Lexikon der Psychologie: Körperorientierte Psychotherapie
Körperorientierte Psychotherapie, Sammelbezeichnung für ein Bündel nicht klar abgegrenzter Therapieansätze, die in besonderem Maße körperliche Prozesse, die sich in Verspannungen, Haltung, Bewegung, Atmung, Stimme etc. niederschlagen, ins Zentrum der therapeutischen Arbeit stellen. Am bekanntesten sind die Vegetotherapie von Wilhelm Reich (1897-1957) und die Bioenergetik (bzw. bioenergetische Analyse) seines Schülers Alexander Lowen (*1910).
Reich, der ab 1920 Anhänger Sigmund Freuds war, wurde 1933 nach zunehmenden Differenzen aus der Psychoanalytischen Gesellschaft ausgeschlossen, weil er deren Wendung von der Betonung energetischer Prozesse als Grundlage von Neurosen hin zur Struktur der Psyche nicht mitvollzog, sondern zeitlebens den Schwerpunkt seiner Arbeit auf den Aspekt der Energie legte. Dabei erweiterte er den Rahmen, unter dem er energetische Aspekte erforschte, von sexueller bzw. libidinöser Energie über grundsätzliche Lebensenergie bis hin zur Konzeption einer allgemeinen universellen Energieform, die er "Orgon"-Energie nannte. Reichs naturwissenschaftliche Forschungen um die Orgonenergie waren und sind hoch umstritten, und können hier auch nicht Gegenstand sein.
Im Gegensatz dazu ist sein Werk "Charakteranalyse" (1933) weit über Ansätze der Körperorientierten Psychotherapie hinaus anerkannt. Reich arbeitete dabei erstmals grundlegende Zusammenhänge zwischen psychischen und somatischen Strukturen heraus – zwischen "Charakterstrukturen" und muskulären Verhärtungen oder "Muskelpanzern" – die ein zentrales Fundament für unterschiedliche Entwicklungen der Körperorientierten Psychotherapie bilden. Demnach manifestieren sich Grundkonflikte besonders in frühkindlichen Entwicklungsphasen in einer Weise körperlich so, daß die Panzerung Schutz vor allzu massiven Affekten und Gefühlen und der Abwehr starker Wunschimpulse dient. Auf diese Weise kann sexuelle Lebensenergie gebunden und z.B. auch Wut und Angst gebremst werden. Diese muskulären Verkrampfungen enthalten gleichsam die Geschichte und den Sinn ihrer Entstehung; sie sind die somatischen Korrelate und Verankerungen der neurotischen Konflikte. Die Neurose wird damit zum Ausdruck einer chronischen Störung des vegetativen Gleichgewichts und der natürlichen Beweglichkeit. Wichtig ist, daß psychische und somatische Erscheinungen als unterschiedliche bzw. dialektische Aspekte einer Ganzheit gesehen werden.
Für die genauere Ausdifferenzierung der Charakter- und Muskelpanzer sind nach Reich entscheidend:
a) der Zeitpunkt der Konflikte,
b) damit verbunden: deren Art – nämlich (nach Freud) differenziert nach oralen, analen und genitalen Aspekten,
c) deren Intensität,
d) das Verhältnis zwischen Triebbefriedigung und Frustration,
e) das Ausmaß der Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und
f) die Widersprüche im versagenden Verhalten des Elternteils.
Durch vielfache Wechselwirkung dieser Aspekte kommt es zu dem breiten Spektrum an unterschiedlichen neurotischen Charakterstrukturen. Reich unterscheidet hier folgende sechs Haupttypen:
1) phallisch-narzißtischer Charakter,
2) passiv-femininer Charakter,
3) männlich-aggressiver Charakter,
4) hysterischer Charakter,
5) Zwangscharakter,
6) masochistischer Charakter.
Diese Haupttypen sind um Beschreibungen des schizoiden Charakters und oralen Charakters durch Alexander Lowen ergänzt worden, der auch Reichs Körperarbeit in der sog. Bioenergetischen Analyse erweiterte. In der konkreten Arbeit von Körperorientierter Psychotherapie geht es um die Wahrnehmung der Körperpanzer und die Aufdeckung der biographischen Entstehungsgeschichte mit dem Ziel, die Blockierungen somatischer und psychischer Art aufzulösen. Arbeit am Körper und den psychischen Strukturen gehen somit Hand in Hand.
Zur Körperorientierten Psychotherapie werden darüber hinaus auch Entspannungstechniken, spezifische Massagepraktiken, Übungen zur Verbesserung der Gewahrwerdung und der Funktion von Atmung und Bewegungsabläufen gezählt, die es in großer Zahl gibt. Auch fernöstliche Praktiken und deren konzeptionelle Grundlagen – meist aus unterschiedlichen Yoga-Schulen abgeleitet – finden immer Eingang in die Körperorientierte Psychotherapie.
J.Kr.
Literatur
Boadella, D. (1983). Wilhelm Reich. Frankfurt: Fischer
Kriz, J. (1994). Grundkonzepte der Psychotherapie (4. Aufl.). Weinheim: Beltz/PVU
Petzold, H. (1977). Die neuen Körpertherapien. Paderborn: Junfermann.
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