Lexikon der Psychologie: Nazi-Psychologie
Nazi-Psychologie, ein in den USA geprägter Begriff für die deutsche Psychologie im Nationalsozialismus, die versuchte, die nationalsozialistische und rassistische Ideologie in Forschung und Theorie aufzunehmen und zu untermauern. So setzte z.B. E. R. Jaensch die Arbeiten der Vererbungspsychologen und -ideologen G. Pfahler über Typen mit "festen" und "fließenden Gehalten" und unterschiedlichem "Rassecharakter" konsequent fort. Mit seiner Typologie versuchte er, die Überlegenheit der nordischen Rasse "wissenschaftlich" zu legitimieren (Typenlehre von Jaensch). Wenngleich die Psychologie im Nationalsozialismus kaum für Propagandazwecke herangezogen wurde und auch nicht aktiv in Verbrechen verwickelt gewesen zu sein scheint, war es Jaensch und anderen Psychologen dennoch gelungen, eine Brücke zwischen der Wissenschaft Psychologie zur nationalsozialistischen Ideologie und Rassentheorie zu schlagen und die Psychologie geistig an den Nationalsozialismus heranzuführen.
Die Psychologie hat im Nationalsozialismus eine starke Bedeutungsänderung erfahren. Zahlreiche Konzepte wurden zu "neuen Lehren" entwickelt ("Zur neueren Gefühlslehre", Sander, 1937; "Zur neueren Willenslehre", Ach, 1937). Es erfolgte ein starker Rückgang experimenteller Methoden und eine Zunahme spekulativer verschwommener Theoriekonzepte mit entsprechendem Sprachgebrauch, wie z.B. "gefühlsartige Ganzqualitäten". Die Sozialpsychologie wurde zur "Volkswerdungspsychologie" umfunktioniert, Freuds Ödidpuskomplex zum "Familienkomplex" umbenannt. Psychologische Konzepte konnten nur überleben, wenn sie sich in der Legitimation ideologischer Aussagen bewährten. Die Psychologie erfuhr eine "völkische Neuorientierung" und Instrumentalisierung für die herrschende Ideologie. Mehr oder weniger bemerkt von ihren einzelnen Vertretern bestimmte sich die Lebenschance wissenschaftlicher Konzepte einzig und allein aus dem Ausmaß, in dem sie dieser Machtenfaltung dienstbar gemacht werden konnten. Inhalt und Niveau psychologisch-wissenschaftlicher Arbeit hingen nur noch davon ab, ob sie mittelbare oder unmittelbare Hilfsfunktion erfüllen konnte: "Die Psychologie hat sich ganz speziell in den Dienst völkischer Erziehung zu stellen und mit der Pädagogik zusammen an der Erhaltung und Ertüchtigung des deutschen Volkes zu einer Kampfgemeinschaft mitzuwirken." (Kroh, 1939, 44). Ein Bemühen um "Wertfreiheit" und "wissenschaftliche Objektivität" war bei den meisten deutschen Psychologen, vor allem bei den Leipziger Ganzheitspsychologen, nicht mehr feststellbar, als sie sich bemühten, die "Bestimmung des deutschen Volkes" – gleichgeschaltet mit der Nazi-Ideologie –"wissenschaftlich" zu untermauern.
Hitlers "Mein Kampf" galt z.B. bei W. Poppelreuter als "Lehrbuch der politischen Psychologie": Dieses Buch sei für den Psychologen eine Fundgrube neuer Erkenntnisse des politischen Geschehens. Denn der Erfolg der nationalsozialistischen Bewegung müsse für die Psychologen der Beweis der Richtigkeit der Hitlerschen Voraussetzung sein, daß letzten Endes alles politisch Geschehene seelisch bedingt sei. Vor allem die Vertreter der Psychologieverbände glaubten, Partei für den Nationalsozialismus ergreifen zu müssen. Dezidierte Parteinahmen geschahen z.B. ab 1933 regelmäßig auf den Kongressen der deutschen Gesellschaft für Psychologie. In jeder Eröffnungsrede wurde lobend der nationalsozialistischen Führung gedacht, die den Psychologen einen neuen Lebensberuf, v.a. im militärischen Bereich (Wehrmachtspsychologie), eröffnet hatte ( Tabelle 1 ).
Am 1. April 1941 trat die "Diplomprüfungsordnung für Studierende der Psychologie" in Kraft, die in intensiver Zusammenarbeit zwischen O. Kroh, F. Sander und Ph. Lersch als Geschäftsführender Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychologie mit dem Reichswissenschaftsministerium erarbeitet worden war. Sie war durchsetzt mit nationalsozialistischen und rassistischen Elementen ( Tabelle 2 ).
Durch die Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus wurde die deutsche Psychologie einerseits zwar gestärkt, aber in anderer Hinsicht entscheidend geschwächt. Bereits wenige Wochen nach der Machtergreifung im Jahre 1933 wurde das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" erlassen, das die Rechtsbasis dafür schuf, Beamte "nichtarischer Abstammung" und politisch Mißliebige zu entlassen. Das Ergebnis war der Verlust eines enormen fachlichen wie auch moralischen Potentials im Bereich psychologischer Forschung und Wissenschaft durch Emigration (vor allem in die USA) bzw. Beraubung der Arbeitsmöglichkeiten und ideologische Unterdrückung. Betroffen waren z.B. Curt Bondy, Egon Brunswik, Charlotte und Karl Bühler, Heinrich Düker, Fritz Heider, David Katz, Wolfgang Köhler, Paul Lazarsfeld, Kurt Lewin, Otto Selz, Erich Stern, William Stern, Heinz Werner und Max Wertheimer. Fast ausnahmslos emigrierten die Berliner Gestaltpsychologen und insgesamt 14 % aller Psychologen, die 1933 Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychologie waren. Insgesamt betrachtet hat die nationalsozialistische Machtergreifung die deutsche Psychologie an einer konstruktiven Bewältigung der "Aufbaukrise" gehindert, die sich Ende der 20er Jahre abzeichnete (Psychotechnik). Es wurde zwar wieder "Einigkeit" hergestellt, aber anders als es sich z.B. Karl Bühler gewünscht hatte – nicht durch wissenschaftliche Auseinandersetzung, sondern durch politisch motivierte Eingriffe und Instrumentalisierung der Psychologie sowie durch Bevorzugung der Leipziger Ganzheitspsychologie, die der nationalsozialistischen Ideologie entsprach. Nur wenige Nazi-Psychologen, die sich zu deutlich für den Nationalsozialismus profiliert hatten, wie z.B. Gerhard Pfahler, Georg Anschütz und Gert Heinz Fischer (Jaensch war 1940 gestorben), wurden nach 1945 im Zuge der Entnazifizierung nicht wieder in die Hochschulszene aufgenommen. Kritische Stimmen über die Rolle der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, die aus dem Ausland kamen, wurden pauschal zurückgewiesen, da sie den "friedlichen Wiederaufbau" störten.
G.We.
Literatur
Boder, D. P. (1942). Nazi Science. Chicago Jewish Forum, 1, 23-29.
Jaensch, E. R. (1939). Wozu Psychologie? In O. Klemm (Hrsg.), Charakter und Erziehung. Bericht über den 16. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 1938 (S. 7-30). Leipzig: Barth.
Kroh, O. (1941). Ein bedeutsamer Fortschritt in der deutschen Psychologie. Werden und Absicht der neuen Prüfungsordnung. Zeitschrift für Psychologie, 151, S. 1-32.
Krueger, F. (1934). Die Lage der Seelenwissenschaften. In O. Klemm (Hrsg.), Bericht über den 13. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 1933 (S. 9-36). Jena: Fischer.
Wenninger, G. (1989). Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung von Psychologie. München (Unveröff. Habilitationsschrift).
Tabelle Nazi-Psychologie 1: Die Parteinahmen der Deutschen Gesellschaft für Psychologie für den Nationalsozialismus.
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