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Metzler Lexikon Philosophie: Vernunft, theoretische

Spezifizierung des Vernunftbegriffes, die den bestimmten Gegensatz zur praktischen V. darstellt. Th. V. bezeichnet generell – im Unterschied zur bloßen sinnlichen Wahrnehmung – das Ensemble geistiger Vermögen, die das Erkennen prinzipiieren. Praktische V. hingegen ist begründend für das Handeln. Platons Vernunftkonzept ist theoretisch fundiert und orientiert. Im Phaidon (79 a-e) nennt Platon den Verstand resp. th. V. als eigentliches Seelenfundament des Menschen, das die rezeptive Schau der Ordnung des Seins ermöglicht. Im Staat (35–444) unterscheidet er den rationalen Seelenteil (logistikon) vom Mut (thymos) und der Begierde (epithymia), differenziert somit zwischen theoretischer, kontemplativer Rationalität – in die auch die Idee des Guten gehört – und leibabhängigen Seelenteilen (der Vorbedingung der praktischen Rationalität). Der rational-theoretische Seelenteil ist eindeutig den »praktischen« Teilen vorgeordnet, denn nur dem rationalen Seelenteil kommt die Postexistenz zu. Die Seele erkennt am besten nach dem Tode, wenn sie von den praktischen, erkenntnisverstellenden Ansprüchen der leibbedingten Seelenteile – dem muthaften und begierdehaften – getrennt ist (Staat 611c und Phaidon 64–67). – Für Aristoteles ist der tätige Verstand den Gegebenheiten der Sinnlichkeit gegenüber genauso souverän wie der Künstler gegenüber seinem Stoff (de an. 430a ff.). Aristoteles differenziert zwischen th. V. (nous theoretikos) einerseits und praktischer V. (nous praktikos) oder auch praktischem Verstand (dianoia praktike) andererseits (de an. 433 a 13 ff). Die praktische V. ist von der theoretischen durch das Ziel (to telei) geschieden. Die th. V. hat nicht in einem Zweck ihr Prinzip und ist im Gegensatz zur praktischen eine solche, die nicht durch Streben nach Zwecken »bewegt« wird. – Mit Kant erfährt der Vernunftbegriff die letzte neuzeitliche Prägung. Th. V. hat für Kant eine engere und weitere Bedeutung. Im weiteren Sinne ist sie das System aller Prinzipien des Denkens, die die Erkenntnis ermöglichen. Die konstitutiven Denk-Bedingungen der Gegenständlichkeit, die über die Prinzipien der Anschauung hinaus auch noch den Anschauungsgegenstand letztfundieren, nennt er Kategorien. Sie sind Resultat einer Transformation der Urteilsformen (KrV, Transzendentale Deduktion). Kant lehrt, dass die Eigenbestimmtheit des Denkens, die die formale Logik darlegt, zu Bedingungen transformierbar sein müsse, denen jeder Gegenstand zu genügen habe, soll er auch nur als Gegenstand in der Anschauung gegeben werden können. Das Totum der gegenstandskonstitutiven Prinzipien des Denkens heißt bei Kant reiner Verstand. Neben dem Verstand ist th. V. im engeren Sinne der zweite Hauptbestandteil von th.r V. im weiteren Sinne. Auch die Weisen, wie Vernunftschlüsse vollzogen werden, gehören zur Eigenbestimmtheit des Denkens – genauso wie die Urteilsformen. Deshalb können die Schlussarten zu Ideen transformiert werden (KrV, Transzendentale Dialektik). Die drei Ideen sind Seele, Welt und Gott. Die Ideen beziehen sich nicht konstitutiv auf Anschauungsgegenstände, sondern regulativ auf die Erfahrungsoperation des Verstandes. Somit fallen unter die Ideen keine Gegenstände, sondern sie sind vielmehr strukturierend für den Erfahrungsgebrauch des Verstandes. Die jeweilige Vernunftidee projektiert die durchgängige, systematische Einheit der Gegenstände ihrer Sphäre und veranlasst den Verstand, durch stetigen Rückgang zu immer neu empirisch konstatierbaren Bedingungen im empirischen Forschen, diese Einheit nachzuweisen. Aus Gründen der Urteilstheorie, die auch das Fundamentalprinzip der Unbestimmtheit als notwendiges Moment des Urteils aufweist, kann dies aber der Verstand nie realiter leisten. Hält man die Vernunftidee fälschlich für den konstitutiven Begriff eines Gegenstandes, so wird V. dialektisch und gerät in Antinomien. – Im Gegensatz zum unendlichen Streben der praktischen V., alle Realität zu sein, hat für den frühen Fichte die th. V. die Funktion, das Ich gegenüber dem Nicht-Ich zu begrenzen und dadurch als endliche V. auszuweisen (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre). – In Hegels absoluter Idee ist V. das Totum aller Realität, so dass Rationalität der durchgängige Selbstgegenstand seiner selbst ist. Th. und praktische V. können deshalb als Momente der Selbstentfaltung der einen Idee verstanden werden. Vernunft, Vernunft, praktische.

Literatur:

  • H. Albert: Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 51991
  • H.M. Baumgartner: Endliche Vernunft. Zur Verständigung der Philosophie über sich selbst. Bonn 1991
  • W. Flach: Grundzüge der Erkenntnislehre. Würzburg 1994
  • K. Konhardt: Die Einheit der Vernunft. Zum Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft in der Philosophie Kants. Königstein/Ts. 1979
  • Gerold Prauss: Kant über Freiheit als Autonomie. Frankfurt 1983
  • G. Schönrich: Zeichenhandeln. Untersuchungen zum Begriff einer semiotischen Vernunft im Ausgang von Ch. S. Peirce. Frankfurt 1990
  • H. Wagner: Philosophie und Reflexion. München/Basel 31980.

RHI

  • Die Autoren
AA Andreas Arndt, Berlin
AB Andreas Bartels, Paderborn
AC Andreas Cremonini, Basel
AD Andreas Disselnkötter, Dortmund
AE Achim Engstler, Münster
AG Alexander Grau, Berlin
AK André Kieserling, Bielefeld
AM Arne Malmsheimer, Bochum
AN Armin Nassehi, München
AR Alexander Riebel, Würzburg
ARE Anne Reichold, Kaiserslautern
AS Annette Sell, Bochum
AT Axel Tschentscher, Würzburg
ATA Angela T. Augustin †
AW Astrid Wagner, Berlin
BA Bernd Amos, Erlangen
BBR Birger Brinkmeier, Münster
BCP Bernadette Collenberg-Plotnikov, Hagen
BD Bernhard Debatin, Berlin
BES Bettina Schmitz, Würzburg
BG Bernward Gesang, Kusterdingen
BI Bernhard Irrgang, Dresden
BK Bernd Kleimann, Tübingen
BKO Boris Kositzke, Tübingen
BL Burkhard Liebsch, Bochum
BR Boris Rähme, Berlin
BS Berthold Suchan, Gießen
BZ Bernhard Zimmermann, Freiburg
CA Claudia Albert, Berlin
CH Cornelia Haas, Würzburg
CHA Christoph Asmuth, Berlin
CHR Christa Runtenberg, Münster
CI Christian Iber, Berlin
CJ Christoph Jäger, Leipzig
CK Christian Kanzian, Innsbruck
CL Cornelia Liesenfeld, Augsburg
CLK Clemens Kauffmann, Lappersdorf
CM Claudius Müller, Nehren
CO Clemens Ottmers, Tübingen
CP Cristina de la Puente, Stuttgart
CS Christian Schröer, Augsburg
CSE Clemens Sedmak, Innsbruck
CT Christian Tewes, Jena
CZ Christian Zeuch, Münster
DG Dorothea Günther, Würzburg
DGR Dorit Grugel, Münster
DH Detlef Horster, Hannover
DHB Daniela Hoff-Bergmann, Bremen
DIK Dietmar Köveker, Frankfurt a.M.
DK Dominic Kaegi, Luzern
DKÖ Dietmar Köhler, Witten
DL Dorothea Lüddeckens, Zürich
DP Dominik Perler, Berlin
DR Dane Ratliff, Würzburg und Austin/Texas
EE Eva Elm, Berlin
EJ Eva Jelden, Berlin
EF Elisabeth Fink, Berlin
EM Ekkehard Martens, Hamburg
ER Eberhard Rüddenklau, Staufenberg
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FG Frank Grunert, Basel
FPB Franz-Peter Burkard, Würzburg
FW Fabian Wittreck, Münster
GK Georg Kneer, Leipzig
GKB Gudrun Kühne-Bertram, Ochtrup
GL Georg Lohmann, Magdeburg
GM Georg Mildenberger, Tübingen
GME Günther Mensching, Hannover
GMO Georg Mohr, Bremen
GN Guido Naschert, Tübingen
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GS Georg Scherer, Oberhausen
GSO Gianfranco Soldati, Tübingen
HB Harald Berger, Graz
HD Horst Dreier, Würzburg
HDH Han-Ding Hong, Düsseldorf
HG Helmut Glück, Bamberg
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JHI Jens Hinkmann, Bad Tölz
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JM Jörg F. Maas, Hannover
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JQ Josef Quitterer, Innsbruck
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PCL Peter Ch. Lang, Frankfurt a.M.
PK Peter Kunzmann, Jena
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PP Peter Prechtl †
RD Ruth Dommaschk, Würzburg
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TM Thomas Mormann, Unterhaching
TN Thomas Noetzel, Marburg
TP Tony Pacyna, Jena
TW Thomas Welt, Bochum
UB Ulrich Baltzer, München
UT Udo Tietz, Berlin
UM Ulrich Metschl, München/Leonberg
VG Volker Gerhardt, Berlin
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WAM Walter Mesch, Heidelberg
WB Wilhelm Baumgartner, Würzburg
WH Wolfram Hinzen, Bern
WJ Werner Jung, Duisburg
WK Wulf Kellerwessel, Aachen
WL Winfried Löffler, Innsbruck
WM Wolfgang Meckel, Butzbach
WN Wolfgang Neuser, Kaiserslautern
WP Wolfgang Pleger, Cochem/Dohr
WS Werner Schüßler, Trier
WST Wolfgang Struck, Erfurt
WSU Wolfgang Schulz, Tübingen
WvH Wolfram von Heynitz, Weiburg

Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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