Lexikon der Psychologie: Gesprächspsychotherapie
Essay
Gesprächspsychotherapie
Reinhard Tausch
Charakteristische Merkmale
Gesprächspsychotherapie (= klientzentrierte Psychotherapie) ist eine wissenschaftlich geprüfte Psychotherapieform bei seelischen Beeinträchtigungen, begründet von Carl Rogers (1942; 1951). Charakteristisch für die Gesprächspsychotherapie ist: a) Bestimmte Haltungen und Verhaltensweisen des Psychotherapeuten sind entscheidende Wirkfaktoren; sie lösen im Gespräch deutlich förderliche Erfahrungen und Vorgänge beim Patienten/Klienten aus. b) Das Gespräch ist im gegenwärtigen Erleben und in Erfahrungen des Klienten zentriert. c) Aussagen über Vorgänge und Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie erfolgen aufgrund empirischer Erforschung des Psychotherapeut-Klienten-Verhaltens.
Gesprächspsychotherapie wird inzwischen an psychologischen Universitätsinstituten gelehrt. Sie kommt als Einzel- und Gruppentherapie in der Behandlung beeinträchtigter Personen in psychologischen, medizinischen und psychiatrischen Praxen sowie Reha-Kliniken zum Einsatz. Sie ist ferner sehr verbreitet als hilfreiche Gesprächsführung in psychosozialen Bereichen, so in Beratungsstellen (Erziehung, Ehe-Partnerschaft, Lebensberatung; Beratung), Telefonseelsorge, Sterbebegleitung (Thanatopsychologie) u.a. Gesprächsführung wird häufig gelehrt an Ausbildungsinstitutionen für Sozialpädagogik, Krankenpflege u.a. Gesprächspsychotherapie (Einzel- und Gruppengespräche) und erwies sich in vielen empirischen Untersuchungen in den USA und Europa als deutlich wirksam.
Wissenschaftliche Entwicklung
Das erste Buch von Carl Rogers (1942) war eine Sensation: die Abschrift der Tonaufnahmen einer ganzen Psychotherapie. Bisher war behauptet worden, Tonaufnahmen in der Psychotherapie seien wegen der Störung unmöglich. Die deutlichen Änderungen des Klienten traten ein ohne Dirigierung des Klienten, was er sagen sollte, ohne Interpretationen, Traumdeutungen, ohne Eingehen auf Unbewußtes, ohne Liegen auf einer Couch. Die seinerzeit umfassendste Untersuchung der Gesprächspsychotherapie von Patienten, verglichen mit Wartepatienten, und Feststellung des Zusammenhanges der Änderungen der Patienten mit dem Psychotherapeutenverhalten veröffentlichte Rogers 1954 (Rogers & Dymond, 1954). Später wandte er sich den in der Psychotherapie nachgewiesenen hilfreichen seelischen Wirkfaktoren in anderen zwischenmenschlichen Beziehungen zu. Er nannte sie personzentrierte Haltungen. Der Schwerpunkt lag auf personzentrierten Gruppengesprächen und personzentrierten Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern-Studierenden. Carl Rogers starb 1987 kurz vor seiner Nominierung durch den Senat von Kalifornien für den Friedensnobelpreis, u.a. für seine Verdienste bei personzentrierten Gruppenbegegnungen von Schwarzen und Weißen in Südafrika zur Überwindung der Rassenkonflikte.
Wirksamkeit
Klaus Grawe führte eine Meta-Analyse aller internationalen empirischen Psychotherapie-Untersuchungen durch; die Effekte der Psychotherapieklienten wurden mit denen von Warte-Klienten verglichen. Danach ist die Gesprächspsychotherapie nach der Verhaltenstherapie die am besten wissenschaftlich erforschte Psychotherapieform. Und: "Die Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie kann als sehr gut bestätigt werden" (Grawe u.a., 1993). In Deutschland wurden die meisten empirischen Untersuchungen am Psychologischen Institut III der Univ. Hamburg durchgeführt, bei 450 Patienten-Klienten in Einzelpsychotherapie und 645 Klienten in Gruppenpsychotherapie. Die Änderungen der Klienten wurden mit psychologischen Tests vor und nach der Therapie erfaßt und mit den Teständerungen von Warte-Klienten verglichen. Die Gruppenpsychotherapie erstreckte sich auch auf Patienten mit Krebserkrankungen, Arbeitslose, alte Menschen über 70 Jahre und Lehrer mit seelischen Belastungen (Tausch & Tausch, 1990). Die Änderungen der Klienten betreffen ein positiveres Selbstkonzept von der eigenen Person, größere Selbstakzeptierung und Akzeptierung anderer, Verminderung innerer Spannungen, Klärung verzerrter Bedeutungswahrnehmungen und verwirrender Gefühle, Fortfall/Minderung psychosomatischer Symptome u.a. Gesprächspsychotherapie ist zeitlich ökonomisch; bei den Untersuchungen dauerten die Psychotherapien 8 – 25 Gespräche.
Indikation
Aufgrund empirischer Untersuchungen ist Gesprächspsychotherapie als Einzeltherapie und/oder Gruppentherapie wirksam bei Personen mit einem größeren Ausmaß innerer Spannungen/Konflikte, innerem Leidensdruck und einem geringeren Ausmaß an offenen Verhaltensstörungen, bei gleichzeitiger Motivation, die Leiden zu vermindern, bei recht verschiedenartigen seelischen Beeinträchtigungen ( Tab. 1 ).
Grundverhalten der Psychotherapeuten
Ein hohes Ausmaß an einfühlendem Verstehen, Achtung und Aufrichtigkeit des Therapeuten führt zu deutlichen Besserungen bei den Klienten; ein geringes Ausmaß zu keinen oder ungünstigen Änderungen. Die Verhaltensweisen im einzelnen:
1 a) Genaues Verstehen der Erlebniswelt des Klienten-Patienten. Der Psychotherapeut hört dem Klienten zu. Er ist intensiv bemüht, die vom Klienten geäußerten Gefühle und die damit zusammenhängenden Bedeutungen, Wahrnehmungen und Gedanken zu verstehen (sich zu vergegenwärtigen), gleichsam von der Innenseite des Klienten her.
1 b) Das wesentliche dessen, was der Therapeut verstanden hat, äußert er in konkreter klarer Form dem Klienten gegenüber, ohne Bewertung und akzeptierend. Er begleitet gleichsam den Klienten in seiner Erlebniswelt, in die von ihm geäußerte meist belastende angstvolle Gefühlswelt und die damit zusammenhängenden Vorstellungen. Der Fokus seines Wahrnehmens, Denkens und Vorstellens liegt immer im geäußerten Erleben des Klienten. Das Wesentliche davon hält er dem Klienten entgegen, ohne selber Ängste oder Erregung zu empfinden, die der Klient verspürt.
2) Achtung-Respekt-Wärme-Sorgen: Der Therapeut achtet/respektiert den Klienten vollständig als Person sowie sein jeweiliges Erleben und Fühlen. Er kritisiert nicht; sondern akzeptiert die Person. Er ist voller Hilfsbereitschaft sowie Wärme und Sympathie, zugewandt; ferner intensiv aktiv bemüht, seine Erlebniswelt genau in der Art zu verstehen, wie der Klient sie im Moment erlebt, um ihm dadurch bei der Änderung seines Erlebens zu helfen.
3) Aufrichtigkeit: Einfühlendes Verstehen sowie Achtung-Wärme-Sorgen sind kein Routineverhalten, kein berufsmäßiges Gehabe, keine Verstellung, keine Fassade; beim Therapeuten ist eine Übereinstimmung seines Sprechens, Denkens, Fühlens und Handelns vorhanden. Skepsis wurde/wird verscheidentlich geäußert, ob "nur" drei Haltungen entscheidend für konstruktive Änderungen der Klienten sein sollen, ferner ob Achtung, Einfühlung und Aufrichtigkeit zugleich sozial-ethische Haltungen sind und förderlicher sein sollen als kompliziert ausgedachte Methoden. Weitere Schwierigkeiten:
a) Das eigene Ego, eigene Vorstellungen, Erklärungsansätze, Diagnosen u.a. zurückzustellen und fortlaufend im Erleben des Patienten zentriert zu sein, dessen Erleben genau zu verstehen, ohne zu beurteilen.
b) Das Wesentliche der vom Patienten geäußerten Gefühle und damit zusammenhängenden Gedanken fortlaufend in kurzer konkreter Form zu äußern, und zwar besser, als es der Klient vermag.
c) Sich genau in das z.T. angstvolle Erleben des Patienten einzufühlen, ohne selbst Angst zu empfinden.
d) Viele Therapeuten halten sich für verständnisvoll, achtungsvoll-warm und aufrichtig. Untersuchungen mit Einschätzung der Tonaufnahmen der Psychotherapeuten durch neutrale Beurteiler sowie Einschätzung durch Patienten ergaben: Dies ist öfter Selbsttäuschung.
e) Für ein hohes Ausmaß von Einfühlung und Achtung sind gemäß Untersuchungen Persönlichkeitsmerkmale bedeutsam, Empathie, kein Dominanzstreben, Altruismus, Fehlen von Inkongruenz u.a. Ferner sind intensive praktische Erfahrungen in vielen Gesprächen mit Klienten notwendig, mit Einschätzung durch Klienten und Supervision der Tonaufnahmen, sowie Teilnahme als Mitglied an Gruppenpsychotherapien.
Änderungsprozesse im Patienten durch das Therapeutenverhalten
Die Aktivitäten des Therapeuten sowie die Vorgänge im bzw. Erfahrungen beim Klienten – sämtlich empirisch nachgewiesen – stehen in Wechselwirkungen ( Tab. 2 ).
In empirischen Untersuchungen erwiesen sich die Wirkfaktoren der Gesprächspsychotherapie auch in anderen zwischenmenschlichen Beziehungen als die Grundformen förderlichen Verhaltens. Wurden Ehepartner, Freunde, Lehrer, Sporttrainer, Ärzte u.a. deutlich achtungsvoll und einfühlsam von ihren Partnern, Schülern, Patienten u.a. eingeschätzt, dann waren sie mit der Person des anderen und seinen Handlungen deutlich zufrieden und erlebten mehr Lebensqualität. Achtungsvolle einfühlsame Lehrer hatten Schüler mit günstigerem Selbstkonzept, weniger Angst, größerer Selbstöffnung, geringerem Störverhalten, größerer Mitarbeit sowie auch besseren fachlichen Leistungen! Ferner: Achtung und Einfühlung drückt sich in Alltagsbeziehungen weniger in Gesprächen, sondern vor allem in häufigen förderlichen Aktivitäten zur Unterstützung des anderen aus (Tausch & Tausch, 1991).
Zukünftige Entwicklung
Gesprächspsychotherapie ist bei meßbar hoher Qualifikation der Psychotherapeuten bei recht verschiedenartigen seelischen Beeinträchtigungen wirksam. Bei anderen seelischen Beeinträchtigungen, z.B. schwerenDepressionen, Angstzuständen mit Verhaltensstörungen, jahrelang gelernten ungünstigen Bewältigungsformen, Suchtverhalten (Sucht) u.a. ist Gesprächspsychotherapie allein meist nicht hinreichend. Hier sind Formen der Verhaltenstherapie, der medikamentösen Therapie sowie der Streßverminderung (Streß) wirksam. Jedoch auch hier in dieser multimodalen schulunabhängigen Allgemeinen Psychotherapie hat die Gesprächspsychotherapie ihren Platz. Häufig wird sie im ersten Drittel der Psychotherapie im Vordergrund stehen, während Verhaltenstherapie und Streßverminderung danach überwiegen. Allerdings sind die klientzentrierten Haltungen "einfühlendes Verstehen" und "aufrichtige Achtung" auch hier wesentlich für die Wirkung; so erwiesen sich diese Haltungen allein aufgrund der Stimmqualität bei Sprechern von Entspannungs-Tonbändern als deutlich wirksam. Bei der psychiatrisch-medikamentösen Behandlung schwerer seelischer Störungen ist Gesprächspsychotherapie eine zusätzliche hilfreiche Unterstützung, sie ermöglicht Patienten eine sinnvollere Einordnung des Geschehens, mehr seelischen Halt u.a. Somit ist Gesprächspsychotherapie ein wichtiger wirksamer Teil einer sich entwickelnden Allgemeinen Psychologischen Psychotherapie. Und sie ist die wesentliche Psychotherapie für existentielle Krisen und Sinnverluste, Sterbebegleitung, Bewältigung der seelischen Folgen von schweren chronischen Erkrankungen oder Trennung vom Partner.
Literatur
Grawe, K., Donati, R. u. Bernauer, F. (1993). Psychotherapie im Wandel. Göttingen: Hogrefe.
Rogers, C. (1942). Counseling and psychotherapy. Boston: Houghton Mifflin. – In deutscher Sprache: Rogers, C. (1972). Die nicht-direktive Beratung. München.
Rogers, C. (1951). Client-centered therapy. Boston: Houghton Mifflin. – In deutscher Sprache: Rogers, C. (1983). Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie (4. Aufl.). Frankfurt: Fischer-Taschenbuch.
Tausch, R. & Tausch, A. (1990). Gesprächspsychotherapie (9. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Tausch, R. & Tausch, A. (1991). Erziehungspsychologie (10. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Tausch, R. (1997). Hilfreiche Gespräche im Alltag: Untersuchungen zu einer wesentlichen Coping-Form bei seelischen Schwierigkeiten. In H. Mandl (Hrsg.), 40. Kongreß der Deutschen Gesellschaft f. Psychologie. Göttingen: Hogrefe.
Tab. Gesprächspsychotherapie 1. Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie bei unterschiedlichen Beschwerden.
Tab. Gesprächspsychotherapie 2. Wirkungsprozesse in der Gesprächspsychotherapie (Tausch, 1997).
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