Lexikon der Psychologie: Klinische Diagnostik
Klinische Diagnostik, hat als oberste Ziele Informationsgewinnung und Beziehungsaufnahme zum Patienten. Dabei interessieren sowohl aktuelle Ereignisse, die für die Symptomatik bzw. den Klienten wichtig sind, wie auch vergangene Ereignisse aus der lebensgeschichtlichen Entwicklung des Betreffenden (Anamnese), die Symptomatik und nicht zuletzt die Interaktion dieser drei Elemente (Problemanalyse). Außerdem ist der Diagnostiker bestrebt, Informationen zu gewinnen, die für folgende Aspekte wichtig sind:
a) Diagnosenstellung: Mit Hilfe der Diagnose wird die Symptomatik des Patienten erfaßt und einer diagnostischen Kategorie zugeordnet (Identifikation und Definition). Die Hauptaufgabe in diesem Bereich liegt darin, die "Alltagssprache" des Patienten, wenn er über seine Problematik berichtet, in eine "psychologische Fachsprache" zu übersetzen und schließlich die Symptome zu ordnen und zu klassifizieren. Neben den psychischen Auffälligkeiten werden aber auch die "gesunden" Anteile und Ressourcen der betreffenden Person registriert. Die beiden gängigsten Diagnose- und Klassifikationssysteme sind das DSM-IV und die ICD-10.
b) Feststellung der Entstehungsbedingungen: Durch den Versuch, die Entstehungsbedingungen der aktuellen Symptomatik zu eruieren, kommt der Klinischen Diagnostik auch eine erklärende Funktion zu. In diesem Bereich interessieren den Diagnostiker die lebensgeschichtlichen Bedingungen (Erziehungsmilieu und Erziehungsstile, soziale Umgebung, traumatische Ereignisse etc.) des Patienten. Sinn und Zweck dieses Vorgehens ist es nicht, kausale Bedingungen zwischen Ereignissen und Symptomatik herzustellen (obwohl dies auch der Fall sein kann), sondern vielmehr pathogene Entwicklungspfade aufzuzeigen.
c) Prognose: Aufgrund der Diagnosenstellung und den zusätzlich erfragten Informationen aus der Vergangenheit ist es dem Diagnostiker i.d.R. möglich, eine Prognose für den weiteren Verlauf der psychischen Erkrankung zu stellen. Die Prognose ist für den Diagnostiker bzw. für den Therapeuten handlungsleitend. Aufbauend auf dieser kann er sein therapeutisches Vorgehen planen, in dem er es dem Schweregrad der diagnostizierten Störung angleicht und gleichzeitig patientenspezifische Informationen (Temperament, lebensgeschichtliche Erfahrungen, Motivation des Patienten etc.) einbaut.
d) Indikation: Die einfachste und zentrale Frage lautet: "Bei welchem Patienten mit welcher psychischen Störung ist welche Methode durch welchen Therapeuten zu welcher Zielsetzung wirksam?" Ziel der Indikation ist somit die bestmögliche Zuordnung von Patienten zu Therapeuten, in der Hoffnung schnellst- und bestmögliche Behandlungserfolge zu erzielen.
e) Evaluation: Die evaluative Funktion der Diagnostik besteht darin, den Erfolg des therapeutischen Vorgehens zu erfassen. Der Nachweis der Behandlungseffekte dient nicht zuletzt dem Qualitätsmanagement und bekommt aufgrund gesundheitspolitisch-ökonomischer Anforderungen an die moderne Diagnostik und Psychotherapie besondere Evidenz.
Es lassen sich verschiedene Arten von Klinischer Diagnostik unterscheiden:
Status- vs. Prozeßdiagnostik, Norm- vs. Kriteriumsorientierte Diagnostik, Klinisches Interview, Testverfahren, Beobachtung
- Status- vs. Prozeßdiagnostik: Im Kern der Statusdiagnostik steht die Erfassung des aktuellen Zustandes der untersuchten Person, während bei der Prozeßdiagnostik (Verlaufsdiagnostik) der gleiche Patient (oder die gleiche Patientengruppe) an mehreren Zeitpunkten untersucht wird, um mögliche Veränderungen (z.B. aufgrund einer zwischenzeitlich durchgeführten Psychotherapie) zu erfassen. Die Prozeßdiagnostik spielt in der sogenannten Prozeßforschung eine sehr wichtige Rolle, weil dort nicht nur der Vorher-Nachher-Vergleich interessiert, sondern auch das Geschehen während der therapeutischen Intervention.
- Norm- vs. Kriteriumsorientierte Diagnostik: Die normorientierte Diagnostik vergleicht einen Patienten und seine individuelle Position mit einer Gruppe (Norm) und versucht seine relative Position zu dieser zu bestimmen (z.B. wenn das Ergebnis eines Testverfahrens eines Patienten mit dem einer Normstichprobe verglichen werden soll). Die kriteriumsorientierte Diagnostik vergleicht hingegen die Position eines Patienten relativ zu einem vorher festgelegten Kriterium, z.B. wenn der Therapieerfolg (anhand des vorher festgelegten Kriteriums) festgestellt werden soll.
Um die benötigen Informationen zu bekommen bedient sich die Klinische Diagnostik folgender Methoden:
a) Klinisches Interview: In der Interaktion mit dem Patienten kann der Diagnostiker beim klinischen Interview sowohl alle Informationen erfragen, die er zu seiner klinischen Urteilsbidlung benötigt, als auch sich ein eigenes Bild vom ihm machen. Gegebenenfalls können auch sogenannte "Verhaltensproben" erhoben werden, bei denen der Patient gebeten wird, konkrete Episoden aus seinem Problemfeld wiederzugeben, bzw. vorzuspielen.
Beim Interview stehen dem Kliniker zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Er kann nach einem strukturierten Leitfaden vorgehen (im Extremfall die interessierenden Fragen vorlesen: standardisiertes Interview) oder nicht-strukturiert fragen, z.B. aufgrund seiner eigenen klinischen Erfahrung (unstrukturiertes Interview).
b) Testverfahren: Mit Hilfe von Tests werden Informationen über ausgewählte Aspekte des Erlebens und Verhaltens des Patienten erhoben, auf deren Basis dann weiterreichende Informationen erschlossen werden (z.B. sollen die Fragen eines Angstfragebogens einen Rückschluß auf die Ausprägung von Ängstlichkeit bei der untersuchten Person geben). Beispiele klinischer Testverfahren sind: Intelligenz- und Persönlichkeitstests, wie auch Testverfahren zur Erfassung physiologischer und neuropsychologischer Zustände.
c) Beobachtung: Wie beim klinischen Interview kann auch bei der Beobachtungsmethode eine Situation vorgegeben werden (strukturierte Beobachtung), oder es werden keine Vorgaben gemacht und die Patienten werden in ihren natürlichen Bedingungen untersucht (natürliche Beobachtung).
Ma.Mar.
Literatur
Bastine, R. & Tuschen, B. (1996). Klinisch-psychologische Diagnostik. In A. Ehler & K. Hahlweg (Hrsg.), Enzyklopädie der Psychologie. Bd. 1. Grundlagen der Klinischen Psychologie. Göttingen: Hogrefe.
Seidenstücker, G. (1984). Indikation in der Psychotherapie. In L. R. Schmidt (Hrsg.), Lehrbuch der Klinischen Psychologie. Stuttgart: Enke.
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