Metzler Lexikon Philosophie: Werden
ist ein Grundzug der Wirklichkeit, daher nicht im eigentlichen Sinn definierbar und stellt insbesondere in seinem Verhältnis zum Sein ein Zentralproblem der Metaphysik dar. Umschreibungen für W. sind: Der in der Zeit stattfindende Übergang von einem Zustand, Sachverhalt etc. in einen anderen, insbesondere der Übergang vom Nichtsein eines Gegenstandes oder seiner Eigenschaften zum Sein; Entstehen; Entwicklung; Wechsel; Veränderung; Prozess; Geschehnis. Das philosophische Problem des W.s besteht allgemein darin, in der dauernd erfahrenen Veränderung Strukturen und Zusammenhänge zu erkennen und denkerisch-sprachlich festzuhalten, da unser Erkenntnisstreben auf die Erkenntnis dessen geht, was der Fall ist; näherhin in dem Problem, wie im Verlauf des W.s etwas sein kann, was vorher nicht war bzw. etwas nicht mehr sein kann, was vorher war, wie also Nichtseiendes in Seiendes übergehen kann bzw. umgekehrt, und ob in irgendeinem Augenblick des W.s ein und derselbe Sachverhalt zugleich sein und nicht sein muss. Erstmals philosophiegeschichtlich fassbar wird das Problem (verbunden mit der Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Vielheit) bei den Vorsokratikern Heraklit (der die Wirklichkeit als Inbegriff dauernd im W. sich verändernder Dinge deutete und dadurch die Identität der Dinge durch die Zeit in Frage stellte) und Parmenides (der eine einzige, unveränderliche Wirklichkeit annahm und das W. zum Schein erklärte). Zur Lösung schlug Aristoteles eine metaphysische Rahmenbegrifflichkeit vor, die ein widerspruchsfreies Reden über W. und Veränderung ermöglicht. Ihr Grundgedanke ist die Unterscheidung zwischen einem sich durchhaltenden »Zugrundeliegenden« (Hypokeimenon, Hyle, Substanz) und seinen wechselnden Bestimmungen (Morphe, Form/Materie, Akzidens). Sie ist auf mehreren Ebenen (substantielle und akzidentelle Veränderung) anwendbar und systematisch mit der Lehre von Akt/Potenz und von den vier Ursachen verbunden. Gegenüber Sein, Wesen und Substanz als Zentralbegriffen der Metaphysik tritt W. damit eher in den Hintergrund. In einer Reihe spekulativer Neuansätze seit dem frühen 19. Jh. wird W. dagegen wieder zur grundlegenden Kategorie: das Wesen der Natur wird verstanden als Tätigkeit und fortdauerndes W., in dem die »Dinge« nur Verdichtungen und Hemmungen sind (Schellings spekulative Naturphilosophie); die Wirklichkeit insgesamt als das W. des Absoluten (Hegels Ontologie in der Wissenschaft der Logik); die Daseinsweise der Wirklichkeit, d.h. der Materie wird verstanden als beständiges W., als Auflösung und Neuentstehung widersprüchlicher Verhältnisse (Engels, dialektischer Materialismus, Dialektik); der Bewusstseinsstrom oder auch die Wirklichkeit insgesamt wird verstanden als beständiges W. qualitativ bestimmter Ereignisse (Bergson u. a.; Lebensphilosophie); in den Prozessontologien des 20. Jh. (Whitehead, Hartshorne u. a.) kehren Motive von Leibniz, Hegel, Bergson u. a. wieder. Neuere Fragestellungen betreffen u. a. die Deutung von W. angesichts geänderter physikalischer Auffassungen von Raum und Zeit sowie die Entwicklung temporaler Logiken zur Interpretation von Prozessen des W.s in der Zeit. Logik, intensionale.
Literatur:
- J. Mittelstraß: Werden. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 4. Stuttgart 1996. S. 659 ff. (Lit.).
WL
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