anerkannt ist. Von ihm leitet sich auch der Gebrauch des Ausdrucks S. in der Ökonomie her. – Kant steht mit seiner KrV in der Tradition der empiristischen Sichtweise und bestimmt s.e Erkenntnis dementsprechend als eine solche, die den Bereich möglicher Erfahrung übersteigt; doch sieht er in seiner Transzendentalen Dialektik einen regulativen Gebrauch der Ideen der s.en Vernunft als legitim und notwendig an, der nur in moralisch-praktischer Hinsicht erkenntniserweiternd sein kann. – An diesem Gedanken Kants, der durchaus Anklänge an die ma. S. erkennen lässt, setzt ohne explizite Kenntnis der ma. Formen die Rehabilitation des S.sbegriffs durch den Deutschen Idealismus an. Während bei Fichte und Schelling mit der intellektuellen Anschauung des Absoluten der intuitive Aspekt der S. im Vordergrund steht, entwickelt Hegel das s.e Denken auf der Basis der Diskursivität als Bewegung des Begriffs, der das Absolute ist. Das Absolute wird in Anknüpfung an Kants Gedanken der transzendentalen Einheit der Apperzeption als die Selbstanschauung des Denkens in seiner Tätigkeit bestimmt. Schellings s.e Wissenschaft unterscheidet sich dadurch von der empirischen, dass sie deren Resultate aus dem Absoluten konstruiert und damit zu notwendigen Erkenntnissen macht. Für Hegel bleibt ein derartiges Konstruieren dem Absoluten äußerlich; es muss in dieses selbst als freie Selbsttätigkeit des Begriffs gelegt werden, durch die das Denken eine immanente dialektische Notwendigkeit hat. Diese logische Notwendigkeit, die Grundlage aller Wissenschaft ist, wird von Hegel als das allein S.e bezeichnet. Sie zeigt sich im »s.en Satz«, bei dem Subjekt und Prädikat wechselseitig ineinander übergehen. – Im Anschluss an die Systematik des Hegel’schen Denkens findet sich die Bezeichnung »s.« beim späten Whitehead für den organisch-systematischen Charakter seiner Philosophie. Peirce knüpft mit seiner s.en Grammatik und Rhetorik an die spätma. Bedeutung an.
Literatur:
- W. Becker: Selbstbewusstsein und Spekulation. Freiburg 1972
- S. Ebbersmeyer: Art. »Spekulation«. In: HWPh 9 (1995). Sp. 1355–1372
- L. Kerstiens: Die Lehre von der theoretischen Erkenntnis in der lateinischen Tradition. In: Philos. Jb. 66 (1958). S. 375–424
- G. Wohlfart: Der spekulative Satz. Berlin/New York 1981.
MKO
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