Lexikon der Psychologie: Frauenaggression
Frauenaggression, aggressive Handlungsweisen von Frauen. Das Verständnis von Aggression oszilliert zwischen der Einordnung als Destruktion und Gewalt oder positiv konnotierter Durchsetzungsfähigkeit. Insgesamt werden jedoch die meisten Phänomene eher mit männlichem Verhalten verbunden, d.h. man geht erst einmal davon aus, daß Männer aggressiver, d.h. auch durchsetzungsfähiger und stärker sind. Aggressive Handlungsweisen scheinen unabdingbar für ein klassisches Verständnis vom männlichen Habitus und bringen, wenn sie nicht den Boden des Tolerierbaren verlassen, durchaus auch Prestigegewinn und Anerkennung.
Erst auf den zweiten Blick tauchen Bilder aggressiver Handlungsweisen von Frauen auf, und häufig erfolgt dann eine seltsame Umwertung: obwohl es sich bei den als weiblich charakterisierten aggressiven Handlungen eher um emotionale und weniger handgreifliche Verhaltensweisen handelt, wie z.B. Nörgeln, Liebesentzug, Intrigen oder Einsatz indirekter psychischer Aktionen, überwiegt zweifellos die negative Bewertung, und es entsteht das Bild, als seien diese "Frauenaggressionen" weitaus zerstörerischer als alle Formen direkter Aggression.
Es existiert im Diskurs also bereits auf der deskriptiven Ebene eine deutliche Differenz zwischen "weiblichen" und "männlichen " Aggressionen. Um so bemerkenswerter ist, daß die klassische Aggressionsforschung aus dem Bereich der Verhaltenswissenschaften diese geschlechtsspezifisch zugeordnete Differenz weitgehend ignoriert, obwohl sowohl Aggressionsformen als auch die Häufigkeit des Ausagierens sehr unterschiedlich auf die Geschlechter verteilt sind: offen gewalttätige Aggressionen werden wesentlich häufiger von Männern ausgeführt, während Frauen sich eher der stillen und indirekten Praktiken bedienen, die eingebettet sind in scheinbar zugewandtes Verhalten, wie es z.B. beim Münchhausen Syndrom vorkommt. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, das auch Frauen zu allen Formen sadistischer und destruktiver Gewaltausübung in der Lage sind. Produktive Formen der Aggression, wie Selbstbehauptung und Durchsetzung, gelten immer noch als unweiblich und sind für Frauen nach wie vor tabuisiert (Musfeld, 1997).
Frauen selbst verorten aggressive Handlungen und Erlebensweisen in der Regel innerhalb einer Beziehungssituation und imaginieren Aggression als explosives Gefühl. Sich vorzustellen daß Aggression durchaus instrumentell eingesetzt werden kann, wie es für Männer selbstverständlich ist, fällt ihnen ungeheuer schwer (Campbell, 1995). Offene Aggression, so scheint es, kann nur als emotionaler Ausbruch abgebildet werden, der wegen seiner Stärke tendenziell eine Eigendynamik zu erhalten droht und mit dem die Phantasien von Zerstörung und Gewalttätigkeit einhergehen.
Diese Angst vor den Bildern von Aggression erklärt sich aus der besonderen Dynamik der weiblichen Entwicklung: Aggressives Verhalten allgemein hat in der Regel einen Ursprung in der Frage nach Selbstbehauptung und Anerkennung, nach Trennung und Durchsetzung eigener Interessen. Frauen ist es aufgrund der bereits sehr früh einsetzenden Zuschreibungen, was als weibliche Tugend verstanden wird, und durch die – wenigstens symbolisch – innige Mutter-Tochter-Beziehung nicht gestattet und auch schwer möglich, eine akzeptierte und gut abgegrenzte Trennungsaggression zur Etablierung des eigenen Selbst einzusetzen (Lerner, 1993). Durch die gesellschaftlich getragene und individuell reproduzierte Phantasie vom Friedlich-Sein der Frauen und den Mythen, die sich um die verdrängte aggressive Weiblichkeit ranken (Geschichten über die Medusa, über Hexen, Judith, Eva etc.), geraten Frauen in einen bereits gesellschaftlich existierenden Beweiszwang des eigenen Gut-Seins. Die Verbote der Umwelt bzw. bei deren Nichtbeachtung die Zuschreibungen einer zerstörerischen Weiblichkeit nähren eigene Konflikte, die mit jedem Differenzierungswunsch aktualisiert werden. So werden individuelle, meist unbewußte Phantasien von Haß und Zerstörung, wie sie in jeder kindlichen Entwicklung in Differenzierungs- und Trennungssitationen entstehen, gesellschaftlich gestützt. Dies bildet die Basis, um später jeden Impuls von Trennungs- oder Durchsetzungsaggression tendenziell als bedrohlich einzuordnen. Der Ausweg liegt dann im permanenten Leugnen eigener aggressiver Impulse und führt dazu, daß es schwierig bis unmöglich wird, die eigenen Interessen offensiv und deutlich zu vertreten.
Auf diese Weise werden Formen indirekter Steuerung aber auch indirekter Aggression gestützt, für die dann die Verantwortung nicht übernommen zu werden braucht. Diese Formen indirekter Aggression entfalten ihre zerstörerische Ausprägung, gerade weil sie nicht bewußt sind. Sie richten sich sowohl nach Außen, wie auch nach Innen, z.B. bei Eßstörungen (Bulimie, Magersucht), bei selbstverletzendem Verhalten und bei schweren Formen der Depression. In der Regel zeichnen sie sich dadurch aus, daß die eigene Aggressivität hinter einem Bild von Hilflosigkeit, Anpassung und Bindungswunsch und oftmals idealisierter Weiblichkeit verborgen ist.
T.M.
Literatur
Campbell, Anne. (1995). Zornige Frauen, wütende Männer. Wie das Geschlecht unser Aggressionsverhalten beeinflussen kann. Frankfurt/Main.
Lerner, Harriet G. (1993). Das mißdeutete Geschlecht. Falsche Bilder der Weiblichkeit in Psychoanalyse und Therapie. Frankfurt/Main.
Musfeld, Tamara. (1997). Im Schatten der Weiblichkeit. Tübingen.
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