Lexikon der Physik: Hochtemperatur-Supraleiter
Hochtemperatur-Supraleiter
Hermann Rietschel†, Karlsruhe
Hochtemperatur-Supraleiter (abgek. HTSL), auch heiße Supraleiter, keramische Supraleiter, Kupferoxid-Supraleiter, oxidische Supraleiter genannt, sind eine Klasse von Supraleitern, deren SprungtemperaturenTc mehr als 100 K betragen können und damit im Vergleich zu denen sämtlicher sonst bekannter Supraleiter als ›hoch‹ bezeichnet werden müssen. Der oft verwendete Begriff keramische Supraleiter rührt daher, daß die ersten HTSL durch Sintern von Preßkörpern aus Metalloxidgemischen hergestellt wurden und als keramikähnliche, äußerst spröde und harte Materialien vorlagen. Für einkristalline HTSL, ob in massiver Form oder als epitaktisch gewachsene Filme, ist dieser Begriff unangebracht.
Die Klasse der HTSL wurde 1986 von J.G. Bednorz und K.A. Müller am IBM-Forschungslaboratorium in Rüschlikon (Schweiz) entdeckt. Sie erhielten 1987 hierfür den Nobelpreis für Physik. In der oxidischen Verbindung La1,8Ba0,2CuO4 fanden sie Supraleitung unterhalb einer Sprungtemperatur Tc von etwa 30 K. Aber erst nach der Bestätigung durch eine japanische Gruppe und dem darauf folgenden Nachweis von Supraleitung unterhalb einem Tc von etwa 38 K in der nahe verwandten Verbindung La1,85Sr0,15CuO4 fand diese Entdeckung allgemeine Beachtung. Der wirkliche Durchbruch kam dann zum Jahreswechsel 1996/1997, als eine amerikanische Gruppe in der Verbindung YBa2Cu3O7 (kurz: Y-123), also wieder in einem Cuprat, Supraleitung unterhalb Tc = 92 K entdeckte. Damit konnte erstmals Supraleitung durch Kühlung mit flüssigem Stickstoff (LN2; Siedepunkt bei Normaldruck: 77 K) erreicht und über längere Zeit stabil gehalten werden. Die sich hierdurch eröffnenden technischen Perspektiven initiierten weltweit eine beispiellos stürmische Entwicklung, in deren Verlauf weitere HTSL mit zum Teil noch höheren Sprungtemperaturen gefunden wurden. Die heute bekannten, wichtigsten HTSL-Familien mit Tc > 77 K sind in der Tabelle zusammen mit ihren maximalen Tc-Werten und den gebräuchlichen Kurzbezeichnungen aufgelistet.
Sämtliche HTSL sind in ihrer Kristallstruktur dem Mineral Perowskit (CaTiO3) verwandt. Wichtigste Bausteine sind CuO6-Oktaeder, die durch Sauerstoff-Fehlstellen zu CuO5-Pyramiden oder CuO4-Quadraten reduziert sein können. Eine flächenartige Vernetzung von CuO4-Quadraten führt zu einer ausgeprägt anisotropen Struktur mit zweidimensionalem Charakter, in der CuO2-Ebenen entweder einzeln oder zu Zweier- oder Dreierschichten zusammengefaßt durch ein von den restlichen Atomen gebildetes Gerüst voneinander getrennt und stabil gehalten werden. Gleichzeitig dient dieses Gerüst als Ladungsreservoir, das die ursprünglich isolierenden CuO2-Ebenen meist durch Elektronenentzug (p-Dotierung), in selteneren Fällen durch zusätzliche Elektronen (n-Dotierung) in einen metallischen Zustand versetzt.
Es ist gesichert, daß die elektronischen Eigenschaften der HTSL maßgeblich durch diese CuO2-Ebenen bestimmt werden. Das wird vor allem durch die ausgeprägte Anisotropie, die viele ihrer physikalischen Größen aufweisen, belegt. So kann der im normalleitenden Zustand gemessene, spezifische elektrische Widerstand ρ für Stromfluß senkrecht zu den Ebenen um Größenordnungen über dem für Stromfluß in den Ebenen liegen, und auch viele supraleitende Kenngrößen weisen eine starke Richtungsabhängigkeit auf.
Ein zweites, allen HTSL auf Cupratbasis gemeinsames Merkmal ist ihr (x,T)-Phasendiagramm (x: Dotierungsgrad): Zu jedem HTSL existiert eine Mutterverbindung, die isolierend und antiferromagnetisch ist, und aus der er durch n- oder p-Dotierung hervorgeht. Es gibt einen optimalen Dotierungsgrad xo, für den die Sprungtemperatur Tc ein Maximum annimmt. HTSL mit xxo bezeichnet man als unterdotiert, solche mit x >xo als überdotiert. n-dotierte HTSL (Beispiel: Nd1,85Ce0,15CuO4, Tc ≈ 25 K) haben wesentlich niedrigere Sprungtemperaturen als p-dotierte und sind technisch bedeutungslos. Zwei prominente Beispiele optimal p-dotierter HTSL sind La1,85Sr0,15CuO4 (Tc ≈ 38 K) und YBa2Cu3O7 (Tc = 92 K), die aus den Muttersubstanzen La2CuO4 bzw. YBa2Cu3O6 hervorgehen. Im ersten Fall erfolgt die Dotierung über die Substitution dreiwertigen Lanthans durch zweiwertiges Strontium, im zweiten Fall durch Erhöhung des Sauerstoffgehalts. Das (x,T)-Phasendiagramm für La2-xSrxCuO4 ist in der Abbildung gezeigt.
Das physikalische Grundverständnis der Hochtemperatur-Supraleitung ist bis heute lückenhaft geblieben. Zwar konnten auch für die HTSL mit der Flußquantisierung und den Josephson-Effekten grundlegende Aussagen der für die klassischen Supraleiter gültigen BCS-Theorie experimentell bestätigt und damit ein makroskopischer Quantenzustand mit Spin-Singulett-Paarung (Cooper-Paar) als supraleitender Grundzustand nachgewiesen werden, doch ist die zur Paarung der Elektronen erforderliche Wechselwirkung nicht aufgeklärt. Gewichtige Argumente sprechen gegen den klassischen Elektron-Phonon-Mechanismus der Supraleitung, wie z.B. das Fehlen eines Isotopeneffekts bei der Substitution von 16O durch 18O oder die lineare Temperaturabhängigkeit des spezifischen Widerstands oberhalb Tc, beides in optimal dotierten HTSL beobachtet. Propagiert werden dagegen magnetische Wechselwirkungen, die in ausgeprägten Korrelationseffekten der Elektronen ihre Ursache haben und auch mit der vor allem in phasensensitiven Tunnelexperimenten nachgewiesenen d-Wellen-Symmetrie der Paarwellenfunktion (Paarwellenfunktion eines Supraleiters) vereinbar sind.
Die Anisotropien der HTSL in Kombination mit ihren sehr geringen Kohärenzlängen (etwa 2-3 nm parallel zu den CuO2-Ebenen und etwa 0,3 nm senkrecht dazu) führen zu einer starken Reduktion der kritischen Stromdichte (kritischer Strom eines Supraleiters) an Großwinkelkorngrenzen (Kleinwinkelkorngrenzen). Technisch interessante Stromdichten erfordern deshalb einkristalline oder zumindest stark texturierte HTSL, wobei der Stromfluß in den CuO2-Ebenen erfolgen muß. Dies erreicht man heute vornehmlich mit Y-123-Filmen, die epitaktisch (Epitaxie) auf einkristallinen Unterlagen (z.B. Korundscheiben) aufgewachsen sind, oder mit Silberbändern, in denen Bi-2223-Filamente eingebettet und durch Walzen mechanisch texturiert wurden. Bei LN2-Kühlung können epitaktische Y-123-Filme kritische Stromdichten bis etwa 5 · 1010 A / m2 erreichen; walztexturierte Bi-2223-Bänder von ca. 1 km Länge bis etwa 2 · 108 A / cm2. Flußschlauchwandern führt jedoch zu einem schnellen Abfall der Stromdichten in Magnetfeldern. Dies ist für die Bänder besonders ausgeprägt, wodurch deren technischer Einsatz bei LN2-Kühlung bislang auf Niederfeldanwendungen wie Kabel oder Transformatoren beschränkt bleibt. Y-123-Filme finden vorrangig in der Sensorik (Bolometer, supraleitende, SQUID), in der Elektronik (Elektronik, supraleitende) und in der Mikrowellentechnik Verwendung, wobei ihrem Einsatz in der Kommunikationstechnik besondere Bedeutung zukommt: Filtereinheiten und adaptive Antennensysteme auf der Basis von HTSL-Filmen zeichnen sich durch hohe Güten und geringe Volumina und Gewichte aus und besitzen ein herausragendes Anwendungspotential im Mobil- und Satellitenfunk.
Hochtemperatur-Supraleiter 1: Kristallstruktur des HTSL Tl-2223 (Tc ≈ 125 K); die der Übersichtlichkeit halber weggelassenen Cu-Atome befinden sich in der Mitte der Pyramidenbasen bzw. Quadrate.
Hochtemperatur-Supraleiter 2: Der bei X = 0 vorliegende isolierende antiferromagnetische Zustand (AF, Néel-Temperatur TN ≈ 240 K) wird bei zunehmender Dotierung schnell abgebaut und durch Spinglasverhalten (SG) abgelöst. Bei X ≈ 0,06 kommt es zum Isolator-Metall-Übergang bei gleichzeitigem Auftreten von Supraleitung (SL). Die zugehörige Sprungtemperatur Tc durchläuft für X ≈ 0,15 ein Maximum. Oberhalb X ≈ 0,3 bleibt das System metallisch, verliert aber die Supraleitung.
Hochtemperatur-Supraleiter 3: Spezifischer Widerstand des HTSL YBa2Cu3O7 als Funktion der Temperatur; auffällig ist das nahezu lineare Verhalten oberhalb Tc, das allgemein für optimal dotierte HTSL charakteristisch ist. Die Verrundung des Phasenübergangs am Sprungpunkt beruht auf Fluktuationen, die durch die quasi-zweidimensionale Struktur des HTSL begünstigt werden.
Hochtemperatur-Supraleiter 4: Vierpoliges, elliptisches Bandpaßfilter für Mikrowellenkommunikation im c-Band (Frequenz ≈ 4 GHz), hergestellt auf der Basis eines Y-123-Films. Die vier dunklen, L-förmigen Streifen sind aus dem HTSL-Film bestehende Streifenresonatoren, die miteinander verkoppelt das Filter aufbauen. Die Abmessungen des Trägersubstrats beträgt etwa 3 × 6 cm2. (mit freundlicher Genehmigung der Robert Bosch GmbH)
Hochtemperatur-Supraleiter: Die wichtigsten HTSL-Familien mit Tc > 77 K und ihre gebräuchlichen Kurzbezeichnungen.
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SEBa2Cu3O7 (SE = Y, Eu, Gd, ...) | SE BCO oder SE-123 | 95 K (Nd-123) | |
Bi2Sr2Can-1CunO2n+4 | BSCCO oder Bi-22(n-1)n | 90 K (Bi-2212) 122 K (Bi-2223) 90 K (Bi-2234) | |
Tl2A2Can-1CunO2n+3 (A = Sr, Ba) | TBCCO oder Tl-22(n-1)n | 110 K (Tl-2212) 127 K (Tl-2223) 119 K (Tl-2234) | |
Tl1Ba2Can-1CunO2n+4 | Tl-12(n-1)n | 90 K (Tl-1212) 122 K (Tl-1223) 122 K (Tl-1234) 110 K (Tl-1245) | |
HgBa2Can-1CunO2n+2 | Hg-12(n-1)n | 95 K (Hg-1201) 126 K (Hg-1212) 135 K (Hg-1223) |
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