Lexikon der Psychologie: Idolenlehre
Idolenlehre, vom Begründer des modernen englischen Empirismus Francis Bacon (1561-1626) begründete Skepsis an der menschlichen Fähigkeit zur vorurteilsfreien Interpretation vorgefundener empirischer Daten – eine bemerkenswerte wissenschafts- und kognitionspsychologische Arbeit, in der er wesentliche Aussagen der Heurismenforschung der 70er und 80er schon vor 380 Jahren vorwegnahm (Heuristiken). Bacon erwartet wissenschaftlichen Fortschritt von einer systematisch geplanten, durch ausführliche Protokolle der Arbeitsschritte zur Replikation herausfordernden experimentellen Forschung: "Alle richtige Interpretation der Natur kommt durch ... geeignete durchführbare Experimente zustande; wo der Sinn nur über das Experiment, das Experiment über die Natur und die Sache selbst entscheidet" (Experiment). Francis Bacon hat seine Idolenlehre in seinem 1620 erschienenen "Novum organum" (Aphorismen 38-68) vorgestellt: Er stellt einige ihm besonders bedeutsame und lästige Hindernisse der Erkenntnis dar, die zur Erneuerung der Wissenschaften zu überwinden sind: "Die Idole und falschen Begriffe, welche vom menschlichen Verstand schon Besitz ergriffen haben und tief in ihm wurzeln, halten den Geist der Menschen ... in Beschlag" (Bacon, 1620/1990, a 38., S. 99). Im Aphorismus 39 präzisiert er diese von ihm als "Idole" bezeichneten Erkenntnishindernisse: "Vier Arten von solchen Idolen halten den menschlichen Geist gefangen (Quatuor sunt genera Idolorum...). Ich habe sie der besseren Darstellung wegen mit Namen versehen; die erste Art soll als Idol des Stammes (Idola Tribus) bezeichnet werden; die zweite als Idol der Höhle (Idola Specus); die dritte als Idol des Marktes (Idola Fori); die vierte als Idol des Theaters (Idola Theatri)" (a 39., S. 101).Bacon erläutert die vier Idole in ihrer typischen Wirkungsweise als Erkenntnishindernisse und Vermittler von Scheinwissen in den Aphorismen 41 bis 44 (Idola Tribus, Idola Specus, Idola Fori, Idola Theatri). Ihm kam der professorale Philosophiebetrieb in der Geschichte und zu seiner Zeit offenbar wie Theater vor; denn er habe zu falschen Urteilen geführt, weil sie an der Schule (er nennt sie auch Sekte) und nicht am Erfordernis der Sache orientiert gewesen seien. Für die Kognitionspsychologie (Kognition) sind die "Idole des Stammes", die "Idola Tribus" von besonderer Bedeutung. Sie können als eine frühe, häufig übersehene Vorwegnahme der modernen Heurismus-Forschung angesehen werden. Bacon erläutert sie in den folgenden Aphorismen.
Aphorismus 45) Der menschliche Geist setzt vermöge seiner Natur leichthin in den Dingen eine größere Ordnung und Gleichförmigkeit voraus, als er darin findet – dies ist das Ordnungsaxiom der Hofstätterschen Intelligenz-Definition ("Intelligenz ist die Befähigung zum Auffinden von Redundanzen"; Hofstätter 1966, S. 241), das wichtigste Bestimmungsstück der "Dummheit 2. Art" und zugleich methodologisches Prinzip der statistischen Entscheidungslogik (H0 unterstellt die strenge Regel: Es gilt der Zufall).
Aphorismus 46) Der menschliche Verstand zieht in das, was einmal sein Wohlgefallen erregt hat, auch alles andere mit hinein, damit es jenes bestätige und mit ihm übereinstimme – dies ist die Tendenz zur Hypothesenkonservierung und zur Bevorzugung positiver Evidenz.
Aphorismus 47) Der menschliche Verstand wird von dem, was den Geist mit einem Male und plötzlich aufpeitscht und erschüttert, am meisten bewegt. Alles übrige aber hat sich ebenso zu verhalten, wie es das wenige tut – Bacon verweist hier auf jene Fehlschlüsse, die zum einen als Varianten des Repräsentativitäts- und Ähnlichkeitsheurismus (Überschätzung der Vorhersagbarkeit sowie die sog. Gültigkeitsillusion), zum anderen als Effekte des Anpassungsheurismus zu Denkfehlern führen.
Aphorismus 49) Der menschliche Verstand ist kein reines Licht. Was nämlich der Mensch lieber für das Wahre hält, das glaubt er eher – diese Vermischung von Wunsch und Wahrheit ist eine wichtige Grundlage des Rosenthal-Effekts (Versuchsleitereffekt).
Aphorismus 50) Aber das bei weitem größte Hindernis und der Anstoß zu Irrungen erwächst dem menschlichen Geist aus seiner Beschränktheit, seiner Unzulänglichkeit und den Fallstricken der Sinne (a stupore et incompetentia et fallaciis sensuum); daher überwiegt das, was den Sinn beeindruckt, dasjenige, was den Sinn nicht unmittelbar erregt, mag es auch das Wesentlichere sein – die Verfügbarkeitsheuristik beschreibt genau diesen Denkfehler, nach dem wir die Welt nach Maßgabe unserer unmittelbaren Erfahrung konstituiert sehen, einschließlich der Konsequenz: "Aus den Augen, aus dem Sinn".
Damit warnte Francis Bacon zugleich vor einer naiven Kenntnisnahme der Natur. Er beschrieb in seiner "Idolenlehre" vor etwa 380 Jahren jene Prinzipien, die Menschen intuitiv anwenden, um Ereignisse kognitiv zu ordnen, Regeln zu entwickeln, um die Welt zu verstehen. Diese Regeln naiver Logik sind nach seiner Einschätzung in der Natur des Menschen begründet und bei allen in ähnlicher Weise wirksam, verleitet aber zu typischen Irrtümern. Aber: Sie erweisen sich in der Mehrzahl aller Fälle als nützlich – eine moderne Interpretation könnte lauten: Sie haben sich evolutionär bewährt, indem sie uns durch Problemverkürzung entscheidungsfähig machen. Sie können im Erkenntnisprozess aber nur dann vermieden werden, wenn wir sie kennen und uns mit geeigneten erkenntnistheoretischen Methoden und Prinzipien gegen sie wappnen.
H.-P.Mu.
Literatur
Bacon, F. (1620/1990). Neues Organon: lateinisch-deutsch. Herausgegeben und mit einer Einleitung von W. Krohn. Hamburg: Meiner.
Hofstätter, P.R. (1966). Zum Begriff der Intelligenz. Psychologische Rundschau, 17, 229-248).
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