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Lexikon der Psychologie: Angewandte Psychologie

Essay

Angewandte Psychologie

Carl Graf Hoyos

Anfänge der Angewandten Psychologie
Das Entstehen einer wissenschaftlichen Psychologie datiert man auf die 2. Hälfte des 19. Jh., die besonders von den Wissenschaftlern Gustav Theodor Fechner (1801-1887) und Wilhelm Wundt (1832-1920) geprägt war. Es dauerte nicht lange, bis die Psychologie auch auf Fragen und Probleme aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen antworten sollte. So versuchte der Psychiater Kraepelin seit dem Ende der 80er Jahre des vorigen Jh. mit einfachen Untersuchungen (Kopfrechnen, Buchstabenzählen etc.) Faktoren zu ermitteln, die die Arbeitsleistung (Leistung) beeinflussen. Als solche identifizierte er den Anreiz der Arbeit, Übung, Willensspannung, Ermüdung und Gewöhnung. Darüber hinaus beschäftigte sich Kraepelin mit dem Einfluß von Alkohol und Koffein und auch mit den Folgen des Entzugs von Nahrung oder Schlaf für die Arbeitsleistung. Ergebnisse seiner Untersuchungen veröffentlichte er 1902 in einem ersten Werk der Angewandten Psychologie mit dem Titel "Die Arbeitscurve." Weitere Themen, die die Aufmerksamkeit von Forschern fanden, bezogen sich auf die Eignung zum Straßenbahnführer, man interessierte sich für die Tätigkeit einer Telefonistin, für die Ermüdung bei körperlicher und geistiger Anstrengung, Entstehen und Verlauf von Unfällen (Unfall) und noch viele andere Themen mehr. So entstand in relativ kurzer Zeit – und bewegt von einem erstaunlichen Enthusiasmus – ein breites Spektrum an Disziplinen der Angewandten Psychologie, die Frey, Hoyos und Stahlberg (1988) in einem Lehrbuch zusammengetragen haben ( Tabelle ). Wie man aus der Übersicht erkennt, ist "Angewandte Psychologie" eigentlich keine Disziplin, sondern eine Sammlung von Teildisziplinen eher heterogener Art. Hinzu kommen die großen und etablierten Gebiete Klinische Psychologie und Pädagogische Psychologie. Sie wurden von Frey, Hoyos und Stahlberg (1988) aus Gründen des Umfanges eines Lehrbuches der Angewandten Psychologie nicht ( Tabelle ), von Anastasi (1973) aber behandelt.

In der Geschichte der Angewandten Psychologie läßt sich ein bestimmtes Muster der Entstehung eines Teilgebiets erkennen: Zuerst gab es Anfragen an die Psychologie, zur Lösung eines Problems einen sachkundigen Rat zu geben. Solche Anfragen initiierten dann oft angewandte Forschung, die häufig in eine breiter angelegte Disziplin einmündete.
Besonders im 2. Weltkrieg kam es zur Entwicklung neuer Geräte und Ausrüstungen für militärische und zivile Zwecke, wie z.B. schnellere Flugzeuge oder Radar. In vielen Fällen jedoch blieb die Effektivität dieser Innovationen hinter den Erwartungen zurück, obwohl das Bedienungspersonal gut ausgebildet war: Flugzeuge havarierten ohne ersichtliche mechanische Mängel; auch hoch motivierte Beobachter verfehlten auf dem Radarschirm Feindkontakte. Wissenschaftler begannen daraufhin, die Mensch-Maschine-Schnittstelle zu untersuchen, zu beobachtende Fehler zu analysieren und Empfehlungen zu einer Optimierung solcher Systeme auszuarbeiten. Aus dieser Problemlage heraus entstanden dann die Ingenieurpsychologie und das Konzept der Mensch-Maschine-Systeme (Hoyos & Zimolong, 1990). Die Einsicht in die Begrenztheit natürlicher Ressourcen, besonders von Primärenergie, hat vielfältige Bemühungen ausgelöst, Menschen zu einem sparsamen Umgang mit Energie zu bewegen (Umweltpsychologie) – eine Herausforderung für die Psychologie, die sie auch angenommen hat (Prose, Clases & Schulz-Hardt, 1999).
Für viele praktische Probleme wurden auf diese Weise bereits Wissen und theoretische Fundierung erarbeitet, aber viele neue Problemfelder sind entstanden, wie etwa der Blick in die Arbeitswelt zeigt. Psychologie wird, so kann man sagen – dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel folgend –, auf immer neue Felder und Probleme angewandt, was hier bedeutet, sich ihnen forschend zuwendet. So ist Angewandte Psychologie eine Disziplin mit offenen Grenzen. Von einer Angewandten Psychologie als einer forschenden Disziplin wäre eine "Praktische Psychologie" abzugrenzen, die praktische Problem zwar wissenschaftlich fundiert, aber nicht forschend zu lösen versucht. Schorr und Wehner (1993, S. 294) erscheint jedoch diese Abgrenzung unzweckmäßig. In ihrem Verständnis umfasst die Angewandte Psychologie "...alle fachlich-wissenschaftlichen Bemühungen der Psychologie, die das Ziel haben, praktische Probleme zu lösen."

Anwendung wovon?
Diese Frage hat manche unfruchtbare Debatte ausgelöst, weil verschiedentlich die Meinung vertreten wurde, der Anwender von Psychologie greife allein auf Wissen, Methoden und Erklärungen zurück, die in der wissenschaftlichen Psychologie und ihren Teilgebieten erarbeitet wurden, indem die Wissensbestände der Grundlagendisziplinen nach Inhalten und/oder Verfahren durchgemustert würden, die für eine Lösung des gestellten Problems geeignet erscheinen. Dies führt aber zu Enttäuschungen: Die Grundlagendisziplinen liefern nicht das, was man sucht; so könne z.B. die traditionelle Lernpsychologie (Lernen) kaum etwas für die Erklärung von Lernproblemen beitragen. Andererseits widerspricht es dem Selbstverständnis des Vertreters der Angewandten Psychologie, etwas "anzuwenden" was er nicht selbst entwickelt hat. Faktisch spiegelt sich in dieser traditionellen Vorgehensweise eine historische Ausgangslage: von der Grundlage zur Anwendung, die es umzukehren gelte, wie Hofer (1987) für die Pädagogische Psychologie postulierte: "Nicht die Grundlagendisziplin sind das Gegebene, das nach Brauchbarem abgemustert wird. Wir setzen stattdessen den erzieherischen Kontext als das Gegebene. Dann können wir sagen, daß es die Aufgabe der Psychologie ist, die erzieherischen Realitäten, ihre Bedingungen und Folgen systematisch und kontrolliert zu erforschen."
Disziplinen der Angewandten Psychologie sind forschende Wissenschaften. Sie verfügen mehrheitlich über ein beachtliches Wissen, das aus Konzepten, Methoden und Ergebnissen der Grundlagendisziplinen und aus den Ergebnissen der Angewandten Forschung gewonnen wurde. Selbstverständlich bedient sich der Angewandte Forscher der Grundkategorien der Psychologie, wie Wahrnehmen, Urteilen, Denken, Fühlen (Emotion), Bewegen (Psychomotorik), basaler psychophysikalischer Funktionen, wie Sinnesschwellen oder Skalierungen (Psychophysik); er prüft Kapazitäten des Menschen zur Informationsverarbeitung, mit denen man in einem Anwendungsfall das Verhalten analysieren und beschreiben wird.
Ein so gründlich experimentell untersuchtes Konzept wie die Verteilung der Aufmerksamkeit wird selbstverständlich behilflich sein, das Agieren eines Piloten im Flugzeugcockpit oder eines Anästhesisten während einer Operation zu verstehen und damit wiederum den Kenntnisstand über das Phänomen "Aufmerksamkeit" zu erweitern.
Aber auch die klassischen sozialen Kontexte, in denen sich Verhalten und Erleben vollzieht, wie zwischenmenschliche Beziehungen oder Gruppen, bilden eine ideale grundlagenwissenschaftliche Basis, um etwa das Verhalten in Organisationen als Kommunikation und Interaktion, soziale Wahrnehmung, Konflikte, Machtbeziehungen usw. zu beschreiben. Auch Erklärungen zu einem Problemfeld wird man zunächst anhand bewährter Theorien aus den Grundlagendisziplinen suchen, die nach dem Grundsatz größtmöglicher Allgemeinheit und Neuartigkeit aufgestellt werden. In diesem Sinne haben sich bestimmte Theorien aus den Grundlagendisziplinen (z.B. Theorie der Kognizierten Kontrolle, Theorie der Kausalattribution) durchaus auch in allen möglichen Anwendungsfeldern (z.B. in der Arbeitssicherheit, Arbeits- und Gesundheitsschutz) bewährt.
Der anwendungsbezogene Forscher muß zumeist eine gegebene Theorie an die Feldbedingungen anpassen, indem er die Theorie erweitert, bestimmte Randbedingungen berücksichtigt und ggf. mehrere Theorien für einen Problemfall heranzieht. Ein instruktives Beispiel bildet die Theorie der Zielsetzung, wonach eine erbrachte Leistung von der Art der Zielsetzung beeinflußt wird: Die Leistungen sind in jedem Fall besser, wenn konkrete Ziele gesetzt werden, die die Handlung auch auslösen, als wenn nur allgemein intensives Bemühen gefordert wird (Tun Sie Ihr Bestes!), d.h. die Ziele und Leistungen standen in linearer Beziehung, vorausgesetzt, die Ziele waren erreichbar. Darüber hinaus waren Leistungen bei anspruchsvoller Zielsetzung besser als bei bescheidenen Zielen. Diese Studien ließen auch die motivierende und informierende Wirkung von Rückmeldungen besser erkennen. Der Zusammenhang von Zielsetzung und Leistung wird nicht nur durch Rückmeldungen, sondern auch durch organisationale Einflüsse moderiert. Zielsetzungen können von verschiedenen Personen und Instanzen ausgehen: Leitungsorgane, Kollegen und der Handelnde selbst. Partizipation in der Zielsetzung gilt als vorteilhaft, die Vorgesetzten sollten aber Unterstützung geben.
Die meisten Theorien in der Psychologie beanspruchen nicht, menschliches Verhalten in seiner Gesamtheit zu erklären. Vielmehr liefern sie Erklärungen und Voraussagen für Teilbereiche menschlichen Verhaltens; sie wollen und können sich also nur auf einen bestimmten Ausschnitt aus der Realität beziehen. Diese Ausschnitte sind allerdings selten mit dem konkreten Problemfeld deckungsgleich, das sich der angewandt-psychologischen Forschung stellt. Deshalb sind "Praktische Probleme" oft so speziell und zugleich komplex, daß sie kaum durch eine Theorie allein erklärt werden können.

Anwendung wozu und für wen?
Keine Teildisziplin der Angewandten Psychologie hätte "praktische Probleme" lösen und in dem Problemfeld forschend ein Erklärungspotential aufbauen können, wenn sie nicht versucht hätte, ihre Aufgaben wertgeleitet zu lösen. Das Schutzziel, das Arbeitsleid Erwerbstätiger zu lindern, kann als oberstes Ziel arbeits- und organisationspsychologischer Forschung und Praxis genannt (Arbeits- und Organisationspsychologie) werden; es hat intensive Anstrengungen ausgelöst, Belastungen abzubauen und Arbeit erträglicher zu machen – Anstrengungen, die das Fach gemeinsam mit anderen Disziplinen investiert. Hierzu hat die Psychologie aber wesentliche Grundlagen aus der Belastungsforschung, der Motivationsforschung (Motivation) oder der Handlungspsychologie (Handlung) beigetragen. Wertgeleitetes Vorgehen kann man für viele andere Gebiete der Angewandten Psychologie konstatieren. So richtet sich die expandierende Gesundheitspsychologie an Leitvorstellungen der menschlichen Wohlfahrt aus, wie sie institutionell verankert wurden (WHO) und wie sie sich aus Postulaten des "Menschseins" ableiten lassen. Aufgaben der Angewandten Psychologie sind indessen auch im Kontext gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ziele zu lösen. Die Psychologen dürfen sich dabei nicht in einen (vermeintlichen) Antagonismus zwischen humanen und anderen, nicht primär auf den Menschen bezogenen Zielen hineinziehen lassen.

Literatur
Anastasi, A. (1973). Angewandte Psychologie. Weinheim: Beltz.
Frey, D., Hoyos, C. Graf & Stahlberg, D. (Hrsg.). (1988). Angewandte Psychologie. Ein Lehrbuch. München: Psychologie Verlags Union.
Hofer, M. (1987). Pädagogische Psychologie: fünf Überlegungen zum Selbstverständnis eines Faches. Psychologische Rundschau, 38, 82-95.
Hoyos, C. Graf & Zimolong, B. (Hrsg.). (1990). Ingenieurpsychologie (Enzyklopädie der Psychologie, Band D,III,2). Göttingen: Hogrefe.
Prose, F., Clases, Ch. & Schulz-Hardt, St. (1999). Umweltbewußtes und ressourcenschonendes Handeln in Organisationen. In C. Graf Hoyos & D. Frey (Hrsg.). Lehrbuch der Arbeits- und Organisationspsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
Schorr, A. & Wehner, E.G. (1993). Geschichte der Angewandten Psychologie. In A.Schorr (Hrsg.), Handwörterbuch der Angewandten Psychologie (S. 291-296). Bonn: Deutscher Psychologen Verlag.

Tabelle: Angewandte Psychologie. Gliederung zu Frey, Hoyos und Stahlberg (1988)

Anwendungsgebiet Arbeit und Beruf

Organisation, Organisationsstruktur und Organisationsentwicklung

Personalauslese, Training und Personalentwicklung in Organisationen

Individuum und Organisation

Gestaltung von Mensch-Maschine-Systemen

Arbeitsstrukturierung und Arbeitsanalyse

Arbeitsschutz

Neue Technologien: Mensch-Computer-Interaktion

Berufswahl und Laufbahnentwicklung

(Arbeits- und Organisationspsychologie, Berufseignungsdiagnostik, Computer, Ergonomie)

Anwendungsgebiet Markt, Werbung, Volkswirtschaft

Werbung, Öffentlichkeitsarbeit und Marketing

Konsum- und Kaufverhalten

Volkswirtschaft und ökonomische Verhaltensforschung

(Ökonomische Psychologie, Werbepsychologie)

Anwendungsgebiet Umwelt

Gestaltung von Umwelt

Das Entsorgungsproblem

Umweltstreß

Psychologie des Energiesparens

Transport und Verkehr

(Verkehrspsychologie, Umweltpsychologie)

Anwendungsgebiet Öffentlichkeit und Gesellschaft

Politik

Recht

Militär und Polizei)

Gesundheit und Medizin

Belastung, Beanspruchung, Fehlanpassung und ihre Folgen

Alter und Altern

(Gemeindepsychologie, Gerontopsychologie, Gesundheitspsychologie, Medizinische Psychologie, Streß)

Anwendungsgebiet Kultur und Freizeit

Kultur und Religion

Musik

Tourismus

Medien und Massenkommunikation

  • Die Autoren
Gerd Wenninger

Die konzeptionelle Entwicklung und rasche Umsetzung sowie die optimale Zusammenarbeit mit den Autoren sind das Ergebnis von 20 Jahren herausgeberischer Tätigkeit des Projektleiters. Gerd Wenninger ist Mitherausgeber des seit 1980 führenden Handwörterbuch der Psychologie, des Handbuch der Medienpsychologie, des Handbuch Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutz sowie Herausgeber der deutschen Ausgabe des Handbuch der Psychotherapie. Er ist Privatdozent an der Technischen Universität München, mit Schwerpunkt bei Lehre und Forschung im Bereich Umwelt- und Sicherheitspsychologie. Darüber hinaus arbeitet er freiberuflich als Unternehmensberater und Moderationstrainer.

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