Lexikon der Psychologie: New Age
Essay
New Age
Michael Schneider
Begriffe und Grundüberzeugungen
New Age steht für Neues Zeitalter und ist eine der wichtigsten – und populärsten – geistigen Strömungen der letzten Jahrzehnte. Eine inflationäre Inanspruchnahme des Themas (z.B. als"life style") macht es gleichzeitig schwer, New Age zu fixieren. Dennoch läßt sich New Age als ein "Patchwork" ständig wiederkehrender Begriffe, Grundüberzeugungen und Aktivitäten definieren: Paradigmenwechsel, Kosmisches Bewußtsein und Transformation, die den zentralen Sinn des New Age markieren. a) Der Grundgedanke des Paradigmenwechsels ist nicht ein mechanistisches, sondern ein systemisches, die Gesamtwirklichkeit vernetzendes Selbst- und Wirklichkeitsverständnis (Capra), d.h. die Trennungen von Geist und Materie, von Mensch und Natur scheinen im Neuen Zeitalter aufgehoben. Anstelle der starren Dualismen setzen die New Age-Autoren organische Synthesen wie den Versuch, die Kluft zwischen Religion und Wissenschaft zu überwinden, oder in die einseitig rationalistische Denkweise des "old age" veränderte Bewußtseinszustände oder paranormale Phänomene (Parapsychologie) einzubeziehen. Erst die Erfahrung der größeren Realität "innerer" oder "geistiger" Welten könne auch zu der Erfahrung führen, daß in jedem realen Phänomen, vor allem aber im eigenen Bewußtsein, das spirituelle Universum zu finden sei. b) Die Erfahrung eigener Ganzheit ist eng gekoppelt an die Vorstellung eines kosmischen Bewußtseins: Der Mensch soll sich wieder als Teil der Natur verstehen, nicht als ihr Beherrscher, und soll sich dabei in kosmische Rhythmen wiedereingliedern. c) Diese kosmische Ganzheitlichkeit steht dem Transformationsgedanken sehr nahe. Transformation bezeichnet zunächst den Prozeß der individuellen Bewußtseinserweiterung. Themen sind dabei: Einbezug von Körperlichkeit und Emotionalität, Suche nach neuer Spiritualität, Wiederentdeckung der weiblichen Identität oder die Neubesinnung auf Erfahrung. Mit der Bewußtseinsentwicklung der einzelnen verbinden sich Hoffnungen auf eine gesellschaftliche Transformation durch die "Verschwörung der Transformierten" (Ferguson) sowie auf eine "Spiritualisierung der ganzen Menschheit" (Russell).
Begründungszusammenhänge
Für das Herannahen des Neuen Zeitalters gibt es sowohl "esoterische" als auch "wissenschaftliche" Quellen. Die "Esoteriker" (z. B. Spangler, Trevelyan) stützen ihre mythisch-enthusiastischen Ankündigungen auf astrologische Quellen (Astrologie). So befinden wir uns derzeit im Übergang vom Fische- zum Wassermannzeitalter, und mit Aquarius wird die Chance zu einer neuen Humanität, einer Transformation der Gesellschaft zu einer höheren Evolutions- und Bewußtseinsstufe der Menschheit verbunden (Spangler). Demgegenüber legitimieren die "wissenschaftlichen" Protagonisten (z. B. Berman, Capra, Ferguson) New Age in einem Begründungszusammenhang enttäuschter Hoffnungen, im Sinne eines Scheiterns etablierter Institutionen und Weltbilder, die die gegenwärtige globale Krise verursacht hätten. Dabei schöpfen die New Age-"Theoretiker" ihrerseits aus der Erosionskrise des materialistischen-mechanistischen Paradigmas, integrieren die Zentralbegriffe der Neuen Wissenschaften und versuchen eine Fusion rationaler Erkenntnisweisen mit mythisch-religiöser Welterklärung. Trotz aller Unterschiede scheint den "esoterischen" und "wissenschaftlichen" Protagonisten allerdings die Grundüberzeugung gemeinsam, daß nur über die "Innenwelt" der Einzelnen Zugang zur größeren Realität zu erhalten sei, nur so können sich zusätzliche individuelle Entwicklungspotentiale und damit neue Einflußmöglichkeit zur Rettung der desolaten äußeren Welt öffnen (Capra).
New Age als Orientierungs- und Sinnangebot
Die erste sozialwissenschaftliche Analyse des New Age im deutschen Sprachraum stammt von Küenzlen. Obwohl er sich ausdrücklich von New Age-Autoren distanziert, gibt es zahlreiche Parallelen zu seinem Ansatz. Als Hintergrundszenarien für den Verbreitungserfolg des New Age gelten bei Küenzlen neben dem "Zerfall des Fortschrittsgedankens" und dem "Bedeutungsverlust der Kulturmacht Wissenschaft" vor allem die "ökologische Krisis" (Umweltpsychologie) und das "Ende der Ideologien". Dies alles habe zu einer "elementaren Orientierungsunsicherheit" geführt, der die "etablierten Kulturbestände religiöser und säkularer Art" nicht mehr adäquat begegnen könnten. Insofern sei New Age Ausdruck einer "vagabundierenden Religiosität", eine säkulare Ersatzform von Religion, die den Nutzern neue "sinnhafte Antworten auf die Unsicherheiten und Fraglichkeiten der modernen Lebenswelt" zu bieten scheint (Gläubigkeit) (Glaube, Religionspsychologie, Lebenssinn).
New Age als moderne Religion
Diese sinnstiftende Funktion rückt auch in den Mittelpunkt der religionssoziologischen Interpretation (Knoblauch, Mörth). Dabei wird New Age verstanden als Fortsetzung längst bekannter struktureller Wandlungsprozesse zu neuen Sozialformen von Religion, deren Kulminationspunkte mit Bezug auf Luckmann und Jorgensen als "unsichtbare Religion" oder "kultisches Milieu" begrifflich faßbar scheinen. Im Gegensatz zu Kirchen und Sekten, die in der Regel eine starke Institutionalisierung und eine strenge Dogmatisierung ihrer Glaubensinhalte ausbilden, seien die neuen Sozialformen von Religion beschreibbar durch schwache Institutionalisierung und "zunehmenden Synkretismus" ihrer Glaubensinhalte. Weitere Kennzeichen seien "Marktorientierung" sowie "Privatisierung" und "Subjektivierung" religiöser Glaubensformen (Glaube, Religionspsychologie, Kultur).
New Age als Modernisierungsphänomen
Weiter als die religionssoziologische Perspektive geht der konstruktionstheoretische Ansatz Stengers. Hier wird (mit Bezug auf Keupp und Beck) die These vertreten, daß die Entwicklung eines "ichzentrierten Weltbildes" eine strukturelle Notwendigkeit des Modernisierungsprozesses ist, weil die Biographie des Menschen zunehmend aus fixierten Sinnbindungen herausgelöst, entscheidungsabhängig und offen ist. Unter dieser Perspektive erscheint New Age als konstruktiver Ansatzpunkt für die Probleme zeitgenössischer Identität: mit der "Übernahme "esoterischer Kontexte" könne das Programm der Selbstentwicklung auch durch Einbezug von Körperlichkeit und Emotionalität vorangetrieben werden. Somit eröffneten sich Verortungsmöglichkeiten und sinnhafte Interpretationen von Wirklichkeit. New Age wird dadurch vom "Sinnkrisen-Reflex" und Sinnersatz zu einer normalen Variante moderner Sinnkonstruktion (Lebenssinn, Sinnerleben).
Die Träger des New Age
Die empirische Forschung zeigt, wie sehr sich New Age auch in der Bundesrepublik durchgesetzt hat. Fast jeder zweite Großstädter kennt New Age nicht nur als Schlagwort, sondern verbindet damit auch sehr konkrete Vorstellungen: 63% der "Kenner" sehen im New Age ein "neues Begreifen von Umwelt und Gesellschaft", die "Abkehr vom mechanistischen Denken" oder "Neue Wissenschaft"; nur 31% assoziieren Okkultismus oder Esoterik. New Age hat sich überwiegend im weiblichen Spektrum unserer Kultur etabliert: Bei den 11% Befürwortern, die im New Age primär "Selbstfindungsprozesse" und "Möglichkeiten einer humaneren Gestaltung der Zukunft" sehen, dominieren mit 61% die Frauen; sie rekrutieren sich hauptsächlich aus qualifizierten Angestelltenberufen, ihr Bezug zu den Amtskirchen ist gering.
New Age als Suchbewegung
Die Antworten zu New Age-Grundüberzeugungen belegen, daß New Age keine homogene, in ihrer Entwicklung abgeschlossene Bewegung ist. New Age fungiert vielmehr als Projektionsfläche unterschiedlichster Wünsche und Vorstellungen, wie Sehnsucht nach neuer Religiosität, Wahrnehmung zusätzlicher individueller Entwicklungspotentiale oder Hoffnung nach (mehr) Autonomie im gesellschaftlichen Handeln. New Age spiegelt im Kontext Religion die Sehnsucht nach einer (Wieder-) Verankerung im Absoluten, die für viele Menschen durch Vermittlung der Kirchen nicht oder kaum mehr darstellbar ist. Entgegen christlicher Vorstellung gilt im New Age Gott als nicht-personales kosmisches Prinzip; der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen sowie seiner Sündhaftigkeit wird entschieden widersprochen; ebenso erscheint religiöse Erleuchtung durch spirituelle Techniken als machbar und unabhängig von göttlicher Gnade. Allerdings gibt es auch zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen Christentum und New Age-Spiritualität, die nicht nur in der mystischen Tradition (Mystik) des Christentums begründet sind, sondern auch in der gemeinsamen Kritik am eindimensionalen Vernunftverständnis oder dem Versuch, die neuzeitliche Trennung von Subjekt und Natur zu überwinden. Insofern ist New Age-Spiritualität nicht Religion im Sinne von "Religionsersatz", sondern eine humane Haltung, die Realität und Transzendenz verbindet und in konkretes Verhalten übersetzt (Schiwy).
Bemerkenswert ist auch die Tatsache, daß es "unbewußt" wesentlich mehr "Sympathisanten" der New Age-Überzeugungen gibt als reflektierte Anhänger: Es gibt Menschen, die derartige Ansichten teilen, ohne jemals von New Age gehört zu haben. Insofern läßt sich der Verbreitungserfolg des New Age als "Veralltäglichung reflexiver Kompetenz" (Stenger) deuten, weil hier offenbar Lösungsformeln angeboten werden, die auf breiteste Akzeptanz stoßen. Vor allem fernöstliche spirituelle Disziplinen haben sich als Konzepte durchgesetzt: Fast jeder zweite Großstädter gibt an, sich für Meditation oder Yoga zu interessieren, und etwa jeder vierte bekundet Interesse am Reinkarnationsgedanken (Reinkarnationstherapie, (buddhistische Psychologie).
New Age läßt sich somit als eine konstruktive, emphatische Suche nach neuen sinnstiftenden Orientierungsmustern auffassen; es ist eine postmaterielle und mittelschichtspezifische Bewegung mit überwiegend individualistischem Charakter: Ihre Träger können es sich weitgehend leisten, auf eine materielle Grundeinstellung zu verzichten. New Age ist aber wenig sozial ausgerichtet, denn die Vernetzungsmöglichkeiten im Dienste einer kollektiven Kraft, wie etwa im Protestpotential der Ökologie-, Friedens- oder Frauenbewegung, wurden noch wenig ausgeschöpft.
Das psychokulturelle New Age
Wenn auch eine konkrete politische Umsetzung des New Age-Denkens bisher schwerlich auszumachen ist, so zeigen sich doch starke Einflüsse auf der Ebene individueller Lebensstile. Hier haben sich neben der Sehnsucht nach Einheit mit der Natur auch vegetarische Eßgewohnheiten oder der Einsatz diverser Duftlampen etabliert. Starken Einfluß übt das New Age auch auf der künstlerischen Ebene aus. So gibt es eine eigene Musikrichtung, die auch als Therapie genutzt wird. Verschiedenste Klangelemente und Stilrichtungen wie monotone Mönchsgesänge, indische Saiteninstrumente oder sphärische Computerklänge werden kombiniert und sollen neben Entspannung auch die spirituelle Entwicklung der Hörer fördern. Bekannt sind in der Malerei vor allem Bilder von Phantasiereisen durch imaginäre Landschaften, die Ganzheitlichkeit oder Frieden symbolisieren sollen (Kultur, Musiktherapie, Ernährungspsychologie).
New Age-Spiritualität und Wirtschaft
Besonders nachgefragt scheinen Managementstrategen, die in ihren Seminaren oder Beratungen New Age-Ansätze der Autonomieförderung, Ganzheitlichkeit oder Selbstorganisation empfehlen. Problematisch ist dabei die Diskrepanz zwischen dem vorgestellten Ziel, neue Formen der Ökonomie zu etablieren, und den Methoden, die aber an Effizienzsteigerung und Gewinnmaximierung festhalten. Problematisch sind sicherlich auch diejenigen Ansätze, die eine Spiritualisierung ökonomischer oder politischer Mißstände zum Ziel haben, die beispielsweise Armut oder Arbeitslosigkeit als Folgen eines falschen Bewußtseins interpretieren.
Literatur
Berman, M. (1983). Wiederverzauberung der Welt. München.
Capra, F. (1988). Wendezeit. München.
Ferguson, M. (1987). Die sanfte Verschwörung. München.
Knoblauch, H. (1989). Das unsichtbare Neue Zeitalter. Kölner Zeitschrft für Soziologie u. Sozialpsychologie, Jg. 41, S. 504-525;
Küenzlen, G. (1987). Das Unbehagen an der Moderne. In H. Hemminger (Hrsg.), Die Rückkehr der Zauberer (S. 187-222).Reinbek.
Schneider, M. (1991). New Age. München.
Stenger, H. (1993). Die soziale Konstruktion okkulter Wirklichkeit. Opladen.
Schorsch, Ch. (1988). Die New-Age-Bewegung: Utopie und Mythos der Neuen Zeit. Gütersloh.
Schiwy, G. (1987). Der Geist des Neuen Zeitalters. München.
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