Lexikon der Psychologie: Gesundheitspsychologie
Essay
Gesundheitspsychologie
Ralf Schwarzer
Fragestellungen
Die Gesundheitspsychologie ist eine junge Teildisziplin innerhalb der Psychologie, die sich mit dem menschlichen Erleben und Verhalten angesichts gesundheitlicher Risiken und Beeinträchtigungen befaßt, aber auch mit der Optimierung von Gesundheit im Sinne von Fitneß und Wellness. Die Forschung fragt vor allem danach, wer krank wird (und warum), wer sich von einer Krankheit wieder gut erholt (und warum), und wie man Erkrankungen von vornherein verhütet. Im Unterschied zur Klinischen Psychologie, die sich mit seelischen Störungen und Verhaltensabweichungen befaßt, richten sich die Fragestellungen innerhalb der Gesundheitspsychologie auf körperliche Erkrankungen und Behinderungen sowie auf riskante und präventive Verhaltensweisen.
Die Gesundheitspsychologie ist eine empirisch orientierte Disziplin, die sich dem Theoriebestand der modernen Psychologie sowie einer anspruchsvollen Forschungsmethodik verpflichtet fühlt. Sie wird von einer biopsychosozialen Modellvorstellung geleitet. Dies bedeutet, daß in Abgrenzung zum biomedizinischen Modell den psychischen und sozialen Einflußgrößen sowie deren Wechselwirkungen auf Krankheit und Gesundheit besondere Beachtung geschenkt wird. Am engsten verwandt ist sie mit der Verhaltensmedizin, welche allerdings ein interdisziplinäres Fach darstellt, während die Gesundheitspsychologie als ein Fach innerhalb der Psychologie aufgefaßt wird. Im folgenden werden einige Gegenstände dieses Faches beispielhaft vorgestellt.
Persönlichkeit und Krankheit
Schon in der älteren Psychosomatik ist man der Annahme nachgegangen, daß einige Krankheiten überzufällig häufig mit einem bestimmten Persönlichkeitsprofil einhergehen. Die neuere gesundheitspsychologische Forschung hat eine Reihe wichtiger Befunde beigetragen (Siegrist, 1996). So war man seit den 60er Jahren bei der Ursachenbestimmung des Herzinfarkts dem sogenannten Typ A-Verhalten auf der Spur. Damit bezeichnet man ein Verhaltensmuster, das durch ehrgeiziges Leistungsstreben, Konkurrenzorientierung, Ungeduld, Zeitdruck, Feindseligkeit, Ärger, Aggressivität und explosive Sprechweise gekennzeichnet ist. Tatsächlich hat man in Längsschnittstudien Zusammenhänge dieses Persönlichkeitstyps mit der Auftretenshäufigkeit von Herzinfarkt gefunden. Man schätzte das kardiale Mortalitätsrisiko für den Typ A doppelt so hoch ein wie für den Typ B, der das gegenteilige Verhaltensmuster zeigte. Diese Zusammenhänge konnten jedoch später nicht mehr so deutlich repliziert werden. Nach heutigem Kenntnisstand ist vielmehr anzunehmen, daß einzelne Komponenten dieses Verhaltensmusters die Entstehung des Herzinfarktes begünstigen, insbesondere Feindseligkeit, Ärgerausdruck und zynisches Mißtrauen. Die Suche nach den psychischen Entstehungsbedingungen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen beschränken sich jedoch nicht auf die Isolierung einzelner Risikofaktoren im Verhalten oder in der Persönlichkeit, sondern richtet sich ebenso auf die Mechanismen der Pathogenese, also auf das Zusammenwirken von biologischen, psychischen und sozialen Merkmalen und Prozessen über viele Jahre hinweg.
Auch für die Krebserkrankung hat man vorauslaufende Merkmale der Persönlichkeit identifizieren können (Hennig, 1998). Am ehesten scheinen depressive und anti-emotionale Menschen, die sich von anderen Personen abhängig machen und die zugleich konfliktscheu sind, dafür prädestiniert zu sein. Von manchen Forschern wird die These vertreten, daß die Wechselwirkung (Synergismus) von Risikofaktoren (wie z.B. Krebspersönlichkeit und Rauchen) am ehesten eine Vorhersage der Tumorgenese erlaubt.
Man muß jedoch bei allen Aussagen zur Persönlichkeitsabhängigkeit von Erkrankungen bedenken, daß zahlreiche Einflußgrößen auf den viele Jahre dauernden pathogenen Prozeß einwirken und daß es hier nicht um deterministische Beziehungen, sondern um die statistische Erklärung der Unterschiedlichkeit im Auftreten von Krankheitsmerkmalen in Populationen geht, was Rückschlüsse auf den Einzelfall nicht zuläßt.
Streß und Streßbewältigung
In der Gesundheitspsychologie wird Streß als ein potentiell krankmachender Prozeß angesehen. Streß meint dabei weder einen kritischen Reiz noch die Reaktion darauf, sondern vielmehr einen interaktiven Vorgang, bei dem eine Person angesichts einer kritischen Situation Einschätzungsprozesse (Kognitionen) vornimmt (Krohne, 1997; Schwarzer, 1996). Dabei werden objektive und erlebte Situationsgefahren zu den eigenen Bewältigungsressourcen in Beziehung gesetzt. Aus solchen Kognitionen erwachsen dann emotionale und physiologische Reaktionen sowie Bewältigungsanstrengungen (Coping). Diese Sichtweise ist sehr verschieden von den Streßtheorien, die in Medizin und Naturwissenschaft vorherrschen. Ob jemand aufgrund von Streß krank wird oder nicht, hängt nicht nur von der streßreichen Situation ab, sondern auch von den Ressourcen, von den kognitiven Einschätzungen und von den zum Einsatz gebrachten Copingstrategien und deren Erfolg.
Langanhaltende, schwere Streßepisoden, wie zum Beispiel bei Krankheit und Tod eines geliebten Partners, enthalten somit ein hohes Potential für einen pathogenen Prozeß, der sich in Morbidität und Mortalität niederschlagen kann. Nach einer Verwitwung z.B. ist die Lebenserwartung des verbleibenden Partners statistisch gesehen reduziert. Einer der Mechanismen, die dem zugrundeliegen, ist die Immunsuppression. Wenn der Organismus durch Krisen und Depressionen belastet ist, wird das Immunsystem geschwächt, so daß sich Infektionskrankheiten und Tumorneubildungen häufiger beobachten lassen. Dies ist Gegenstand der Psychoneuroimmunologie (Hennig, 1998), einem wichtigen Zweig der Gesundheitspsychologie.
Ein streßtheoretisches Modell, das die biopsychosoziale Entstehung von Krankheiten verdeutlicht, ist in Abb. 1 dargestellt. Danach wird angenommen (von rechts nach links in der Abb.), daß pathogene physiologische Prozesse sich aus dem Miteinander von Emotionen, Coping und Gesundheitsverhalten ergeben, welches seinerseits vom Ausmaß des psychischen Stresses maßgeblich mitbestimmt wird. Streß schließlich resultiert aus der subjektiven Einschätzung von Anforderungen im Verhältnis zu den eigenen Bewältigungsressourcen.
Protektive Ressourcen
Um die Geschicke des Lebens bewältigen zu können, braucht man Ressourcen, darunter die sozialen und die persönlichen Ressourcen. Zu letzteren zählt man auch die subjektiven Kompetenzerwartungen (Selbstwirksamkeits-Erwartungen). Damit ist die optimistische Überzeugung gemeint, streßreiche Anforderungen aufgrund eigener Fähigkeit und Anstrengung bewältigen zu können. Bei der Krankheitsbewältigung hat sich dieses Persönlichkeitsmerkmal als einflußreich erwiesen. Die Rehabilitation nach Herzinfarkt oder Bypass-Operation z.B. verläuft bei Patienten mit hoher Selbstwirksamkeits-Erwartung günstiger als bei solchen mit niedriger Selbstwirksamkeits-Erwartung. Wer optimistisch an eine gute Genesung glaubt, Pläne schmiedet und wieder aktiv werden möchte, erweist sich in der Tat als erfolgreicher bei der Wiederanpassung an neue Lebensumstände als jemand, der pessimistisch oder ängstlich den Einschränkungen oder Behinderungen entgegensieht, die auf ihn zukommen mögen.
Auch von den sozialen Ressourcen weiß man seit langer Zeit, daß sie den Genesungsverlauf günstig beeinflussen können. Patienten, die gut in ihr soziales Netz eingebettet sind und sich unterstützt fühlen, werden im Durchschnitt schneller gesund als diejenigen, die sich einsam und ungeborgen fühlen (vgl. Schwarzer, 1996).
Gesundheitsverhalten
Ressourcen sind auch für den Aufbau des Gesundheitsverhaltens bedeutsam, weil es sich dabei meist um sehr schwierige Aktivitäten handelt, die viel Selbstdisziplin und mitmenschliche Unterstützung erfordern. Unter Gesundheitsverhalten versteht man eine präventive Lebensweise, die Schäden fernhält, die Fitness fördert und somit auch die Lebenserwartung verlängern kann. Körperliche Aktivität, präventive Ernährung, Kondombenutzung bei neuen Sexualpartnern, Anlegen von Sicherheitsgurten und Zahnpflege sind Beispiele dafür. Risikoverhaltensweisen wie Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum oder rücksichtsloses Autofahren sind das Gegenteil davon. Menschen entwickeln einen Lebensstil, der meist auch riskante Verhaltensweisen einschließt, was als individuelle Anpassungsstrategie an die besondern Lebensumstände verstanden werden kann. Die Gesundheitspsychologie fragt z.B. danach, inwieweit ein Risikoverhalten mit einer Copingstrategie (Coping) gleichzusetzen ist und ob es andere, funktional äquivalente Verhaltensweisen gibt, die es dem Individuum erlauben, das Leben zu bewältigen, ohne dabei die Gesundheit zu schädigen. Die Forschung richtet sich ebenfalls darauf, welche Sozialisationseinflüsse z.B. den Beginn des Rauchens bestimmen und welche Interventionen bei der Entwöhnung vom Rauchen hilfreich sind.
Um die Änderung von schwierigen Verhaltensweisen verstehen und erklären zu können, bedarf es theoretischer Vorstellungen, in denen die Einflußgrößen und Wirkmechanismen abgebildet werden. Dazu hat die Gesundheitspsychologie eine Reihe von Gesundheitsverhaltensmodellen entwickelt (Schwarzer, 1996). So wird heute angenommen, daß Menschen zunächst einen konflikthaften Entscheidungs- und Motivierungsprozeß durchlaufen, der in einer Zielsetzung gipfelt, bevor sie darangehen, das neue oder schwierige Verhalten auszuprobieren. In dieser ersten Phase werden sie von Kognitionen geleitet, vor allem von Ergebniserwartungen und Selbstwirksamkeits-Erwartungen. Wenn sie sich dann ein konkretes Handlungsziel setzen ("Ich will ab übermorgen nicht mehr rauchen"), steigen sie in eine motivational ganz andere Phase ein, in der es zunächst um die Planung und Handlungsinitiative geht und später um die Handlungsausführung, -aufrechterhaltung und -wiederherstellung nach Rückfällen. Auch in dieser Phase erweisen sich personale und soziale Ressourcen als anstoßend und unterstützend. Wer optimistisch an die eigene Kraft zum Durchhalten glaubt oder bei Bedarf sein soziales Netz geschickt zu mobilisieren weiß, vermag sein Leben nachhaltig zu verändern, auch wenn erst Widerstände überwunden werden müssen. Dieses Modell wird in Abb. 2 veranschaulicht.
Gesundheitsförderung
Bei der Gestaltung und Bewertung von Interventionsprogrammen sind die Erkenntnisse der Gesundheitspsychologie von großem Nutzen. Will man effektiv und ökonomisch vorgehen, so muß man zunächst feststellen, in welcher psychischen Phase der Änderungsmotivation sich die Adressaten für ein solches Programm befinden. Wer sich zum Beispiel noch nie darüber Gedanken gemacht hat, das Rauchen aufzugeben, muß ganz anders angesprochen werden als jemand, der es schon mehrfach vergeblich versucht hat. Gleichzeitig müssen die verfügbaren personalen und sozialen Ressourcen ins Kalkül gezogen werden. Es gibt moderne Konzepte davon, wie ein solches maßgeschneidertes Programm aussehen kann. Der Mangel vieler Förderungsansätze liegt darin, daß keine umfassende Prozeßtheorie zugrundeliegt und keine methodisch anspruchsvolle Evaluation stattfindet, die auch die Analyse von differentiellen Effekten und von Nebenwirkungen einschließt (Mittag & Jerusalem, 1997). Für die Zukunft bedarf es hier innovativer Maßnahmen, denn der Primärprävention von Erkrankungen kommt die höchste Bedeutung zu. Dies gilt nicht nur mit dem Ziel der Vermeidung von individuellem Leid, sondern auch im Hinblick auf die volkswirtschaftliche Seite des Problems. Die Gesellschaft kann sich auf Dauer keine technisch perfekte und personell aufwendige kurative Medizin für alle Bürger leisten. Nur durch Vorbeugung läßt sich dem Problem einer immer älter werdenden Bevölkerung, die von Multimorbidität gekennzeichnet ist, entgegentreten. Die Gesundheitspsychologie verfügt über tragfähige Konzepte, mit denen man primärpräventive Gesundheitsprogramme entwickeln kann.
Literatur
Hennig, J. (1998). Psychoneuroimmunologie. Göttingen: Hogrefe.
Mittag, W. & Jerusalem, M. (1997). Evaluation von Präventionsprogrammen. In R. Schwarzer (Hrsg.), Gesundheitspsychologie. Ein Lehrbuch (2. erw. Aufl., S. 595-611). Göttingen: Hogrefe.
Krohne, H. W. (1997). Streß und Streßbewältigung. In R. Schwarzer (Hrsg.), Gesundheitspsychologie. Ein Lehrbuch (2. erw. Aufl., S. 267-283). Göttingen: Hogrefe.
Schwarzer, R. (1996). Psychologie des Gesundheitsverhaltens (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Siegrist, J. (1996). Soziale Krisen und Gesundheit. Göttingen: Hogrefe.
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