Lexikon der Psychologie: Erziehungspsychologie
Essay
Erziehungspsychologie
Horst Nickel
Gegenstand und Geschichte
Gegenstand der Erziehungspsychologie sind alle psychischen Vorgänge, die im Zusammenhang mit Erziehung bedeutsam sind, einschließlich der sie auslösenden und beeinflussenden Bedingungen sowie ihrer Wechselbeziehungen mit anderen Prozessen. Im Mittelpunkt steht dabei die zwischenmenschliche Interaktion zwischen Erziehern und Educanden, wie man die zu Erziehenden bezeichnet. Da Erziehung letztlich auf eine Veränderung des Verhaltens bzw. der entsprechenden psychischen Dispositionen abzielt, kann man sie aus psychologischer Sicht auch als eine spezifische Form der Verhaltensmodifikation verstehen. Diese wird nicht nur von Erziehern absichtlich ausgelöst (intentionale Erziehung), sondern kann auch unbeabsichtigt erfolgen (funktionale Erziehung), z.B. durch Beobachtungslernen bzw. stellvertretende Konditionierung. Während die wissenschaftliche Pädagogik nur intentionale Verhaltensänderungen unter dem Begriff Erziehung versteht, wird von der Erziehungspsychologie auch die Bedeutung einer funktionalen Erziehung berücksichtigt (Tausch & Tausch, 1991).
Im Mittelpunkt der erziehungspsychologischen Forschung stand lange Zeit das Verhalten der Erziehungspersonen und seine Auswirkungen auf die zu Erziehenden. Entscheidende Anregungen erhielt sie in den dreißiger Jahren durch die quasi-experimentellen Untersuchungen des deutsch-amerikanischen Psychologen Kurt Lewin. Er konnte nachweisen, daß sich das Verhalten von Jugendlichen in verschiedenen Arbeits- bzw. Freizeitgruppen systematisch veränderte, wenn das der Gruppenleiter nach einem vorgegebenen Plan variiert wurde. Damit konnte Lewin nicht nur seine Ausgangs-Hypothese bestätigen, daß das Verhalten von Educanden unmittelbar vom dem der Erziehungspersonen modifiziert wird, sondern auch erstmals nachweisen, daß Erzieherverhalten je nach Versuchsanweisung systematisch variiert werden kann. Es ist also erlernbar und nicht nur von einer besonderen persönlichen Veranlagung oder Begabung abhängig. Mit diesen Experimenten, die seither vielfach wiederholt wurden, und zwar in den unterschiedlichsten Erziehungsbereichen vom Kindergarten über die Schule bis zur betrieblichen Arbeitsgruppe, wurde Lewin gleichermaßen zum Begründer einer empirischen Erforschung des Erzieher- wie auch des Führungsverhaltens (Führung) (Nickel, 1978).
Erziehungsstil und Erziehungsverhalten
Zur Kennzeichnung und gegenseitigen Abgrenzung relativ homogener Grundformen des Erzieherverhaltens wurde der Begriff Erziehungsstil eingeführt (Schneewind & Herrmann, 1980). Das Erieherverhalten läßt sich dabei im Sinne einer psychologischen Analyse wieder nach vier Komponenten unterteilen: Erziehungsziele, Erziehungseinstellungen, Erziehungsabsichten und Erziehungspraktiken. Nur die Erziehungspraktiken sind direkt beobachtbar und damit auch einer experimentellen Analyse zugänglich, während die drei erstgenannten Aspekte lediglich mit indirekten Verfahren näherungsweise erfaßt werden können, z. B. durch Fragebögen, Interviews oder (halb)projektive Erziehungssituationen. Im realen Erziehungsgeschehen wirken sie jedoch stets als komplexe Ganzheit und gehen auch als solche in das Konstrukt Erziehungsstil ein.
Während Lewin und nachfolgende Autoren die von ihnen unterschiedenen Erziehungsstile – z. B. autoritärer oder dominanter, demokratischer oder sozialintegrativer Stil – entweder als gedankliche Setzungen aus ihrer Erfahrung abstrahierten und später empirisch zu bestätigen versuchten (deduktives Verfahren) oder als sog. sinneinheitliche Komplexe aus ihren Beobachtungsdaten erschlossen (induktiv-hermeneutisches Verfahren), wurden seit den sechziger Jahren zunehmend statistische Gruppierungsverfahren, insbesondere Faktorenanalyse und Clusteranalyse, zur Ermittlung von Erziehungsstilen eingesetzt (induktiv-statistisches Verfahren). Diese lassen sich damit als Gruppen von korrelierenden Merkmalen beschreiben, die wiederum mit entsprechenden Merkmalen der Educanden in überzufälligem Zusammenhang stehen. Solche Beziehungen wurden für die verschiedenen klassischen Erziehungsfelder oder Sozialisationsbereiche ermittelt, von der Familie über die Vorschulerziehung, Schule und Hochschule bis zur Berufsausbildung. Besondere Forschungsschwerpunkte bildeten das elterliche Erziehungsverhalten (Schneewind & Herrmann, 1980) sowie die Lehrer-Schüler-Beziehung (Nickel, 1978). Zusammenfassend lassen sich bei den zahlreichen Untersuchungen trotz aller Abweichungen im einzelnen insofern gewisse Übereinstimmungen feststellen, als bestimmte erzieherische Grundhaltungen bereichsübergreifende generelle Bedeutung zu besitzen scheinen. Dazu gehören neben der Echtheit des Erzieherverhaltens vor allem eine verständnisvolle, emotional zugewandte Grundhaltung sowie eine nur mäßig lenkende, die Eigeninitiative fördernde Aktivität des Erziehers bzw. Lehrers (Tausch & Tausch, 1991).
Analyse der Wirkungsrichtung von Erziehungsverhalten
Die Erziehungsstilforschung bildet jedoch nur einen, wenn auch lange Zeit zentralen Ansatz der Erziehungspsychologie, der sich als taxonomisch-klassifizerend charakterisieren läßt. Ein zweiter Forschungsansatz zielt in erster Linie darauf ab, die Wirkungsrichtung erzieherischen Verhaltens aufzudecken, man bezeichnet ihn deshalb als bedingungsanalytisch. Seine wichtigste Methode bildet das Experiment, meistens in Form eines Quasi- oder Wirklichkeitsexperiments (Versuchsplan). So konnte z.B. in einem solchen Feldexperiment aus dem schulischen Bereich nachgewiesen werden, daß Konzentrationsschwierigkeiten bei Schülern wesentlich durch bestimmte Verhaltensweisen von Lehrern bedingt sind. Obwohl dem bedingungsanalytischen Forschungsansatz für die Aufdeckung der Wirkung erzieherischer Verhaltensweisen und damit ihrer Optimierung große Bedeutung zukommt, wird er in der Erziehungspsychologie insgesamt noch relativ wenig angwandt. Das dürfte vor allem auch mit den Schwierigkeiten eines experimentellen Vorgehens in diesem Bereich zusammenhängen. Deshalb finden sich in letzter Zeit verstärkte Bemühungen, das Ursache-Wirkungsgefüge im Erziehungsprozeß auch aus korrelativen Daten aufzudecken, z.B. mittels pfadanalytischer Modelle (Pfadanalyse). So konnte z.B. in entsprechenden Ansätzen festgestellt werden, daß verschiedene Betreuungsmethoden von Müttern bei Säuglingen und Kleinkindern ganz unterschiedliche Verhaltensweisen evozieren können.
Erhebliche methodische Probleme im Sinne einer systematischen Kontrolle der Einflußfaktoren stellen sich auch einem interventionsorientierten Forschungsansatz, bei dem Möglichkeiten eines planmäßigen Eingreifens mit dem Ziel der Optimierung des Erziehungsprozesses im Vordergrund stehen. Am häufigsten wurde er bisher im familialen Bereich realisiert, z.B. bei der Konzeption und Überprüfung verschiedener Verfahren zur Vorbereitung auf die Elternschaft oder unterschiedlicher Unterstützungsmaßnahmen für Mütter und Väter. Dazu gehören ferner auch alle Ansätze zur empirischen Überprüfung der zahlreichen Erzieher-/Lehrertrainings, die in den letzten Jahrzehnten auf recht unterschiedlicher theoretischer Grundlage (z.B. lernpsychologisch, persönlichkeitspsychologisch bzw. gesprächstherapeutisch) konzipiert wurden.
Ökosystemischer Erziehungsprozeß
Eine zunehmende Bedeutung erlangte in neuerer Zeit sowohl in der Empirischen Pädagogik als auch in der Erziehungspsychologie ein Forschungsansatz, den man als ökologisch-systemisch kennzeichnet. Im weitesten Sinne zielt er darauf ab, die transaktionalen Wechselbeziehungen zwischen den am Erziehungsprozeß beteiligten Personen sowie ihrem sozialen und materiellen Umfeld aufzudecken. Dabei stehen im Sinne der ökologischen Perspepktive nicht mehr die einzelnen Personen – hier Erzieher und Educanden – im Zentrum der Beachtung, sondern der Blick ist auf das gesamte Ökosystem gerichtet, dem sie angehören und in dem sie sich im Sinne jenes transaktionalen Prozesses ständig gegenseitig beeinflussen und verändern (Nickel, 1978). Auch die in letzter Zeit besonders aktuell gewordenen Probleme einer interkulturellen Erziehung lassen sich unter dieser ökosystemischen Perspektive angemessener verstehen. Sie erfordert ferner ein modifiziertes Verständnis des Erziehungsvorgangs insgesamt. Dabei muß die bisher vorherrschende Annahme aufgegeben werden, daß erzieherische Veränderungen nur in einer Richtung erfolgen, nämlich vom Erzieher zum Educanden, vielmehr ist auch die umgekehrte Wirkung stets mit zu berücksichtigen. Das bedeutet, daß Kinder und Jugendliche ihre Erzieher in gleicher Weise beeinflussen können, wie man dies bisher nur den Erziehungspersonen zuschrieb, und zwar schon vom Beginn ihrer Interaktion an, wie Nickel (1993) in einem transaktionalen Interaktionsmodell der Lehrer-Schüler-Beziehung verdeutlicht, das in analoger Weise für alle Erziehungsvorgänge und in jedem Sozialisationsbereich gilt (transaktionale Beziehung). Erziehungspersonen und ihre Educanden müssen deshalb aus ökosystemischer Perspektive als Erziehungspartner verstanden werden, wobei jeder zugleich Einwirkender und Sich-Verändernder ist (Erziehungspartnerschaft).
Ein solches transaktionales Verständnis erzieherischer Interaktionen berücksichtigt sowohl intra- und interpersonelle Prozesse als auch auch deren Wechselwirkung mit externen Faktoren, und zwar in inhaltlicher und auch in zeitlicher Hinsicht. Bei letzteren handelt es sich auf seiten beider Erziehungspartner im wesentlichen um drei Komplexe: die Erfahrungen der bisherigen Lernvergangenheit, die gleichzeitigen Erfahrungen aus anderen zwischenmenschlichen Interaktionen und die sog. objektivierten Erfahrungen aus Literatur, Medien etc. Die intrapersonellen Faktoren, die die erzieherische Interaktion steuern, wurden zunächst in anderen Teildisziplinen der Psychologie in ihrer Wirkung analysiert, insbesondere in der Kognitionsforschungg sowie in der Sozialpsychologie (Hofer, 1986). Ihre spezifische Bedeutung für das Verständnis erzieherischen Handelns kann hier nur summarisch dargestellt werden.
Intrapersonelle Faktoren des Erziehungsverhaltens
Eine besondere Rolle spielt dabei die gegenseitige Person-Wahrnehmung der Erziehungspartner (Personenwahrnehmung). Sie wird entscheidend beeinflußt durch unterschiedliche Motive, Einstellungen und vor allem auch Erwartungshaltungen (Erwartung). Diese sind wiederum das Ergebnis früherer und gegenwärtiger Interaktions-Erfahrungen in einem gegebenen sozialkulturellen Kontext. Solche Erfahrungen verdichten sich zu einer Art kognitivem Modell, mit dessen Hilfe alle eingehenden Wahrnehmungen anderer Personen gemessen und selektiert werden. Der gesamte Forschungsbereich, der sich in neuerer Zeit der Analyse solcher psychologischen Faktoren und ihrer Bedeutung für den Erziehungsprozeß widmet, wird deshalb auch unter dem Begriff Erzieher-/Lehrer-Kognitionen zusammengefaßt. Neben den Erwartungshaltungen, die die subjektiv eingeschätzte Wahrscheinlichkeit kennzeichnen, mit der ein Verhalten des Erziehungspartners erwartet wird, handelt es sich dabei vor allem um implizite Persönlichkeitstheorien sowie implizite Führungstheorien (implizite Theorien). Während die impliziten Persönlichkeitstheorien im wesentlichen vorwissenschaftliche Annahmen über vermeintliche Zusammenhänge von Merkmalen oder Eigenschaften des Erziehungspartners zum Gegenstand haben (z.B. aggressiv = wenig begabt), handelt es sich bei den impliziten Führungstheorien um Annahmen darüber, wie sich ein bestimmtes Erzieherverhalten auswirkt bzw. wie sich ein Erzieher gegenüber Personen mit bestimmten Merkmalen am besten verhalten sollte. In diesem Zusammenhang fragt die erzieherische Attributionsforschung danach, auf welche Gründe Lehrer und Schüler bzw. Erzieher und Educanten bestimmte Leistungen oder Verhaltensformen zurückführen (Lehrerattributionen), um dadurch Anlässe für Konflikte zu erkennen und zu vermeiden (Hofer, 1986).
Schlußfolgerungen
Als eine wesentliche Schlußfolgerung aus der bisherigen erziehungspsychologischen Interaktionsforschung ergibt sich die Tatsache, daß sich Erziehungspartner niemals wirklich objektiv wahrnehmen, sondern immer nur unter der subjektiven Verzerrung durch die dargestellten Faktoren. Eine besondere Gefahrenquelle besteht darin, daß Lehrer/Erzieher nicht selten dazu neigen, Diskrepanzen zwischen Vorerwartungen und tatsächlichem Verhalten von Educanden im Sinne ihrer ursprünglichen Erwartungen zu korrigieren. Es wurden daher zahlreiche Maßnahmen vorgeschlagen, um dem entgegenzuwirken. Sie reichen von der Entwicklung verschiedener Formen einer objektiven Rückmeldung (z.B. durch Fragebögen, Tonband- oder Videoaufzeichnungen) über eine kollegiale Supervision sowie Gesprächsgruppen bis zu systematischen Lehrer-/Erziehertrainings mit empirischer Erfolgskontrolle (vgl. Nickel, 1978).
In der Erziehungspsychologie stehen heute also weniger objektiv unterscheidbare Erziehungsstile im Sinne einer klassifizierenden Taxonomie im Mittelpunkt als vielmehr die unterschiedlichen Kognitionen der Erziehungspartner mit ihren o.a. Auswirkungen auf eine transaktionale Interaktion. Dabei spielt nach neueren Befunden auch das wechselseitige zwischenmenschliche Vertrauen eine wichtige Rolle. Seine pädagogische Bedeutung ist in der Erziehungspraxis zwar schon seit langem bekannt, doch erst in letzter Zeit konnte sie durch systematische empirische Untersuchungen bestätigt werden. Dabei versteht man unter Vertrauen im Sinne einer Arbeitsdefinition die Bereitschaft einer Person, gegenüber einer anderen gewisse Risiken einzugehen und sich damit quasi verwundbar zu machen. Dafür spielt die Echtheit bzw. Kongruenz des Verhaltens eine wesentliche Rolle. Als weitere vertrauensfördernde Merkmale konnten persönliche Zuwendung, Respekt, fachliche Kompetenz und Hilfe ermittelt werden, also Variablen, die ebenso wie Echtheit durchaus zu den übergreifenden Befunden der bisherigen Erziehungsstilforschung zählen.
Literatur
Hofer, M: (1986). Sozialpsychologie erzieherischen Handelns. Göttingen: Hogrefe.
Nickel, H. (1978). Psychologie des Lehrerverhaltens (2. neugest. u. erw. Aufl.). München: Reinhardt.
Nickel, H. (1993). Die Lehrer-Schüler-Beziehung als transaktionaler Prozeß. In H. Nickel (Hrsg.), Psychologie der Entwicklung und Erziehung (S. 244 – 261). Pfaffenweiler: Centaurus.
Schneewind, K.A. & Herrmann, T. (Hrsg.). (1980). Erziehungsstilforschung. Theorien, Methoden und Anwendung der Psychologie elterlichen Erziehungsverhaltens. Bern: Huber.
Tausch, R. & Tausch, A.- M. (1991). Erziehungspsychologie (10. erg. und überarb. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
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