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Lexikon der Psychologie: Beratung

Essay

Beratung

Eberhard Elbing

Beratung hat sich sowohl in der Form des Ratgebens als auch in der Form des Sich-Beratens von einer seit jeher praktizierten alltäglichen, helfenden sozialen Interaktion zur professionellen Handlungsform entwickelt. Sie wird aufgrund einer zunehmend komplexer und vernetzter werdenden Welt und des Verlustes tradierter Unterstützungssysteme vermehrt nachgefragt. Die Inflation von Beratungsbegriffen ist Ausdruck dieser vermehrten Beratungsbedürftigkeit und -notwendigkeit. Keineswegs ist damit immer die Existenz echter Beratungssituationen verbunden. Häufig wird das Beratungsetikett (vorrangig außerhalb des psychosozialen Kontextes) genutzt, um Verkaufs-, Lenkungs- oder Manipulationsabsichten zu kaschieren. Anliegen einer Beratungswissenschaft ist es, zu erhellen, was Beratung überhaupt ist und welche Elemente den Beratungsprozeß und die Beratungssituation kennzeichnen.

Definition und Merkmale von Beratung
Beratung definieren wir als eine freiwillige, meist kurzfristige, oft nur situative soziale Interaktion bei nicht-pathologischen Problemfällen zwischen einem (meist professionellen) Berater (Beraterteam) und einem Ratsuchenden (einer Gruppe oder Organisation). Diese regelgeleitete Interaktion findet meist in einem institutionellem Setting statt. Beratung wahrt Vertraulichkeit und zielt auf der Grundlage professioneller Handlungskompetenzen und unter Einbezug von Laien und Selbsthilfeinitiativen auf Hilfe zur Selbsthilfe mittels reaktiver oder präventiver, helfender Unterstützung bei Informationsdefiziten, Entscheidungsproblemen oder aktuellem Überfordertsein.
Professionelle Beratungskompetenzen umfassen Fähigkeiten zum Beziehungsaufbau, zur Informationsgewinnung und Problemanalyse mittels diagnostischer, anregender und stützender Methoden unter Nutzung von Informationen, Objektwissen, Reflexionen, sozialer Netzwerke und natürlicher Ressourcen. Veränderung durch Beratung basiert auf kognitiv-emotionaler Einsicht und aktivem Lernen und will die Selbsthilfebereitschaft, die Selbststeuerungskompetenz, die Situationsdefinitionen, die Entscheidungsfähigkeit und das Handlungsrepertoire der Ratsuchenden verbessern. Wie die Ressourcen der Berater genutzt werden, liegt im Verantwortungsbereich der Ratsuchenden. Das Selbstverständnis von Beratung ändert sich. Es zeigt sich eine Abwendung von der ursprünglichen Betonung des Kognitiven und des Individuums hin zu einer zunehmenden Beachtung affektiver Aspekte, der Einbeziehung personaler und interaktionaler Momente, der Betonung der Freiwilligkeit und Selbstbestimmtheit der Klientel, des Einbezugs methodischer Angaben, des Hervorhebens der präventiven und professionellen Qualität von Beratung sowie des Einbezugs von Gruppen, Organisationen, Laien, Selbsthilfegruppen und der Alltagsnähe von Beratung.

Anthropologische Begründung von Beratung
Zwar hat Beratung eine lange Geschichte, zu einer eigenständigen Disziplin hat sie sich jedoch nur in den USA als Counseling psychology entwickeln können (vorrangig klinisch-therapeutische Ausrichtung mit Verständnis von Beratung als "Miniaturausgabe" von Therapie). Beratung im Sinne einer pädagogisch-psychologischen Handlungsform benötigt kein klinisch-therapeutisches Stützkorsett. Ihre Notwendigkeit erwächst aus dem anthropologischen Faktum, daß die menschliche Existenz prinzipiell unvollständig und lebenslange Veränderbarkeit im alltäglichen Dasein nötig ist. Nicht die pathologische Erscheinungsform menschlichen Daseins, sondern dessen alltägliche Komplexität und Unbestimmtheit sowie die grundsätzliche Offenheit menschlicher Entwicklung, die Bedürfnis nach Unterstützung und Anregung zur Veränderung nicht als klinisches Problem begreift, sondern als alltägliche Normalität, begründen Beratung als speziellen Modus der Bewältigung alltäglicher Entwicklungs- und Selbstfindungsaufgaben sowie als Unterstützungsmittel.

Abgrenzungsdebatte und Situationsdefinition von Beratung
Die im Rahmen der Bestimmung von Beratung geführte Abgrenzungsdebatte, vor allem gegenüber Psychotherapie und Erziehung, ist letztlich fruchtlos geblieben. So einsichtig manche der Abgrenzungskriterien (Dauer, Anlaß, Methode, Intensität) auf den ersten Blick erscheinen mögen, sie bleiben letztlich unscharf und somit unbefriedigend. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet das Konzept der Situationsdefinition. Als Beratung erweist sich demgemäß eine Interaktionssituation dann, wenn die Beteiligten sie als Beratung definieren. Diese konstruktivistische Konzeptualisierung begreift die Beteiligten (Berater, Ratsuchender) als Subjekte (sie bestimmen, ob eine Gesprächssituation letztlich als Beratung gelten kann), gewährt kognitiven und emotionalen Aktivitäten in der Interaktionssituation Raum und erfaßt die reale Vielfältigkeit von Beratung (professionelle Tätigkeit, niedrigschwellige Beratung) in ihrer situations- und subjektgebundenen Besonderheit ebenso wie die Tatsache, daß neben professionellen Beratern auch sogenannte Laien kompetente Beratung zu leisten vermögen. In der Situationsdefinition von Beratung artikuliert sich das role-taking der Beteiligten und macht deren Interagieren zur regelgeleiteten Interaktion. Bei aller rollenspezifischen Unterschiedlichkeit bleibt unter der Leitidee der personalen Entwicklung die Gleichwertigkeit der Interaktionspartner gewahrt.

Beratung als Begegnung mit einer Institution
Beratung als professionelle Dienstleistung stellt nicht nur soziale Interaktion dar, sondern auch Begegnung mit einer Institution. Institutionalisierte professionelle Beratung erhebt idealiter den Anspruch, über tradierte Erfahrungen und Regeln und bloße Plausibilitätsüberlegungen hinauszugehen, dadurch die Qualität beraterischen Handelns zu sichern und somit die Interessender Klientel zu wahren. Kritisiert wird, daß Institutionalisierung leicht die Lebenslage der Klientel aus dem Blick verliere und routinehaftes, selbstzufriedenes Herangehen begünstige, das eher den Interessen der Institution diene als den Bedürfnissen der Klienten. Ferner bedinge institutionalisierte Beratung aufgrund des prinzipiellen Behördencharakters Angst vor amtlicher Dokumentation und negativer Etikettierung sowie ein Gefühl der Unterlegenheit und des Ausgeliefertseins.

Beratung in psychosozialen Handlungsfeldern
Psychologische Beratung hat mehrere Quellen: Berufsberatung (Berufswahl, Personalauslese, Karriereplanung); psychologische Diagnostik (objektivierte Datenerfassung, Abgleichung von Fähigkeitspotentialen und Anforderungsprofilen); Schulberatung und Erziehungsberatung, Therapiekonzepte (Psychotherapie). Gleichwohl hat die Psychologie am meisten zur Spezialisierung und Professionalisierung von Beratung beigetragen, insbesondere in den USA, wo Beratungspsychologie sich als eigenständige Disziplin und lizenzierte Berufspraxis mit Abrechnungsrecht etabliert hat. Im deutschsprachigen Raum hängt das beraterische Selbstverständnis noch weitgehend am klinisch-therapeutischen Vorbild und zeigt nur vereinzelt Ansätze einer genuin beratungspsychologischen Konzeptualisierung (Dietrich 1983, Brandstätter & Gräser, 1985, Elbing 1996). Eigenständige Ausbildung und eigenständige Berufsfelder existieren sowohl in den tradierten Arbeitsfeldern der Erziehungs-, Berufs-, Schul- und Bildungsberatung als auch neuerdings in Ansätzen in der Weiterbildungsberatung (Erwachsenenbildung), Schwangerschaftskonfliktberatung und Institutionsberatung bzw. Organisationsberatung, werden aber durch die zunehmende Konkurrenz anderer Berufsgruppen und die Einengung der tradierten Beschäftigungsmöglichkeiten für Psychologen zunehmend zwingend. Das Interesse der Pädagogik am Beratungskonzept entwickelte sich vorrangig während der Bildungsreform der 60er Jahre. Neben der in der geisteswissenschaftlichen Pädagogiktradition verhafteten und wenig praxisrelevanten Reflexion des Beratungskonzeptes als besonderer Form der Erziehung war es die Hoffnung auf neue, spezialisierte Berufsfelder im Bildungs- und Schulbereich für die Absolventen neu geschaffener Studiengänge, welche die Hinwendung zu Beratung als rational gesteuertem, fachlich fundiertem Prozeß der Problemlösung und Entscheidungsfindung forcierte. Mit dem Abklingen der bildungspolitischen Reformansätze haben sich diese Erwartungen jedoch nicht erfüllt, was eine Umorientierung in Richtung Erwachsenenberatung, Fort- und Weiterbildungsberatung sowie Medien- und Freizeitberatung bewirkte, ohne hierin bisher spezifische Konzepte zu entwickeln. Im Grenzbereich von Erziehungswissenschaft und Pädagogischer Psychologie finden sich ferner jene Berufsfelder, die unter den Stichworten Schulpsychologie, Beratungslehrer, Schuleingangs- und Schullaufbahnberatung bekannt wurden.
Nachhaltige Hinwendung zum Beratungskonzept fand sich sehr früh im Bereich der Sozialpädagogik und Sozialarbeit, da man sich hierdurch eine Hebung des eigenen Berufsimages erhoffte. Es finden sich mehrere Ansätze der theoretischen Ausdifferenzierung des Beratungskonzeptes, die eine methodologische Fundierung von case-work und sozialpädagogischer Arbeit zum Ziel hatten (Alltagswende).

Grundmuster des Beratungsprozesses
Beratung als professionelle Handlungsform folgt einem systematischen Handlungsablauf gemäß einem rationalen Handlungsmodell, das aufeinander folgende, miteinander vernetzte Beratungsstufen postuliert ( Abb. ).
Im wesentlichen lassen sich die diversen Ansätze auf ein Drei-Phasen-Modell (mit Unterstufen) reduzieren: Gesprächseröffnung und Orientierungsphase (Ansprechen des Problems, der Situation, Aufbau einer Arbeitsbeziehung, Zieldefinition, Informationssammlung), Problembearbeitungsprozeß bzw. Klärungs- und Veränderungsphase (Erarbeitung von Erklärungs- und Bewältigungsmöglichkeiten, Reflexion, Suche nach Alternativen, Anstöße zur Entscheidungsfindung), Gesprächsabschluß bzw. Bewertungs- und Abschlußphase (Bewertung der Arbeit, Begleitung von Veränderung und Entscheidung, Evaluation der Wirksamkeit). Innerhalb der jeweiligen Phasen werden mit unterschiedlichem Gewicht Basiskompetenzen des Beraterverhaltens gefordert, deren Erwerb aus systematischer Ausbildung, Training, Weiterbildung und reflexiver Beratungserfahrung erwächst. Hierzu zählen Fertigkeiten des Situationsarrangements, des Vertrauensaufbaus, der Problemanalyse, der Informationserhebung und -strukturierung, der Entwicklung von Verhaltensalternativen, von Konfliktlösungen und umfeldverändernden Anstößen (Leitbegriffe "Verstehen", "Leiten" und "Beziehung-Klären").

Metakonzepte des Beratungshandelns
Metakonzepte für Beratungshandeln wirken insofern, als sie oft Elemente enthalten, die zwar im therapeutischen Kontext formuliert wurden, die jedoch generell wirkender Natur sind und somit auch Teilaspekte des komplexen Beratungshandelns abbilden. Hierzu zählen die vom klientenzentrierten Ansatz hervorgehobenen Aspekte der Empathie, der bedingungslosen Akzeptanz, des Respektes und der Echtheit, die sich als unabdingbar für den Aufbau von Vertrauen und konstruktivem Arbeitsverhalten erwiesen haben (Gesprächspsychotherapie). Ebenso genereller Natur sind die aus verhaltenstheoretischen Ansätzen ableitbaren Prinzipien des Konkretisierens, der Eingrenzens, der systematischen Analyse gegenwärtiger person- und situationsbezogener Bedingungskonstellationen, das Aufdecken von Lerndefiziten, Lernmöglichkeiten und Umfeldveränderungen. In Abhängigkeit vom jeweiligen Beratungsanliegen wird der Berater mehr oder weniger auch als systematisch arbeitender Diagnostiker gefordert, der auch detaillierte diagnostische Kenntnisse und Fertigkeiten bis hin zum Computereinsatz beherrschen sollte. Da innerhalb des Beratungsprozesses meist ständig Entscheidungen getroffen werden, ist es naheliegend, entscheidungstheoretische Ansätze zu berücksichtigen, z.B. im Bereich der Schwangerschaftskonfliktberatung. Die Ausrichtung beraterischer Einflußnahme auf soziale Organisationen und Institutionen erfordert die Berücksichtigung von Modellen der Organisationsentwicklung, Konfliktbewältigung (Konflikt) und Personalführung.

Literatur
Brandstädter, J. & Gräser, H. (Hrsg.) (1985). Entwicklungsberatung unter dem Aspekt der Lebensspanne. Göttingen: Hogrefe.
Dietrich, G. (1983). Allgemeine Beratungspsychologie, Göttingen: Hogrefe.
Elbing, E. (1996). Zur gegenwärtigen Situation von Beratung im psychosozialen Feld. Psychologische Arbeiten und Berichte (PAB), München: Ludwig-Maximilians-Universität.



Abb. Beratung: Modell zur Strukturierung des Beratungsprozesses.

  • Die Autoren
Gerd Wenninger

Die konzeptionelle Entwicklung und rasche Umsetzung sowie die optimale Zusammenarbeit mit den Autoren sind das Ergebnis von 20 Jahren herausgeberischer Tätigkeit des Projektleiters. Gerd Wenninger ist Mitherausgeber des seit 1980 führenden Handwörterbuch der Psychologie, des Handbuch der Medienpsychologie, des Handbuch Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutz sowie Herausgeber der deutschen Ausgabe des Handbuch der Psychotherapie. Er ist Privatdozent an der Technischen Universität München, mit Schwerpunkt bei Lehre und Forschung im Bereich Umwelt- und Sicherheitspsychologie. Darüber hinaus arbeitet er freiberuflich als Unternehmensberater und Moderationstrainer.

Autoren und Autorinnen

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Dipl.-Psych. Roland Asanger, Heidelberg
PD Dr. Gisa Aschersleben, München
PD Dr. Ann E. Auhagen, Berlin

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Dipl.Soz.Wiss. Gert Beelmann, Bremen
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Prof. Dr. Detlef Berg, Bamberg
Prof. Dr. Hans Werner Bierhoff, Bochum
Prof. Dr. Elfriede Billmann-Mahecha, Hannover
Prof. Dr. Niels Birbaumer, Tübingen
Dipl.-Psych. Claus Blickhan, Großkarolinenfeld
Dipl.-Psych. Daniela Blickhan, Großkarolinenfeld
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Dr. Veronika Brandstätter, München
Dr. Elisabeth Brauner, Berlin
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Prof. Dr. Hans-Bernd Brosius, München
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