Lexikon der Psychologie: Gesellschaft und Psychologie
Gesellschaft und Psychologie, Psychologie hat in der modernen Gesellschaft anerkannte Aufgaben in Industrieunternehmen, kommunalen Beratungsstellen, beim TÜV usw. Aber nicht nur die professionelle Verwendung, sondern auch die Produktion und Ausbreitung psychologischen Wissens vollzieht sich in gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten. Wissenschaftsoziologische und historisch-kritische Studien haben vielschichtige Verflechtungen zwischen kulturellen Vorstellungen, Sozialstruktur und wissenschaftlicher Erkenntnis nachgewiesen. Eine zentrale Rolle kommt dabei den praktischen und kommunikativen Interaktionen zwischen Forschern und Versuchspersonen in lokalen Labors, zwischen einzelnen Forschungsgruppen und der weiteren Wissenschaftlergemeinschaft (scientific community) sowie zwischen Forschungsgruppen, finanzierenden Instanzen und anderen gesellschaftlichen Gruppen zu (Danziger, 1990).
1) Das Psychologische im Diskurs der Aufklärung um Gesellschaft und Individuum: In der Epoche der Aufklärung des 17. und 18. Jhs. formulierten Gelehrte, die sich als "gebildete Gesellschaft" um Universitäten, Salons und Logen gruppierten, die systematischen Umrisse eines gegenüber der gottgegebenen ständischen Sozialordnung neuen Verständnisses der sozialen Wirklichkeit. "Gesellschaft" galt ihnen als Zusammenschluß aller Menschen im Land, die politische Ordnung als Garant für die geregelte Verfolgung der Interessen der Einzelnen (Für die Einzelperson wurde der Begriff "Individuum" gängig, in der Doppelbedeutung der unteilbaren Einheit einer Gruppe und persönlicher Einzigartigkeit oder "Individualität"). Als Ergänzung zur neuen Naturwissenschaft wurde eine Wissenschaft vom Menschen (science de l'homme; moral science) anvisiert, die von der "menschlichen Natur" (körperliche und geistige Beschaffenheit), seiner historisch-sozial vielfältigen Erscheinungsweise und seiner moralischen Bestimmung handeln sollte. Die Abhandlungen über menschliche Erkenntnis, Körper und Moral, die kulturelle Formung von Männern und Frauen, die Lebenswelten und Fähigkeiten von Wilden, in denen sich das Projekt der Wissenschaft vom Menschen konkretisierte, werden oft als Ursprünge der modernen Humanwissenschaften gesehen. Doch ist das Projekt eher als Neuformulierung der conditio humana im Horizont des Transfomationsprozesses zur modernen Gesellschaft anzusehen, denn die Konturen einer Konstruktion der historisch-sozialen Wirklichkeit in separierbare Bereiche des Psychologischen, Medizinischen, Ethnologischen und Soziologischen deuten sich in ihm erst an (Smith, 1997). Entwürfe einer Erfahrungsseelenkunde und psychologischen Grundlegung der Erziehung sind noch eng verwoben mit moralischen Bewertungen der gesellschaftlichen Situation.
2) Institutionalisierung psychologischen Expertentums: Im Prozeß fortschreitender Industrialisierung und Urbanisierung regen Diskurse um die Ausbildung schichtspezifischer Arbeitsfähigkeiten, die Erhaltung der Volksgesundheit und die Korrektur delinquenten Verhaltens wissenschaftliche Arbeit über Funktionieren undFormbarkeit der psychischen Natur des Menschen an. Die Institutionalisierung der Psychologie im späten 19. Jahrhundert erfolgt im Kontext neuer Organisationsformen der Wissenschaft und veränderter Erkenntnisinteressen. Wissenschaftliche Erkenntnis gilt vorrangig als Ermittlung von Fakten und regelhaften Erscheinungen und soll Voraussagen und kontrollierte Intervention ermöglichen. Menschliches Verhalten soll kalkulierbar, kontrollierbar und verwaltbar gemacht werden. Die zuerst in Deutschland von Humboldt begonnene Modernisierung des Universitätssystems ermöglicht eine zunehmende Verlagerung wissenschaftlicher Arbeit und Diskussion an spezialisierte Forschungsinstitute. In der Gründungsphase der psychologischen Laboratorien und Institute an europäischen und amerikanischen Universitäten bilden sich je nach gesellschaftlichem Rollenverständnis der Universitäten ganz unterschiedliche Muster der Gegenstandsbestimmung des neuen Forschungsfelds, seiner Bindung an Natur- oder Geisteswissenschaften sowie der Interaktionsformen von Forschern und Beforschten heraus (Psychologiegeschichte). Der Zusammenschluß zu landesweiten wissenschaftlichen Gesellschaften (z.B. American Psychological Association 1892, Gesellschaft für experimentelle Psychologie 1904) etabliert in Abgrenzung gegen andere Expertengruppen den Monopolanspruch psychologischer Experten auf Definition, Produktion und Verbreitung psychologischen Wissens sowie die interne Regelung und Überwachung des Fachverständnisses und der Standards ordentlicher Forschung. Die Regelung von Zugehörigkeit und Zulassung zur "Gilde" impliziert Grenzziehungen des Ein- und Ausschlusses; publikationspolitische Entscheidungen der Fachorgane über Forschungsergebnisse beeinflussen tendenziell ganze Forschungsrichtungen. Die relative Eigendynamik der Entwicklung von Psychologie kann daher als Resultat der Machtverhältnisse zwischen den jeweils etablierten Vertretern gelten, deren Prestigehierarchie nicht zuletzt abhängt von der zahlungsfähigen gesellschaftlichen Nachfrage für ihr Fachwissen (Professionalisierung). Das gesellschaftliche Prestige moderner Psychologie ist vorrangig ihrem Angebot von Wissen, Techniken und Praktiken für administrative Regelungen der Ausbildung und Verwendung menschlicher Fähigkeiten (z.B. durch Intelligenz- und Eignungsdiagnostik), für das Management von Gruppen und das individuelle Selbstmanagement der Individuen zu verdanken. So gesehen kann ihre Funktion in liberal-demokratischen Gesellschaften im Beitrag gesehen werden, den sie zur rationalen Verwaltbarkeit und Regierbarkeit freier und autonomer Individuen leistet.
3) Alternativen in der Psychologie: Systematische Untersuchungen über soziale Kontexte von alternativen Ansätzen in der Psychologie stehen noch aus. Die nur kurze Blüte der auf "emanzipatorische Wissenschaft" gerichteten Protestbewegung nach 1967, aus der auch eine Reihe "kritischer" Psychologien hervorgegangen ist (Kritische Psychologie), zeigt aber die engen Grenzen der Einflußmöglichkeiten profilierter Minderheiten, sobald Versuche der Umorientierung wissenschaftlicher Erkenntnisziele sich aus gesellschaftlichen Alternativvorstellungen begründen. Wieweit nach der feministischen Wissenschaftskritik, die institutionell einige Erfolge erzielt hat (Feministische Psychologie), auch die Kritik rassistischer und eurozentrischer Implikationen westlicher Psychologie an Einfluß gewinnt, wird von Veränderungen der sozialen Zusammensetzung der Wissenschaftsgemeinschaften – dominant "weiß", männlich und an Mittelschichtwerten orientiert – ebenso abhängen wie von der Sensibilisierbarkeit einflußreicher gesellschaftlicher Gruppen und der Veränderbarkeit des Machtgefälles in den internationalen Produktionsbedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis.
I.St.
Literatur
Danziger, K. (1990). Constructing the subject: Historical origins of psychological research. Cambridge: Cambridge University Press.
Jaeger, S. & Staeuble, I. (1978). Die gesellschaftliche Genese der Psychologie. Frankfurt: Campus.
Rose, N. (1991). Experts of the soul. Psychologie und Geschichte 3, H. 1/2: 91-99.
Smith, R. (1997). The fontana history of the human sciences. London: Fontana Press.
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