Lexikon der Psychologie: politische Sozialisation
politische Sozialisation, zentrale Entwicklungsaufgabe, die in traditionsorientierten Gesellschaften mit der Übernahme affektiver Bindungen an Nation, Regierung und Parteien von den Eltern beginnt, im Grundschulalter mit einfachen und konkreten Vorstellungen über die Heimat, über Krieg und Frieden, über gesellschaftliche Institutionen wie Polizei und Gericht fortgeführt wird, zentral aber erst im Jugendalter bearbeitet wird. Erst jetzt werden politische Themen verstärkt beachtet:
– Die kognitive Entwicklung ermöglicht abstraktes und hypothetisches Denken und fördert dadurch das Verständnis für komplexere politische Prozesse und Systeme.
– Die moralische Entwicklung führt zu einer stärkeren Beachtung gesellschaftlicher Normen und der ihnen zugrunde liegenden Prinzipien.
– Politik ist ein möglicher Bereich der Identitätsentwicklung, vor allem in Gesellschaften mit einem hohen Politisierungsgrad.
– Über die Schule, Jugendgruppen und Verbände, Gleichaltrige und Medien werden Jugendliche mit politischen Themen und Anforderungen konfrontiert.
– Die Strafmündigkeit und das herannahende Wahlalter lenken die Aufmerksamkeit auf das Rechts- und Gesellschaftssystem.
Je nach inneren und äußeren Entwicklungsbedingungen sind die Resultate der politischen Sozialisation sehr unterschiedlich: 1) Verbleiben im Desinteresse an Politik; 2) unreflektierte Übernahme politischer Positionen von den Eltern und Anpassung an gesellschaftliche Vorgaben; 3) politische Partizipation mit dem Anspruch auf Mitbestimmung und Mitgestaltung; 4) Extremismus als verbal-radikale oder auch gewaltbereite revolutionäre Ablehnung der politischen Verhältnisse; 5) Politikverdrossenheit als resignativer Rückzug aus der Politik.
Das traditionelle, anpassungsorientierte “Transmissionsmodell” versteht unter politischer Sozialisation eine möglichst nahtlose Übertragung von Werten, Normen und Loyalität von einer Generation auf die nächste. Das “Emanzipationsmodell” politischen Lernens dagegen zielt auf politische Mündigkeit und fordert bevorzugt die Entwicklung und Förderung von Kritik- und Partizipationsfähigkeit,Selbstbestimmung statt Anpassung, aktives politisches Lernen statt passiven Sozialisiertwerdens, Lernen von Möglichkeiten statt Vermittlung von Normen. Wie aus unterschiedlichen Betrachtungsebenen und Erklärungsansätzen hervorgeht, ist politische Sozialisation von vielfältigen Einflußfaktoren und Hintergrundbedingungen abhängig. Keiner dieser Erklärungsansätze ist für sich allein ausreichend. Eine Integration und eine systemtheoretische Perspektivenerweiterung, nicht nur ein multi-disziplinäres Nebeneinander verschiedener Erklärungsebenen erscheinen angezeigt.
1) Soziobiologische Perspektive: Es wurde beispielsweise postuliert, daß ein biologisch vorgegebener Aggressionstrieb Ursache politischer Gewalt sei, daß politischen Zielen und Handlungen natürliche Grundbedürfnisse zugrundliegen (Soziobiologie).
2) Entwicklungspsychologische und sozial-kognitive Perspektive: Die Entwicklung politischer Haltungen wird im Zusammenhang mit der kognitiven und moralischen Entwicklung betrachtet (Entwicklungspsychologie).
3) Sozialisationsperspektive: Es werden u.a. Eltern-Kind-Interaktionen, Sozialisierung durch Medien (Medienpsychologie), politische Bildung sowie "Schlüsselerlebnisse" als potentielle Bedingungen oder Auslöser für konstruktives oder destruktives Engagement analysiert.
4) Persönlichkeits- und motivationspsychologische Perspektive: Es wird gefragt, welche Persönlichkeitsmerkmale oder individuellen Motive bestimmte politische Einstellungen oder Verhaltensweisen begünstigen. So unterschiedliche Merkmale wie Minderwertigkeitsgefühl und extremes Machtstreben (Macht), Suche nach Geborgenheit und Wunsch nach Selbstbestimmung, Undifferenziertheit und Nonkonformität werden beispielsweise als Korrelate extremistischer Haltungen und Handlungen gefunden.
5) Handlungstheoretische Perspektive: Politisches Verhalten wird als rationales, zielorientiertes Handeln betrachtet. Dabei spielen subjektive Beurteilungen und Erwartungen der Handelnden eine wichtige Rolle, insbesondere Einschätzungen der eigenen Kompetenzen und Einflußmöglichkeiten (Handlung).
6) Politisch-gesellschaftliche Perspektive: Ob sich jemand engagiert, hängt von den angebotenen Möglichkeiten der Mitbestimmung und Einflußnahme ab. Politikverdrossenheit kann die Folge von Einflußlosigkeit, von Skandalen, von wahrgenommener Unfähigkeit der Politik zur Problemlösung sein. Extremistische Haltungen gelten auch als Folge gesellschaftlicher Fehlentwicklungen, beispielsweise in Situationen wahrgenommener Repression, fehlender Zukunftschancen usw.
7) Sozialpsychologische und sozialstrukturelle Perspektive: Gruppenerfahrungen und Vorbilder wirken beispielsweise auf Solidarität, Konformität, Vorurteile und kollektive Gewalt. Die Position in der Gesellschaft, z.B. als Mitglied einer unterdrückten Minderheit, wird als Bedingung extremistischer Entwicklungen postuliert. Weiterhin erweisen sich Bildung, Art der Berufstätigkeit oder Arbeitslosigkeit als bedeutsame Einflußfaktoren.
8) Psychopathologische Perspektive:Politischer Extremismus wird als pathologischer Prozeß interpretiert, beispielsweise als Ausdruck von Entwicklungsdefiziten oder unbewältigten familiären Konflikten (Psychopathologie).
9) Kriminologische Perspektive: Kriminalistische Überlegungen zur Aufklärung und Vorbeugung von politischen Straftaten stehen im Vordergrund. Eine zurückhaltende Verfolgungs- und Verurteilungspraxis wird beispielsweise als potentielle Ermutigung von Gewalttätern angesehen. Einer "harten Linie" wird dagegen unterstellt, daß sie die Rückkehr in die Legalität verhindere und Solidarisierungen auslöse.
10) Politisches Handeln als komplexes Systemgeschehen: Politisches Handeln und politische Sozialisation sind nur in einer interaktiven Perspektive zu verstehen.
Si.Pr.
Literatur
Preiser, S. (1994). Überzeugungen und Einstellungen: Weltanschauliche, religiöse und politische Glaubenssysteme. In K. A. Schneewind (Hrsg.), Psychologie der Erziehung und Sozialisation. Pädagogische Psychologie. Enzyklopädie der Psychologie (S. 345-373). Göttingen: Hogrefe.
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