Metzler Lexikon Philosophie: Transzendental, Transzendentalphilosophie
Bezeichnung für die von Kant ausgehende philosophische Richtung. Im Unterschied zu transzendent bezieht sich t. nicht auf Seiendes jenseits des Empirischen, sondern auf die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Erkenntnis von Seiendem – welcher Art auch immer – möglich ist (KrV A 11–12/B 25). Diejenige Reflexion ist t., welche die notwendigen, durch das Subjekt a priori erfüllten Bedingungen für etwas angibt. Indem Kant vor eine gegenstandsbezogene Philosophie eine Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit für Erkenntnis bzw. Erfahrung setzt, vollzieht er seines Erachtens eine Kopernikanische Wende in der Philosophie. Seine Theorie wird aus diesem Grund auch als Kritizismus sowie als transzendentaler Idealismus bezeichnet. Erfahrung ist dabei nach Kant gesetzmäßig strukturiert; die Gesetze basieren auf synthetischen Urteilen, die a priori gültig sind. Oberste Bedingung für Erfahrung in diesem Sinne ist nach Kant die t.e Einheit der Apperzeption (des Selbstbewusstseins); alle Bewusstseinsgehalte müssen auf diese bezogen werden können (KrV B 131–32). Von dieser ursprünglichen Einheit des Selbstbewusstseins sind auch die Anschauungsformen Raum und Zeit abhängig (KrV, Anm. zu B 161); diese sind die notwendige Bedingung dafür, dass Sinnesdaten gegeben werden können. Von der Beschreibung der t.en Einheit der Apperzeption aus versucht Kant, Kategorien und Grundsätze zu deduzieren (wie den Satz der Erhaltung der Substanz und das Prinzip der Kausalität). Die Kategorien und Grundsätze sind die notwendigen Bedingungen dafür, Sinnesdaten auf objektiv gültige Urteile über Gegenstände hin überschreiten zu können. Damit sind sie nach Kant zugleich die Konstitutionsbedingungen für die Gegenstände der Erfahrung (KrV A 158/B197). In seiner praktischen Philosophie geht Kant analog vor: Vor inhaltlichen Aussagen über das, was gut ist, steht die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit für gutes Handeln; diese Bedingungen sind nach ihm Willensfreiheit und das Sittengesetz (KpV Akad.-Ausg. V, 62–63). – Kants T. wird von Fichte dahingehend radikalisiert, dass das erkennende Subjekt sich selbst setzt und die Gegenstände seiner Erkenntnis auch ihrem Sein nach hervorbringt. Nach dem Dt. Idealismus erreicht die T. in Husserls Phänomenologie und im Neukantianismus zu Beginn des 20. Jh. einen neuen Höhepunkt. Wichtige Vertreter einer an Kant orientierten T. sind nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland W. Cramer, H. Wagner, D. Henrich und G. Prauss. – K.-O. Apel und im Anschluss an ihn W. Kuhlmann entwickeln eine Transformation der T., die den Linguistic turn der Philosophie zu Beginn dieses Jahrhunderts aufnimmt (Transzendentalpragmatik). Zentral für diesen Ansatz ist die Diskussion um t.e Argumente. Das sind Argumente, die anzugeben beanspruchen, was der Fall sein muss, damit etwas, das nur schwer bestritten werden kann, der Fall sein kann. Die stärksten t.en Argumente sind strikt reflexiv: Sie sollen Bedingungen der Möglichkeit dafür angeben, überhaupt etwas bestreiten oder bezweifeln zu können. Die Grundfigur eines solchen Arguments ist Descartes’ »cogito, ergo sum« (Cartesianismus).
Literatur:
- K.-O. Apel: Transformation der Philosophie. 2 Bde. Frankfurt 1973
- W. Cramer: Grundlegung einer Theorie des Geistes. Frankfurt 31975
- D. Henrich: Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie. In: R. Bubner/K. Cramer/R. Wiehl (Hg.): Hermeneutik und Dialektik. Bd. 1. Tübingen 1970. S. 257–284
- W. Kuhlmann: Reflexive Letztbegründung. Freiburg/München 1985
- M. Niquet: Transzendentale Argumente. Frankfurt 1991
- G. Prauss: Die Welt und wir. Bd. I/1 u. 2. Stuttgart 1990 ff
- H. Wagner: Philosophie und Reflexion. München/Basel 1959.
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