Lexikon der Physik: Seismologie
Seismologie
Hans Berckhemer, Frankfurt
Einleitung
Seismologie ist die Wissenschaft von den Erdbeben (griechisch: seismos = Erschütterung, logos = Wissenschaft, Lehre). Erdbeben gehören nicht nur zu den unheimlichsten und folgenschwersten Naturkatastrophen, die durchschnittlich Jahr für Jahr 15 000 Menschenleben fordern, sondern sind vom geowissenschaftlichen Standpunkt in zweifacher Hinsicht von besonderer Bedeutung.
Zum einen ist der Vorgang im Erdbebenherd selbst Ausdruck spontanen tektonischen Geschehens in der Erde. Die instrumentelle Erfassung der Bodenbewegung mit Seismographen erlaubt quantitative Aussagen über Ort, Stärke, Zeitablauf und räumliche Orientierung von Verschiebungs- und Deformationsvorgängen in der Erdrinde und damit über das sie verursachende elastische Spannungsfeld.
Zum anderen sind Erdbeben energiereiche Quellen elastischer Wellen, die den ganzen Erdkörper durchstrahlen und dadurch Informationen über die elastische Struktur des Erdinnern enthalten. Da sich die Quellen der Wellen, die Erdbebenherde, meist ziemlich genau lokalisieren lassen, ist bei einheitlicher Zeitbasis der Registrierungen der Bodenbewegung an den Erdbebenstationen die genaue Bestimmung der Wellenlaufzeit möglich. Damit ist, zumindest im Prinzip, eine eindeutige Lösung bei der Umsetzung oder Inversion der Laufzeiten in Strukturmodelle des Erdkörpers erreichbar. Dies gilt natürlich insbesondere dann, wenn die seismischen Wellen durch künstliche Signale, in erster Linie durch Sprengungen, angeregt werden. Darauf beruht auch die große wirtschaftliche Bedeutung der AngewandtenSeismik für die Lagerstättenprospektion.
Aus all diesen Gründen kommt der Seismologie und der Seismik innerhalb der Geophysik eine zentrale Bedeutung zu und die meisten physikalischen Informationen über das Erdinnere wurden von Seismologen gesammelt.
Wie entstehen Erdbeben?
Erdbeben haben fast immer tektonische Ursachen, d.h. sie sind Ausdruck instabiler Bruch- und Verschiebungsvorgänge im elastisch-spröden Bereich der Erdrinde als Folge der sich dort anstauenden elastischen Spannungen. Dies findet insbesondere in den Randzonen der sich gegeneinander bewegenden Lithosphärenplatten statt (Plattentektonik), aber auch innerhalb der Platten (Intraplatten-Beben). Erreicht die Spannung die Festigkeitsgrenze des Materials, so kommt es zur Entspannung durch Bruch (siehe Abb. 1a ). Wegen des Umgebungsdrucks der Tiefe bilden sich stets Scherbrüche aus. Dies ist der Grundgedanke der von C.F. Reid bereits 1911 aufgestellten strain rebound theory oder elastischen Entspannungstheorie. Die starken, nicht linearen Beanspruchungen der Gesteine vor dem Bruch sind oft von Erdbebenvorläufererscheinungen verschiedener Art begleitet, worauf sich die Versuche zur Erdbebenvorhersage (Erdbebenvorhersage und Erdbebengefährdung) stützen.
Die im Herdbereich zuvor gespeicherte elastische Energie wird zu etwa 5-50% in elastische Wellenenergie umgesetzt, der Rest in Wärme und mechanische Zerrüttungsarbeit der Gesteine in der Bruchzone. Die Abstrahlung seismischer Signale ist von der Abstrahlungsrichtung in bezug auf die Bruchfläche abhängig, wie in Abb. 1b skizziert. Das Vorzeichen der ersten Bodenbewegung wechselt an den sog. Knotenebenen. Eine der Knotenebenen ist die Bruchfläche. Bei genügend dichter Besetzung der Erdoberfläche mit Seismographen können die Knotenebenen und damit die Bruchfläche hinreichend genau bestimmt werden (Herdflächenlösung), auch ohne daß die Bruchfläche an der Erdoberfläche sichtbar wird. Unter der Voraussetzung, daß sich der Bruch in Richtung maximaler Scherspannung ausbreitet, kann aus der Bruchorientierung auf die Orientierung des geodynamisch wichtigen erdbebenerzeugenden Spannungsfeldes geschlossen werden.
Die früher vielfach verbreitete Ansicht, daß Erdbeben unmittelbar durch vulkanische Aktivität oder durch Einsturz von Hohlräumen (Gebirgsschläge), meist durch Bergbau bedingt, erzeugt werden, trifft nur auf lokale Ereignisse geringer bis mäßiger Stärke zu.
Auch ohne das Auftreten von Erdbeben zeichnen empfindliche Seismographen stets mehr oder weniger starke Bodenunruhe auf, die sehr verschiedene Ursachen haben kann. Technische Erschütterungen sind meist hochfrequent und werden durch günstige Wahl des Aufstellungsorts der Seismographen möglichst vermieden. Interessant sind fast-periodische Bodenbewegungen mit Perioden von 6-9 s, die über Entfernungen von vielen hundert km zu beobachten sind und ihren Ursprung in der Wechselbelastung der Erdkruste durch Meereswellen haben. Diese mikroseismische Bodenbewegung (Mikroseismik) kann in stürmischen Wintermonaten beträchtlich sein.
Seismizität
Gebiete hoher seismischer Aktivität sind in erster Linie die bewegten Ränder der Lithosphärenplatten (Plattentektonik, Erdbebengebiete). Die geographische Verteilung zeigt Farbtafel V, (Erde).
Mehr als 2 / 3 aller Erdbebenherde liegen innerhalb der Erdkruste in Tiefen von 5-30 km. In den besonders im pazifischen Randbereich in den Erdmantel abtauchenden Subduktionszonen (Plattentektonik) werden in den Wadati-Benioff-Zonen Herdtiefen bis zu 700 km erreicht. Beben in Tiefen 60 km werden als normaltief, solche zwischen 60 und 300 km als mitteltief und Beben tiefer als 300 km als Tiefbeben bezeichnet. Die Erdbebenherde in Deutschland liegen in Tiefen zwischen 3 und 25 km. Die stärksten Erdbeben in Deutschland konzentrieren sich auf die südwestliche Schwäbische Alb, den Rheingraben und die Niederrheinische Bucht. Die zahlreichen Beben im Vogtland treten als Erdbebenschwärme auf und sind meist von geringerer Stärke.
Erdbebenstärkemaße
Die lokale Erdbebenstärke kann auf Grund von Wahrnehmungen und Schadenswirkungen auch ohne Meßinstrumente nach einer seismischen Intensitätsskala (Intensitätsskala, seismische) ermittelt werden. In Europa üblich ist die 12teilige MSK-Skala (Medvedev, Sponheuer, Karnik, 1964) bzw. neuerdings die ›European Macroseismic Scale 1992‹. Meist tritt im Epizentrum, unmittelbar über dem Erdbebenherd, der höchste Stärkegrad auf.
Das bekannteste Erdbebenstärkemaß ist die von C.F. Richter und B. Gutenberg eingeführte Erdbebenmagnitude. Sie wird aus der seismographisch registrierten Bodenbewegung nach entsprechenden Reduktionen bestimmt (seismische Magnituden, Richter-Skala). Die Magnitude steht in engem Zusammenhang mit der vom Erdbebenherd in Form seismischer Wellen abgestrahlten Energie.
Physikalisch besser definiert als die Magnitude ist das sog. seismische Moment. Es enthält die Größe und den mittleren Verschiebungsbetrag der Bruchfläche als Faktoren. Es kann weitgehend hypothesenfrei aus breitbandigen Seismogrammen bestimmt werden. Unter Berücksichtigung der Raumorientierung des Bruches führt dies zur Momententensor-Bestimmung.
Seismische Wellen
Im Gegensatz zu elastischen Wellen in Flüssigkeiten und Gasen gibt es in Festkörpern und damit auch im Innern des Erdkörpers zwei Arten elastischer Raumwellen, die sich in der Art der Teilchenbewegung und in der Ausbreitungsgeschwindigkeit unterscheiden: Kompressionswellen und Scherungswellen. Wegen der Richtung der Teilchenbewegung in Bezug auf die Ausbreitungsrichtung spricht man auch von Longitudinalwellen und Transversalwellen. Die Kompressionswellen breiten sich im homogenen elastischen Medium mit der Geschwindigkeit
aus (K: Kompressionsmodul, μ: Schermodul, ρ: Dichte). Für die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Scherwelle gilt
Im Fall eines ›ideal elastischen Mediums‹ ist
Da die Kompressionswelle also stets vor der Scherwelle eintrifft, wird erstere in der Seismologie als Primärwelle oder P-Welle, letztere als Sekundärwelle oder S-Welle bezeichnet. Die Teilchenbewegung und deren symbolisierte Anregung veranschaulicht Abb. 2 .
Außer den beiden Raumwellentypen gibt es noch zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Wellen, deren Ausbreitung an die Erdoberfläche gebunden ist und die deshalb als Oberflächenwellen bezeichnet werden. Bei der von Lord Rayleigh bereits 1885 theoretisch gefundenen Rayleigh-Welle, die manche Ähnlichkeit mit einer Schwerewelle im Wasser hat, erfolgt die Teilchenbewegung in vertikal stehenden elliptischen Bahnen. Der zweite Typ von Oberflächenwellen, der allerdings nur in einer geschichteten Erde möglich ist, wurde von A.E.H. Love postuliert und deshalb als Love-Welle bezeichnet. Es handelt sich dabei um eine horizontal schwingende S-Welle, die zwischen Erdoberfläche und Schichtgrenze vielfach reflektiert wird.
Abb. 3 zeigt das Seismogramm eines Erdbebens der Magnitude 7,4 (Izmit-Beben, 17.August 1999), registriert im Taunus-Observatorium bei Frankfurt in 1 970 km Entfernung vom Erdbebenherd, in dem alle genannten Wellentypen zu sehen sind.
Aus den Seismogrammen der über die Erdoberfläche verteilten Erdbebenstationen, die nach der Herdentfernung Δ, gemessen in Zentriwinkel zwischen Station-Erdmittelpunkt und Herd, geordnet sind (siehe Abb. 4 ), lassen sich seismische Signale korrelieren und zu Laufzeitkurven zusammenfassen. Aus Tausenden von Seismogrammen gemittelte Standard-Laufzeitkurven (siehe Abb. 5 ) bilden die Grundlage für die Bestimmung der elastischen Globalstruktur des Erdkörpers. Sehr bekannt sind die Standard-Laufzeittabellen von H. Jeffreys und K. Bullen (1958). Die neuesten Tabellen wurden von B.L.N. Kennett 1991 aufgestellt und für das IASPEI-Modell der Geschwindigkeits-Tiefenverteilung übernommen. Abb. 6 zeigt schematisch die entsprechenden Strahlengänge. Mit Hilfe solcher Laufzeitkurven kann man aus der Laufzeitdifferenz von S und P für jede Erdbebenstation und jedes Beben die Herdentfernung (Hypozentralentfernung) und die Herdtiefe berechnen. Mit zunehmender Herdentfernung nimmt die Amplitude der seismischen Signale ab, einerseits wegen der mit der Ausbreitung wachsenden Wellenfront (geometrical spreading), andererseits wegen der nicht-elastischen Energieverluste im Erdinnern.
Aus diesen Laufzeitdaten wurden mit Hilfe mathematischer Inversionsverfahren (Inversionsverfahren geophysikalischer Meßdaten) kugelsymmetrische Referenzmodelle für die Geschwindigkeits-Tiefenverteilung abgeleitet, z.B. das häufig benutzte PREM-Modell (Preliminary Reference Earth Model) von A. Dziewonski und D. Anderson (1981) oder das schon erwähnte IASPEI-Modell (Erde).
Die Ausbreitungsgeschwindigkeit beider Typen von Oberflächenwellen ist in einer geschichteten Erde von der Eindringtiefe, d.h. von der Wellenlänge bzw. der Wellenperiode T abhängig. Dies bewirkt laufzeitmäßige Trennung (Dispersion) von Wellen unterschiedlicher Periode (siehe Abb. 3 ).
Wegen des endlichen Umfangs der Erdkugel können langperiodische Oberflächenwellen stehende Wellen oder Eigenschwingungen des Erdkörpers bilden. Auch hier gibt es, entsprechend den Rayleigh- und Love-Wellen, radiale nSi und toroidale nTi Schwingungen unterschiedlicher Ordnungszahlen, die bei sehr starken Erdbeben erst nach Tagen abklingen. Die niedrigste Eigenschwingung, die bei Erdbeben angeregt wird, ist 0S2 mit T = 53,83 s. Statt mit den Laufzeiten von Raumwellen kann die Struktur des Erdkörpers auch durch Eigenschwingungs-Spektroskopie ermittelt werden.
Neuerdings wird insbesondere den Abweichungen der gemessenen Laufzeiten der Raumwellen von den mittleren Laufzeitkurven Beachtung geschenkt und damit den Abweichungen vom kugelsymmetrischen Erdmodell. Seismische Geschwindigkeits-Tomographie ist aber der Schlüssel zum Verstädnis der Antriebskräfte für dynamische Prozesse im Erdinnern (Geodynamik). Laterale Unterschiede in den Wellengeschwindigkeiten lassen sich wegen ihrer Temperaturabhängigkeit als laterale Temperaturdifferenzen interpretieren. Temperaturdifferenzen bewirken aber Dichtedifferenzen und, im Schwerefeld, differentielle Auftriebskräfte, d.h. Antriebskräfte für konvektive Fließbewegungen im Erdinnern. Die bisherigen tomographischen Modelle werden aber noch Veränderungen erfahren.
Seismologie 1: a) Bruchentstehung und b) Wellenabstrahlung von einer seismischen Bruchfläche.
Seismologie 2: Durchgang seismischer Wellen durch einen Block aus elastischem Material: a) Kompressionswelle, b) Scherwelle.
Seismologie 3: Seismogramm eines Bebens (Izmit, 17.8.99) der Magnitude 7,4, registriert im Taunus-Observatorium in 1 970 km Entfernung vom Herd (Institut für Meterologie und Geophysik der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a. M.). Oberflächenwellen, oben: Vertikalbewegung der Erdoberfläche; Mitte: Horizontalbewegung E-W; unten: Horizontalbewegung N-S.
Seismologie 4: Seismogramm-Zusammenstellung als Funktion der Herdentfernung Δ (in Zentriwinkel vom Erdmittelpunkt). Die Laufzeiten t sind zur besseren Darstellung mit 8Δ reduziert und die Amplituden normiert.
Seismologie 5: Vereinfachte Version der Standard-Laufzeitkurven für seismische Wellen (nach H. Jeffreys und K. Bullen 1958). Außer den direkt durch den Erdmantel gelaufenen P- und S-Wellen sind Wellen abgebildet, die an der Erdoberfläche reflektiert wurden (PP, PPP), die am Erdkern reflektiert wurden (PcP, ScS), die im Erdkern (als P-Welle) gelaufen sind (PKP, SKS) oder die an der Mantel-Kern-Grenze gebeugt wurden (Pdiff).
Seismologie 6: Die den Laufzeitkurven aus Abb. 5 entsprechenden Strahlen seismischer Wellen durch den Erdkörper.
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