Metzler Lexikon Philosophie: Wissenssoziologie
Disziplin der Soziologie, welche die sozialen Bedingungen der Entwicklung wissenschaftlicher Theorien untersucht. In der W. geht es vor allem um das Verhältnis wissenschaftsinterner und wissenschaftsexterner Motive sowie um den Einfluss normativer Faktoren auf die wissenschaftliche Theoriebildung. In Deutschland ist die W. als eigene Disziplin von M. Scheler und K. Mannheim etabliert worden, die sich dabei vor allem mit dem historischen Materialismus auseinandersetzen. Die französische Tradition der W. geht auf É. Durkheim und L. Lévy- Bruhl zurück. Der Sache nach finden sich wissenssoziologische Untersuchungen bereits bei F. Bacon, A. Comte, N. Elias, K. Marx und F. Engels, F. Nietzsche, V. Pareto und M. Weber. Die neuere Diskussion wissenssoziologischer Fragen ist geprägt von der Auseinandersetzung mit der einflussreichen wissenschafts-historiographischen Arbeit von Th. S. Kuhn. Im Unterschied zum Kritischen Rationalismus, dem zufolge die Wissenschaft sich nach wissenschaftsinternen Rationalitätskriterien kontinuierlich entwickelt, hebt Kuhn die Diskontinuität und die Rolle theorieexterner Gründe in der Wissenschaftsgeschichte hervor. Im Zentrum seiner Untersuchungen steht das wissenschaftliche Paradigma, worunter er den Umstand versteht, dass bestimmte von einer Gemeinschaft von Experten anerkannte Theorien als Modelle und Vorbild für die wissenschaftliche Problemlösung fungieren, und mit solchen Modellen auch die Maßstäbe dessen festgelegt werden, was in der Gemeinschaft der Wissenschaftler als rational gilt. Kuhn unterscheidet drei Phasen der Wissenschaftsentwicklung: In einer vornormalen Phase konkurrieren verschiedene Theorien miteinander. In der normalen Phase hat sich ein Paradigma durchgesetzt; die wissenschaftliche Praxis folgt einer einheitlichen Methodologie und es etabliert sich ein anerkannter Wissenskanon, der u. a. durch Schulenbildung auch institutionell gefestigt wird. In der revolutionären Phase vollzieht sich ein Paradigmenwechsel. Anstelle von Paradigma spricht Kuhn (aufgrund zahlreicher Einwendungen) später auch von der disziplinären Matrix oder dem disziplinären System, das er durch vier Merkmale charakterisiert: Symbolische Verallgemeinerungen als »die formalen oder leicht formalisierbaren Bestandteile des disziplinären Systems«; Modellvorstellungen, die Analogien und Metaphern bereitstellen; bestimmte Werte für die Beurteilung wiss. Aussagen; Musterbeispiele (Paradigma im engeren Sinne) in Form konkreter Problemlösungen, auf die man als Standardlösungen immer wieder zurückgreift.
Literatur:
- B. Barnes: Th.S. Kuhn and Social Science. London 1982
- E. Grünwald: Das Problem der Soziologie des Wissens. Versuch einer kritischen Darstellung der wissenssoziologischen Theorien. Wien u. a. 1934
- Th.S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt 1967
- E. Topitsch (Hg): Logik der Sozialwissenschaften. Königstein/Ts. 1984
- R. K. Merton: Entwicklung und Wandlung von Forschungsinteressen. Frankfurt 1985.
JH
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