Lexikon der Psychologie: Biologische Psychologie
Essay
Biologische Psychologie
Rainer Schandry
Standort der Biologischen Psychologie innerhalb der Humanwissenschaft
Die Biologische Psychologie (Biopsychologie; früher: Physiologische Psychologie) ist dasjenige Teilgebiet der Psychologie, das zum Studium und zur Erklärung menschlichen Verhaltens und Erlebens einen biologischen (im allgemeinen neurobiologischen) Zugang wählt. Das bedeutet, daß biologische Prozesse als Basisvorgänge für unser Verhalten gesehen werden und auf dieser Grundlage unser Verständnis menschlichen Verhaltens erweitert werden soll. Unter "biologischen Prozessen" sind dabei in erster Linie solche Vorgänge zu verstehen, die sich im menschlichen Organismus selbst – und hier wiederum primär im Gehirn (Zentralnervensystem) – abspielen. Dagegen gehören diejenigen Abläufe in biologischen Systemen, die sich uns am ehesten durch die Beobachtung tierischer Verhaltensweisen unter natürlichen Bedingungen erschließen, nicht zu den engeren Fragestellungen der Biologische Psychologie. Dies ist eher ein Gegenstand der Psychobiologie (hier insbesondere der Ethologie) und ist damit der Biologie zuzuordnen.
Die Ursprünge der Biopsychologie als einer psychologischen Teildisziplin gehen auf die Begründer der modernen wissenschaftlichen Psychologie zurück: auf Wilhelm Wundt und William James. Wundts grundlegendes Werk "Grundzüge der Physiologischen Psychologie" (1887), gilt als ein Markstein der gesamten modernen Psychologie. James beginnt sein Hauptwerk "Principles of Psychology" mit einem Kapitel über Gehirnfunktionen und Verhalten ("The functions of the brain").
Die Biopsychologie ist einerseits eine Subdisziplin der Psychologie und in der akademischen Ausbildung zum Diplompsychologen als Grundlagenfach fest verankert. Andererseits ist sie ein Teilgebiet der Neurowissenschaft. Letztere beschäftigt sich mit der Gesamtheit derjenigen Vorgänge, die mit neuronalen Strukturen und Prozessen zusammenhängen. Die Neurowissenschaft wird in erster Linie aus der Neurobiologie, der Neurologie und der Psychologie gespeist. Ein zentrales Anliegen ist – ähnlich der Biologischen Psychologie – die Aufklärung der Arbeitsweise des Gehirns im Zusammenhang mit psychischen Prozessen.
Inhaltliche Segmente der Biologischen Psychologie
Die Biologische Psychologie besitzt zwar ein zentrales Grundthema, sie wird jedoch in eine Reihe wichtiger Teilgebiete untergliedert. Diese unterscheiden sich einerseits hinsichtlich ihrer vorrangigen Forschungsfragen, andererseits bezüglich der typischen Untersuchungsparadigmen und der eingesetzten Methoden. Auf der Basis der primären Forschungsthemen lassen sich vier große Teilgebiete der Biologischen Psychologie gegeneinander abgrenzen.
1) Grundlegende Zusammenhänge zwischen Gehirn und Verhalten bei Mensch und Tier (Physiologische Psychologie): Während noch bis in die achtziger Jahre der Begriff "Physiologische Psychologie" dazu diente, die gesamte Biologische Psychologie zu umschreiben, ist man heute dazu übergegangen, damit denjenigen Teil der Biologischen Psychologie zu bezeichnen, der in möglichst direkter Weise Verhaltensphänomene durch Prozesse im Zentralnervensystem (insbesondere im Gehirn) zu erklären versucht. Die Physiologische Psychologie ist demnach sehr stark grundlagenwissenschaftlich orientiert, untersucht also die Phänomene in erster Linie zum Zwecke der Theoriebildung und der Entwicklung breit einsetzbarer Erklärungsmodelle. Der unmittelbare Anwendungsaspekt steht im Hintergrund. Bei experimentellen Untersuchungen manipuliert man typischerweise auf der biologischen Ebene (etwa durch Eingriffe ins Gehirn), während Verhaltensparameter als Konsequenz dieser Manipulation beobachtet werden. Demgemäß ist das Vorgehen der Physiologischen Psychologie über weite Strecken tierexperimentell (Ethik und Tierversuche). Allerdings wird stets das Ziel verfolgt, auf der Grundlage der so gewonnenen Befunde menschliches Verhalten aufzuklären. Einige Beispiele für Themengebiete der Physiologischen Psychologie sind: Grundlagen von Lernen und Gedächtnis, Basisprozesse bei der visuellen Wahrnehmung oder Wechselwirkung zwischen Hormonen und Verhalten.
2) Gestörte Hirnfunktionen und menschliches Verhalten (Neuropsychologie): Die Neuropsychologie befaßt sich mit Störungen im menschlichen Verhalten, die auf Schädigungen des Gehirns (durch Krankheiten, Verletzungen oder neurochirurgische Eingriffe) zurückgehen. Durch die Zuordnung der beobachteten Verhaltensdefizite zu den (heute meist gut lokalisierbaren) Schädigungen von Gehirngewebe ist häufig ein Rückschluß auf die Bedeutung der betroffenen Region für das Verhalten auch beim gesunden Menschen möglich. Auf der Basis neuropsychologischer Befunde werden insbesondere Aussagen zur Beteiligung bestimmter Gehirnregionen bei unterschiedlichen mentalen Leistungen und Prozessen ermöglicht. Dies gilt speziell für die Bereiche Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Lernen. Auch für emotionale Prozesse zeigen sich auf der Grundlage neuropsychologischer Ergebnisse Möglichkeiten, die differentielle Beteiligung bestimmter Gehirnstrukturen aufzuklären. Die Neuropsychologie ist das am stärksten anwendungsbezogene Fach der Biologischen Psychologie. Ein wichtiges Anliegen der Neuropsychologie ist auch die Verbesserung der Situation der betroffenen Patienten. Dazu gehört zum einen die Konstruktion und Anwendung sehr ausdifferenzierter diagnostischer Instrumente, zum anderen die Entwicklung von gezielten Rehabilitationsmaßnahmen (Rehabilitation). Hier konnten etwa große Erfolge bei der Behandlung von Sprachstörungen im Gefolge von Schlaganfall oder von unfallbedingten Hirnverletzungen (Schädelhirntrauma) erzielt werden.
3) Physiologische Prozesse als Indikatoren psychischen Geschehens beim Menschen (Psychophysiologie): Die Psychophysiologie untersucht das Wechselspiel zwischen psychischen Vorgängen und physiologischem bzw. hormonellem Geschehen beim Menschen. Sie operiert auf einem Mehr-Ebenen-Ansatz menschlichen Verhaltens, der neben der subjektiv-verbalen Ebene den Bereich der physiologischen Prozesse und denjenigen des offenen motorischen Verhaltens in die Beobachtung einbezieht. Ein wichtiges methodisches Anliegen psychophysiologischer Forschung besteht darin, immer empfindlichere humanphysiologische Indikatoren zu identifizieren, die dazu geeignet sind, Zugang zu psychischen Prozessen auf nicht-verbalem Wege zu finden. Neben Phänomenen des Zentralnervensystems bezieht die Psychophysiologie dabei auch den Bereich vegetativer Reaktionen mit ein. Typische Forschungsgegenstände sind etwa Streß, Schlaf, Emotion, Belastung/Beanspruchung am Arbeitsplatz und die Analyse kognitiver Prozesse auf der Basis von Gehirnfunktionen. Speziell die Klinische Psychophysiologie befaßt sich mit den Begleiterscheinungen psychischer Erkrankungen auf der körperlichen Ebene. Dazu gehören beispielsweise Fragen nach den Veränderungen von EEG-Reaktionen bei schizophrenen Patienten, den vegetativen Reaktionen bei Angst-Patienten und dem Einsatz von Biofeedback-Verfahren in der Schmerztherapie.
4) Steuerung menschlichen Verhaltens durch neurochemische und zelluläre Prozesse (Psychopharmakologie, Psychoneuroendokrinologie, Psychoneuroimmunologie): Das Hauptziel der Psychopharmakologie ist die Erklärung der Wirkung von Arzneimitteln und Drogen auf das menschliche Verhalten. Da die meisten Psychopharmaka die Effekte natürlicher, im menschlichen Organismus vorkommender Substanzen verstärken, abschwächen oder imitieren, kann die Psychopharmakologie auch helfen, die Bedeutung und Wirkungsweise körpereigener psychoaktiver Stoffe aufzuklären. Die zentrale Aufgabe der Psychopharmakologie ist naturgemäß die Entwicklung und Überprüfung von Pharmaka. Beim Studium der Wirkung dieser Stoffe bedient sie sich u.a. der Methode der Psychophysiologie sowie neuropsychologischer Testverfahren. Die Psychoneuroimmunologie hat als Gegenstand die wechselseitige Beziehung zwischen einerseits dem menschlichen Erleben und Verhalten und andererseits dem Zentralnervensystem, dem Hormonsystem und dem Immunsystem. Nachdem seit einigen Jahren die Zahl wissenschaftlicher Belege für das enge Zusammenspiel zwischen psychischen Vorgängen (etwa Streßerleben) und Immunprozessen ständig wächst, ist die Bedeutung dieses Fachs z.B. für die Erklärung der Pathogenese von psychosomatischen Krankheiten evident. Die Psychoneuroendokrinologie befaßt sich mit den innersekretorischen Vorgängen, insbesondere den hormonellen Prozessen in ihrer Wechselwirkung mit Phänomenen auf der Ebene des Erlebens und Verhaltens. Bekannte Beispiele sind emotionale Vorgänge (etwa Angst) und Veränderungen in Hormonkonzentrationen (z.B. Adrenalin, Kortisol).
Methoden der Biologischen Psychologie
Die Breite der Biologischen Psychologie, wie sie an aufgeführten Teildisziplinen erkennbar wird, spiegelt sich auch auf der Ebene des Methodeninventars wider. Die Untersuchungsverfahren für den Humanbereich entstammen größtenteils der medizinischen Diagnostik. Sie können entweder unmittelbar oder mit geringfügigen Abwandlungen für Fragestellungen der Biologischen Psychologie eingesetzt werden. Im Bereich der tierexperimentellen biopsychologischen Forschung dagegen finden sich spezielle Verfahren zur Manipulation zentralnervöser Prozesse.
1) Bildgebende Verfahren zur Untersuchung des Gehirns: Die Untersuchung von Gehirnfunktionen wurde durch die Entwicklung von sog. bildgebenden Verfahren revolutioniert. Damit verfügt die biopsychologische Forschung über ein neues und überaus mächtiges Werkzeug zur Aufklärung von grundlegenden Fragen der Hirnforschung. Dazu gehören Themen wie die Lokalisation und Dynamik von Lernvorgängen, von Gedächtnisspeicherung und von sensorischer Reizverarbeitung. Die wichtigsten bildgebenden Verfahren sind die Positronen-Emissions-Thomographie (PET), die Single-Photonen-Emissions-Computer-Tomographie (SPECT) und die funktionelle Kernspin-(Resonanz-)Tomographie. Mit diesen Techniken, die alle sehr aufwendig und an medizinische Großgeräte gebunden sind, lassen sich etwa Stoffwechselvorgänge, Durchblutungsveränderungen und Energieverbrauch in bestimmten Gehirnregionen studieren. Ein weiteres vielfach eingesetztes Verfahren ist die Magnetoenzephalographie (MEG). Mit diesen Verfahren läßt sich sowohl im Zeitbereich als auch in der räumlichen Dimension hochauflösend die neuronale Aktivität des Gehirns studieren.
2) Elektrophysiologische Techniken: Ein klassisches Verfahren zur Untersuchung von Gehirnfunktionen ist die Elektroenzephalographie (EEG), deren sich die Physiologische Psychologie und insbesondere die Psychophysiologie seit langer Zeit bedient. Damit lassen sich unterschiedliche Aktivierungszustände des Gehirns identifizieren und Aussagen über die räumliche Verteilung der elektrischen neuronalen Aktivität machen. Zu den primär in der Psychophysiologie angewandten elektrophysiologischen Methoden gehört neben dem EEG die Registrierung der Herz-Kreislauf-Aktivität (Elektrokardiogramm), der muskulären Aktivität (Elektromyogramm), der elektrischen Aktivität der Haut (Elektrodermale Aktivität) und der Augenbewegungen (Okulomotorik).
3) Invasive Verfahren: Als invasiv bezeichnet man solche Verfahren, bei denen ein Eindringen unter die Körperoberfläche notwendig ist. Diese Techniken verbieten sich im Regelfall im Humanbereich, sie bleiben dem Tierversuch vorbehalten (Ethik und Tierversuche). Hier besteht die Möglichkeit, bestimmte Gehirnareale bzw. Neuronenpopulationen selektiv zu aktivieren oder zu desaktivieren. Zur Aktivation kann eine Elektrode in ein bestimmtes Gehirngebiet vorgeschoben werden, um dann am Zielpunkt über das Anlegen einer elektrischen Spannung die umgebenden Neurone zu stimulieren. Um Gehirnregionen dauerhaft auszuschalten, kann man z.B. durch elektrischen Strom Gewebe zerstören, oder auf operativem Wege bestimmte Gebiete entfernen bzw. ihre Verbindung zum übrigen Gehirn unterbrechen. In die Neurochemie des Gehirns kann man eingreifen, indem man, über sehr feine Glaskanülen gezielt psychoaktive Substanzen in eng umschriebene Gehirngebiete einbringt. Diese können dort entweder fördernd oder blockierend auf neurochemische Prozesse einwirken. Letzteres Verfahren hat eine große Bedeutung bei der Erforschung von Drogen- und Psychopharmaka-Wirkung auf das Gehirn. Auch zur reinen Beobachtung chemischer Prozesse im Gehirn kann eine analoge Technik angewendet werden: Über genau im Gehirn plazierte Kanülen wird zu bestimmten Zeitpunkten Flüssigkeit entnommen. Eine Analyse deren Bestandteile, z.B. an Neurotransmittern, erlaubt Aussagen über die Bedeutung dieser Stoffe für bestimmte Verhaltensweisen. Die genannten Verfahren stellen eine Auswahl der wichtigsten Methoden dar, die zur Untersuchung biopsychologischer Fragestellungen verwendet werden. Entsprechend der Breite des Faches und vor allem wegen seiner ausgeprägten Interdisziplinarität fließen ständig neue Untersuchungstechniken ein, die etwa in der Neurobiologie, der Neuroanatomie sowie der Medizin entwickelt wurden.
Literatur
Birbaumer, N. & Schmidt, R. F. (1996). Biologische Psychologie. Berlin: Springer-Verlag.
Elbert, T. & Rockstroh, B. (1993). Psychopharmakologie. Göttingen: Hogrefe.
Kolb, B. & Whishaw, I. Q. (1993). Neuropsychologie. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
Pinel, J.P.J. (1997). Biopsychologie. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
Schandry, R. (1996). Lehrbuch Psychophysiologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
Schedlowski, M. & Tewes, U. (1996). Psychoneuroimmunologie. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
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