Metzler Lexikon Philosophie: Thanatologie
(griech. thanatos: der Tod). Unter Th. lassen sich inter- und multidisziplinäre Forschungen zum Problem des menschlichen Todes und des Sterbens subsummieren. Das Thema der menschlichen Endlichkeit ist stets ein zentrales Thema philosophischer Systeme und Entwürfe gewesen. Jedoch ist die Th. nicht den klasssischen eigenständigen philosophischen Disziplinen zuzurechnen, sondern ordnet sich den jeweiligen philosophischen Systemen unter. In der antiken Philosophie wurde der Tod als Trennung der unsterblichen Seele vom Körper (Platon: Phaidon 80b-82b, 105d-106d; Aristoteles: De anima II, 430a) oder aber im Hinblick auf seine Bedeutungslosigkeit angesichts der im Tod zu erwartenden Empfindungslosigkeit (Epikur) thematisiert. In der Hochscholastik, bes. durch Thomas v. Aquin, wurde die platonischaristotelische Unsterblichkeitslehre mit der neutestamentlichen Auferweckungslehre verbunden. Thomas hält am klassischen Gedanken der Seelensubstanz fest und sieht in der Unzerstörbarkeit der Seele die Möglichkeit der Auferweckung des ganzen Menschen am Ende der Tage in der Identität von Gestorbenem und Auferwecktem verbürgt (S.th. I, 75f.). Hält Descartes noch am platonischen Dualismus fest, indem er der res cogitans wegen ihrer Immaterialität Unsterblichkeit zuschreibt, die vom Tod der res extensa nicht berührt wird, beginnt mit der Philosophie Kants eine neue Form der philosophischen Th. Bestimmt Kant in der Anthropologie den Tod als »bloß mechanische Reaktion der Lebenskraft«, wandelt sich der Gedanke der Unsterblichkeit der Seele von einer metaphysischen Kategorie zu einem bloßen Postulat der »reinen praktischen Vernunft«, das die Erreichung des »höchsten Guts in der Welt« – »die völlige Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetze« – aufgrund des Widerspruchs von Sinnlichkeit und Vernunft an die Denkmöglichkeit »einer ins Unendliche fortdauernden Existenz« bindet (KpV A 220–222). In der philosophischen Th. des 19. und frühen 20. Jh. wird der Tod schließlich ganz an die konkrete Existenz des einzelnen Menschen gebunden. Sowohl existenzphilosophische als auch lebensphilosophische Ansätze setzen an den konkreten, existentiellen Erfahrungen des sterblichen Individuums an und gewinnen daraus religiös-existentielle Motive sowie Motive der innerweltlichen und transzendenten Selbstvervollkommnung (Kierkegaard, Jaspers, Marcel, Sartre, Scheler, Simmel). – In der Geschichte der philosophischen Th. lässt sich eine durchgängige Tendenz zur Individualisierung und Verinnerlichung der Todeserfahrung ausmachen. Während das Unsterblichkeitsmodell der antiken Metaphysik die individuelle Identität von innerweltlichem und postmortalem Leben nicht einmal eindeutig thematisiert, kulminiert in der Existenzphilosophie des frühen 20. Jh. im Tode die Individualität des Menschen schlechthin. Diese Entwicklung findet ihren Höhepunkt in Heideggers Daseinsanalytik, in der der Tod als letzte methodische Bedingung figuriert, die »Ganzheit des Strukturganzen des Daseins« analytisch zu fassen. Dabei wird der Tod nicht als Tod thematisiert, sondern als Bevorstand, zu dem sich das Dasein stets verhält (»Sein zum Tode«). Die Möglichkeit einer philosophischen Begründung von Unsterblichkeit wird damit methodisch ausgeschlossen. Nach H. Ebeling vollendet sich darin eine »Inversion der Th.«, d.h. eine irreversible Abwendung von der philosophischen Frage nach der postmortalen Existenz. – Die philosophische Th. nach ihrer Inversion thematisiert neben existenzphilosophischen Motiven v.a. ethische Fragen bzgl. des Umgangs mit Sterbenden, den Freitod sowie die Problematik der Todesdefinition angesichts des medizinischen Fortschritts (Hirntod/personaler Tod). – Neben der philosophischen Th. haben sich – abgesehen von Theologien und Religionswissenschaften – thanatologische Teildisziplinen in Psychologie, Soziologie, Geschichte, Pädagogik und Medizin etabliert.
Literatur:
- J. Choron: Der Tod im abendländischen Denken. Stuttgart 1967
- H. Ebeling (Hg.): Der Tod in der Moderne. Königstein/Ts. 1979
- A. Nassehi/G. Weber: Tod, Modernität und Gesellschaft. Opladen 1989
- G. Scherer: Das Problem des Todes in der Philosophie. Darmstadt 1979.
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