Lexikon der Psychologie: Meßfehler, systematische
Meßfehler, systematische, Fehler, die Messungen verfälschen.
1) Quantitative Datenerhebung: Systematische Meßfehler können vom Erhebungsinstrument selbst (z.B. von den diese Instrumente benutzenden Personen (Interviewer, Beobachter, Kodierer) und von den zu erforschenden Personen ausgehen. Bei den Erhebungsinstrumenten ist u.a. darauf zu achten, daß sie in ihrem grafischen Layout und der Benutzerführung möglichst übersichtlich gestaltet sind, daß die in ihnen enthaltenen Elemente (z.B. Fragen und Antwortmöglichkeiten in einem Fragebogen, Beobachtungskategorien in einem Beobachtungsbogen oder Kodierschemata in einem inhaltsanalytischen Kodierbuch; Inhaltsanalyse) möglichst eindeutig, allgemeinverständlich und nicht verzerrt (z.B. suggestiv) formuliert sind und sich gegenseitig nicht beeinflussen (”Abfolge”- oder ”Positionseffekte”). Um diese (und noch zahlreiche andere) Qualitätskriterien von standardisierten Erhebungsinstrumenten zu überprüfen, bedürfen sie eines oder auch mehrerer Pretests, bei denen sie zunächst an wenigen Personen ausprobiert werden: erst wenn sich hierbei zeigt, daß die Erhebungsinstrumente einigermaßen "funktionieren", dürfen sie in einer größeren Erhebung eingesetzt werden. Die diese Erhebungsinstrumente handhabenden Personen sollten vor dem ”Feldeinsatz” immer geschult werden (z.B. Interviewer-Schulung). Dabei kommt es insbesondere auf zwei Dinge an: zum einen auf einen sicheren und fehlerfreien Gebrauch des Erhebungsinstrumentes, zum anderen auf eine Regulierung des eigenen Verhaltens in der Erhebungssituation zur Vermeidung von Beeinflussungstendenzen auf die erhobenen Personen – hier wird ein "neutrales" und zugleich "freundliches", die offene Auskunftbereitschaft förderndes Verhalten angestrebt, was nicht immer ganz leicht zu bewerkstelligen sein dürfte. Systematische Meßfehler können schließlich auch auf seiten der zu erforschenden Personen auftreten; auch diese müssen unter Kontrolle gebracht werden. Hier ist besonders ein sozial erwünschtes Antwort- oder beobachtetes Verhalten in Rechnung zu stellen: Personen verhalten sich in einer Befragungs- oder Beobachtungssituation oft nicht so, wie sie sich im Alltag tatsächlich verhalten, sondern so, wie sie meinen sich verhalten zu müssen, um in den Augen des Befragers oder Beobachters "gut da zu stehen"; zumindest aber – etwa bei "heiklen" Fragen im Verlauf eines Interviews oder bei "heiklen" Beobachtungssituationen – vermeintlich nicht allzu sehr "anzuecken". Weitere hier auftretende systematische Meßfehler können etwa bestimmte, vom zu erforschenden Gegenstandsbereich unabhängige personenspezifischeAntwortmuster (”response sets”) darstellen: z.B. eine ”Ja-Sage-” oder ”Nein-Sage-Tendenz”, oder bei skalierten Antwortvorgaben (”nie – selten – manchmal – oft – sehr oft” oder ”trifft überhaupt nicht zu, trifft eher nicht zu, trifft teilweise zu – teilweise nicht zu, trifft eher zu, trifft voll zu”) die Vermeidung – oder umgekehrt – allzu häufige Ankreuzung der Extrem- oder Mittelkategorien. Ein immer wieder zu bedenkendes Problem stellen fehlende Daten (”missing data”) dar. Die Gründe hierfür können recht unterschiedlicher Art sein: bestimmte Fragen oder Beobachtungskategorien passen einfach nicht auf alle erhobenen Personen. So ist es z.B. sinnlos, nichterwerbstätige Personen nach ihrer Erwerbsarbeitszufriedenheit zu fragen: Hier sollten entsprechende Filterfragen dafür sorgen, daß Fragen nur von Personen beantwortet werden, auf die sie zutreffen. Des weiteren werden häufig bestimmte "brenzlige" Fragen eben deswegen einfach nicht beantwortet (”Antwortverweigerung”), oder in Beobachtungssituationen werden ‚anstößige' Verhaltensweisen nicht an den Tag gelegt. Andere Fragen werden nicht beantwortet, weil man über den abgefragten Sachverhalt nicht informiert ist (”Uninformiertheit”) oder dazu keine Meinung hat (”Meinungslosigkeit”). Mitunter kann man sich auch für keine der vorgegebenen Antworten (oder Beobachtungs- oder Kodierkategorien) entscheiden oder ist der Ansicht, daß Vorgaben, die der eigenen Frage- oder Wahrnehmungseinschätzung entsprechen, fehlen. Nicht selten werden ganze Fragen bzw. Antwort-, Beobachtungs- oder Kodierkategorien auch einfach nur übersehen oder vergessen. Fehlende Daten, die in der Psychologie zumeist unvermeidbar sind und daher in Kauf genommen werden müssen, werfen bei der Datenauswertung zahlreiche inhaltliche und formalstatistische Probleme auf.
2) Qualitative Datenerhebung: Die Probleme bei einer qualitativen Datenerhebung sind keineswegs geringer als bei einer quantitativen Datenerhebung. So dürfte z.B. die ”soziale Erwünschtheit” bzw. das sozial erwünschte Antwortverhalten bei qualitativen Erhebungen wie bei quantitativen Erhebungen zu Buche schlagen. Man denke hier nur an teilnehmende Beobachtungen, in denen sich der Beobachter gegenüber den beobachteten Personen als solcher zu erkennen gibt, oder an qualitative Interviews, bei denen "delikate" Themen angesprochen werden. Mitunter dürfte es leichter fallen, verschämt schnell bestimmte Kreuzchen in einem standardisierten Fragebogen zu machen, um dann zu anderen "unproblematischeren" Fragebereichen überzugehen, als sich lang und breit über diese Themen in einem qualitativen Interview auszulassen. Auch die oft behauptete größere Authentizität und Realitätsnähe sind bei qualitativen Erhebungsmethoden keineswegs automatisch gewährleistet, sondern müssen "hart erarbeitet" werden. Überhaupt ist die Rolle des qualitativen Feldforschers in den meisten Fällen mit einer Vielzahl von Unwägbarkeiten verbunden, die selbst bei einer eingehenden Schulung kaum jemals voll in den Griff zu bekommen sind. Obgleich in der Literatur zahlreiche "Fehlverhaltensweisen" von Feldforschern beschrieben worden sind, werden dennoch immer wieder die gleichen Fehler begangen und oft auch eingestanden. Bei qualitativen Interviews können diese Erhebungsfehler z.B. in unsachgemäßen Instruktionen der Interviewten bestehen. So wird bei narrativen Interviews häufig versäumt, die Interviewten gebührend damit vertraut zu machen, daß es darum geht, ihreGeschichte zu erzählen, ohne dabei vom Interviewten unterbrochen zu werden (Schütze, 1978). Bei Leitfadeninterviews besteht – neben den üblichen "Fallen" (Suggestibilität, vorschnelles Gewähren von "Hilfestellungen", nicht-intendierte Beeinflussungen durch unsachgemäßes verbales und nonverbales Verhalten u.ä.m.; Interviews) – häufig die Gefahr, sich im Verlauf eines solchen Interviews (etwa aus Unsicherheit oder der Angst, Fragen zu vergessen oder vermeintlicher Zeitnot) allzu sehr an den im Leitfaden vorgegebenen Themenstellungen (im Wortlaut und in der Frageabfolge) festzuklammern und diese gewissermaßen "bürokratisch abzuhaken" (”Leitfadenbürokratie”), und damit gerade die Chancen der qualitativen Methodologie zu vergeben. Diese Chancen bestehen beispielsweise
– im Aushalten von Schweigephasen, nach denen nicht selten wichtige Äußerungen fallen,
– im Entdecken von Themenstellungen, an die bei der Konstruktion des Leitfadens nicht gedacht worden ist,
– im systematischen Nachbohren bei unergiebigen, oberflächlichen Antworten,
– in der Konfrontation mit Widersprüchen (”sie haben vorher A gesagt, jetzt sagen sie B”),
– im Nachfragen bei unglaubwürdigen Äußerungen, und in vielem anderen mehr (Hopf, 1978).
Bei teilnehmenden Beobachtungen besteht die Gefahr, das gerade bei dieser Methode ausgesprochen problematische Management von Nähe und Distanz nicht hinreichend in den Griff zu bekommen: Zu große Nähe (”going native”) beeinträchtigt die bei dieser Methode unabdingbare reflexive Distanz (man läßt sich von den Beobachteten sozusagen ‚einen Bären aufbinden'). Umgekehrt geht bei zu großer Distanz zu dem beobachteten Geschehen gerade der entscheidende Erkenntnisvorteil dieser Methode, die "psychosoziale Erfahrung am eigenen Leib", verloren. Weitere Probleme: Einstieg ins Beobachtungsfeld, mit der Beobachterrolle verbundene Rollenkonflikte, emotionale Involviertheit, Schwierigkeiten beim Verfassen von Feldnotizen, nicht-bewußtes Einbringen der "eigenen Lebenswelt", nicht-intendierte Beeinflussung des beobachteten Geschehens etc.
H.Gi.
Literatur
Glaser, B. & Strauss, A. (1993). Die Entdeckung gegenstandsbezogener Theorie. Eine Grundstrategie qualitativer Sozialforschung. In Ch. Hopf & E. Weingarten (Hrsg.), Qualitative Sozialforschung. Klett-Cotta. Stuttgart.
Hopf, Ch. (1978). Die Pseudo-Exploration. Überlegungen zur Technik qualitativer Interviews in der Sozialforschung. Zeitschrift für Soziologie, 7, 97-115.
Schütze, F. (1978). Die Technik des narrativen Interviews in Interaktionsfeldstudien – dargestellt an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen. Bielefeld
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