Lexikon der Psychologie: Pränatale und Perinatale Psychologie
Essay
Pränatale und Perinatale Psychologie
Horst Nickel
Entwicklung und Stand der Disziplin
Das menschliche Leben vor und unmittelbar nach der Geburt wurde erst in den letzten Jahrzehnten von der Psychologie als Forschungsgegenstand entdeckt. Zwar wiesen bereits seit der Mitte dieses Jahrhunderts verschiedene Autoren darauf hin, daß aus biologischer bzw. physiologischer Sicht zwischen pränataler und postnataler Entwicklung deutliche Zusammenhänge bestehen und daß die Geburt keineswegs einen Neubeginn darstellt, doch wurde das Neugeborene weiterhin in erster Linie hinsichtlich seines körperlichen Reifungsstandes betrachtet. Das änderte sich erst mit dem Konzept vom kompetenten Säugling und schließlich auch vom kompetenten Neugeborenen (Neugeborene); demzufolge beide nicht nur über die wichtigsten basalen psychischen Funktionen verfügen, sondern auch die eigene Entwicklung aktiv mitgestalten. Schließlich konnten in letzter Zeit ähnliche Annahmen bereits für das ungeborene Kind elaboriert werden. Allerdings waren daran vorwiegend medizinische Fachdisziplinen sowie die Psychoanalyse beteiligt. In der empirischen Psychologie wurden diese Befunde lange Zeit wenig beachtet oder sehr kontrovers diskutiert (Schindler, 1987; Nickel, 1995). Im Verlauf des letzten Jahrzehnts hat sich jedoch die Pränatale und Perinatale Psychologie als eigenständige Teildisziplin der Psychologie etabliert. Sie steht allerdings weiterhin in enger Kooperation mit einschlägigen medizinischen Disziplinen, und zwar sowohl in der Grundlagenforschung als auch bei der praktischen Anwendung ihrer Ergebnisse in Schwangerschaft und Geburt (Fedor-Freybergh & Vogel, 1988). Dies ist sowohl sachlich als auch historisch begründet. Sachlich erfordert allein schon die Tatsache, daß die Anfänge menschlichen Verhaltens zuerst in physiologischen, besonders neurologischen Prozessen sichtbar werden, und in dieser frühen Zeit nicht exakt zwischen physischen und psychischen Vorgängen unterschieden werden kann, eine solche Zusammenarbeit. In praktischer Hinsicht erleichtern Gynäkologen, Kinderärzte und auch Hebammen nicht nur den Zugang zu Ungeborenen und Neugeborenen, sondern sie sind auch wichtige Mediatoren zur Umsetzung von entsprechenden Erkenntnissen in geeignete praktische Maßnahmen. Eine formale Institutionalisierung fand diese Zusammenarbeit von Psychologen und Medizinern in der 1986 gegründeten "International Society for Prenatal and Perinatal Psychology and Medicine (ISPPM)", die aus der ursprünglich psychoanalytisch orientierten Internationalen Studiengemeinschaft für Pränatale Psychologie hervorging. Damit ist zugleich auch auf die beiden wichtigsten Vorläufer dieser jüngsten psychologischen Teildisziplin verwiesen.
Forschung
Die ersten systematischen Untersuchungen zur Entwicklung von Embryo und Fetus erfolgten in den siebziger Jahren aus Sicht einer pränatalen Anatomie und Physiologie und sind in Deutschland vor allem mit Namen wie Blechschmidt und Prechtl verbunden. Auf dieser Grundlage konnten im Verlauf der 80er Jahre detaillierte Kenntnisse der pränatalen Funktionsreifung sowie der darauf basierenden Entwicklung des sensorischen und motorischen Verhaltensrepertoires in den verschiedenen Entwicklungsstadien gewonnen werden, die das bisherige Bild vom Ungeborenen radikal veränderten und die o.a. Annahme vom aktiven und kompetenten Neugeborenen bereits für die vorgeburtliche Zeit bestätigten. So treten erste unterscheidbare Bewegungsmuster schon um die 8. Woche nach der Konzeption auf, die in der Folgezeit in regelrechte Aktivitätsschübe übergehen und zyklenartig mit Ruhepausen alternieren. In sensorischer Hinsicht lassen sich bereits um die fünfte Schwangerschaftswoche erste Reaktionen in der Mundregion registrieren, und etwa von der 33. Woche an beginnt ein aktives Hören, das in der Folgezeit dem Ungeborenen auch das Mithören des extrauterinen Geschehens ermöglicht.
An der Nahtstelle von Psychologie, Physiologie bzw. Neurologie besitzt die Psychneuroendokrinologie eine große Bedeutung zur Erforschung der pränatalen Entwicklung. Sie konnte inzwischen insbesondere vielfältige Wechselbeziehungen zwischen Mutter und Kind während der verschiedenen Stadien der Schwangerschaft aufdecken. Das bezieht sich sowohl auf eine positive frühe emotionale Beziehung als auch auf die Auswirkungen zahlreicher pränataler Risikofaktoren, wie z.B. Ernährungs- und Suchtgewohnheiten der Mutter, Nikotin und Alkoholkonsum oder bestimmte körperliche Aktivitäten (Nickel, 1995). Sehr viel weiter zurück als die medizinischen reichen die psychoanalytischen Vorläufer. Bereits im Jahre 1913 unternahm der ungarische Psychoanalytiker Ferenczi den Versuch einer systematischen Darstellung der pränatalen Entwicklung, und 10 Jahre später postulierte Rank, wie Ferenczi ein Freudschüler, die Annahme, daß im Geburtstrauma (Geburtserlebnis) die Ursachen der meisten späteren psychischen Störungen zu suchen sind. Beide gingen bereits von einer Kontinuität des menschlichen Lebenslaufs unter Einbezug der prä-, peri- und postnatalen Entwicklung aus, ein Konzept, das erst in den siebziger Jahren wieder von Graber aufgegriffen wurde (Schindler, 1987). Darauf basiert bis heute das Bemühen, in der Psychoanalyse psychische Inhalte aus dieser ersten Lebenszeit wieder zu aktualisieren und über ihre therapeutische Verarbeitung entsprechende Störungen zu heilen. So wurden in den beiden letzten Jahrzehnten zahlreiche Beispiele pränataler und perinataler Erinnerungsinhalte sowie affektiver Prozesse eruiert und zu einem Gesamtbild des seelischen Erlebens für diese Zeit zusammengefaßt. Gleichzeitig wurden auch vielfältige Möglichkeiten prophylaktischer Unterstützung und therapeutischer Hilfen erarbeitet (Janus & Haibach, 1997). Allerdings entziehen sich diese Ansätze vielfach noch einer objektiven empirischen Kontrolle und bewegen sich eher auf der Ebene subjektiver Evidenz bzw. bestenfalls auf der einer indirekten Bestätigung.
Die empirische Psychologie fand demgegenüber lange Zeit nur sporadisches Interesse an diesem frühen Lebensabschnitt. Dafür spielte zwar auch der Umstand eine Rolle, daß verschiedene Annahmen der Psychoanalyse über ein "vorgeburtliches Seelenleben" den ganzen Forschungsbereich als einer empirischen Untersuchung unzugänglich erscheinen ließen, vor allem aber waren es die Schwierigkeiten, die einer exakten experimentellen Analyse solcher Prozesse entgegenstanden, insbesondere die Tatsache, daß pränatales Verhalten nicht direkt beobachtbar war. So beschränkten sich die Untersuchungen entweder auf Frühgeburten (Frühgeborene) bzw. Aborten, die aber keineswegs einen lebendigen gleichaltrigen Fetus repräsentieren können, oder man mußte einen indirekten Zugang zum Ungeborenen über die Mutter suchen. Auf diese Weise konnten in einigen einfallsreichen experimentellen Anordnungen durchaus wichtige psychische Verhaltensleistungen von Ungeborenen aufgedeckt werden. So gelang es z.B. bereits in den vierziger Jahren, mittels verschiedener Töne und Vibrationen, die am Bauch der Mutter appliziert wurden, bei Ungeborenen eine klassische Konditionierung auszulösen, einschließlich späterer Löschung und spontaner Wiederverstärkung. Damit war sowohl die Lernfähigkeit nachgewiesen als auch die Verfügbarkeit der dafür erforderlichen sensorischen Funktionen. In einem Experiment aus neuerer Zeit wurde ein hochsensibles Spezialmikrophon bei der werdenden Mutter eingeführt, um damit die akustische Wahrnehmungswelt des Ungeborenen zu erfassen und experimentell zu variieren. Beobachtungen der Verhaltensreaktionen auf verschiedene akustische Signale nach der Geburt wiesen darauf hin, daß die pränatal dargebotenen Reize wiedererkannt werden konnten, also bereits ein entsprechendes Gedächtnis verfügbar sein muß.
Pränatale Diagnostik
Völlig neue Möglichkeiten eröffneten sich einer empirischen Pränatalen Psychologie durch die Entwicklung der Ultraschall-Techniken "Echtzeit-Darstellung" sowie "Doppler-Sonographie" und ihre regelmäßige Anwendung in der pränatalen Diagnostik im Rahmen allgemeiner Vorsorgeuntersuchungen. Dabei erweist sich ein Zusammenwirken von Psychologen und Gynäkologen im Sinne des o.a. interdisziplinären Vorgehens nicht nur als notwendig, sondern auch inhaltlich als sinnvoll, wie folgendes Experiment verdeutlichen mag: In einer Ultraschall-Untersuchung wurden die Körper- und Augenbewegungen von Feten über zwei Stunden aufgezeichnet, während man gleichzeitig die Gefühle der Mütter durch einen Film beeinflußte. Es ergab sich ein hoher Zusammenhang zwischen dem erhobenen Angstniveau der Mütter und dem Ausmaß motorischer Aktivitäten ihrer Kinder. Durch gleichzeitige Messung des Cortisonspiegels der Mütter konnte nachgewiesen werden, daß diese gesteigerten Aktivitäten nicht durch hormonale Vorgänge ausgelöst wurden, sondern davon unabhängig erfolgten.
Emotionale Wechselbeziehungen
Den emotionalen Wechselbeziehungen zwischen Eltern und ihren ungeborenen bzw. neugeborenen Kindern gelten in letzter Zeit zahlreiche Forschungsprojekte. Sie beziehen sich besonders die Bedeutung eines pränatalen und perinatalen Bondings, wie man eine enge Eltern-Kind-Bindung während dieser Zeit bezeichnet, im Unterschied zum späteren Attachment. Erstes weltweites Aufsehen hatten auf diesem Gebiet bereits in den achtziger Jahren die amerikanischen Forscher Klaus und Kennell mit Befunden erregt, nach denen ein direkter Kontakt von Neugeborenen und Müttern unmittelbar nach der Geburt nicht nur den Aufbau einer engen Bindung wesentlich begünstigen, sondern auch die weitere Entwicklung positiv beeinflussen soll. Sie vermuteten, daß bei Müttern im Postpartum eine entsprechende hormonell gesteuerte Bereitschaft besteht, die sie für eine solche Beziehungsaufnahme besonders sensibilisiert. Schließlich wurden auch die Väter in diese Beziehung einbezogen, bei denen vor allem das Geburtserlebnis als auslösender Faktor eine wichtige Rolle spielen soll. Spätere experimentelle Überprüfungen konnten in einigen Bereichen tatsächlich einen Entwicklungsvorsprung von Erstkontaktkindern bestätigen, z.B. vermehrte aktive Selbstberuhigung und größeres Interesse an ihrer Umwelt; ihre Eltern zeigten im Umgang mit dem Baby eine größere Sensibilität und Herzlichkeit.
Praktische Konsequenzen
Praktische Konsequenzen aus solchen Befunden führten vielfach zu einer Umgestaltung von Geburtsstationen im Sinne eines sog. Rooming in, das den Eltern weitgehenden Kontakt mit dem Neugeborenen während des Klinikaufenthalts ermöglicht. Es ließ sich auch eine wachsende Teilnahme von Vätern an der Geburt beobachten (z.Zt. 80 bis 90%), ferner eine kritischere Einstellung werdender Eltern zur Geburtsmethode sowie eine Wiederbelebung von Hausgeburten. Spätere Untersuchungen zeigten, daß der Aufbau einer emotionalen Eltern-Kind-Beziehung nicht erst mit der Geburt beginnt, sondern durchaus schon in der Pränatalzeit möglich ist, und zwar durch beide Elternteile, auch wenn Väter zunächst nur einen indirekten Kontakt zu Ungeborenen aufnehmen können, z.B. über den Bauch der Mutter; spätesten in den letzten Schwangerschaftsmonaten hört und erkennt dann das Kind auch die Stimme des Vaters. Alle diese Befunde trugen u.a. wesentlich dazu bei, die Akzeptanz ökologisch-systemischer Konzepte auch in der Pränatalen Psychologie zu fördern. Einige Autoren bezeichnen die Situation des Kindes im Uterus geradezu als den Prototyp einer ökologischen Nische. Darüber hinaus bieten gerade die ökosystemischen Konzepte einen angemessenen theoretischen Bezugsrahmen für ein interdisziplinäres Vorgehen (Nickel, 1993). Im Zentrum dieser Theorie steht zum einen die Annahme eines engen Wechselwirkungsprozesses zwischen Individuum und Umwelt (Konzept der Transaktion). Zum anderen geht sie von einer dezentrierten Perspektive aus, die sich nicht mehr nur auf das Ungeborene bzw. Neugeborene als Entwicklungsträger richtet, sondern auch auf seine Entwicklungspartner, hier besonders die Eltern; weiterhin bezieht sie auch alle Bedeutungsträger der Umwelt und die jeweiligen kulturellen Gegebenheiten ein. Der Fokus kann dabei zwischen Entwicklungsträgern und Entwicklungspartnern, z.B. zwischen Kind und Eltern, oszillieren (Nickel, 1993). Damit wandelte sich die Pränatale und Perinatale Psychologie von einem bloßen Teilaspekt einer Lebenslangen Entwicklungspsychologie zu einer eigenständigen Disziplin, die das Erleben und Verhalten der Eltern ebenso berücksichtigt wie das des Kindes, und zwar in enger Kooperation mit entsprechenden medizinischen sowie sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen (Nickel, 1993,1995).
Aktuelle Aufgabenfelder
Unter dieser Perspektive lassen sich gegenwärtig folgende aktuelle Aufgabenfelder der Pränatalen und Perinatalen Psychologie skizzieren (Fedor-Freybergh & Vogel, 1988; Janus & Haibach, 1997): 1) Erforschung der psychophysischen Entwicklung des ungeborenen und neugeborenen Kindes einschließlich der psychologischen Betreuung von Frühgeborenen. 2) Analyse des Elternverhaltens sowie der Eltern-Kind-Beziehung vor, während und nach der Geburt und ggf. unterstützende psychologische Interventionen, z.B. Förderung der Elternidentität, psychologische Vorbereitung auf Geburt und Kind, Unterstützung des Bindungsprozesses, psychologische Betreuung bei Risikoschwangerschaften bzw. Risikogeburten. 3) Elternberatung und psychotherapeutische Intervention in kritischen Situationen, z.B. vor und nach Schwangerschaftsabbrüchen, bei Geburtstraumata oder bei Fehlgeburten. 4) Analyse der sozial-kulturellen Aspekte von Schwangerschaft und Geburt und ihre Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes und das Verhalten der Eltern (einschließlich ethischer Konsequenzen). Wie diese Aufgabenbereiche verdeutlichen, versteht sich die Pränatale und Perinatale Psychologie nicht nur als eine interdisziplinär arbeitende psychologische Disziplin, sondern sie bemüht sich auch um eine enge Verbindung von Grundlagenforschung und praxisbezogener, angewandter Wissenschaft.
Literatur
Fedor-Freybergh, F. & Vogel, V. (Eds.).(1988). Prenatal and Perinatal Psychology and Medicine. Lancs & Park Ridge: The Parthenon Publishing Group.
Janus, L & Haibach, S. (Hrsg.).( 1997). Seelisches Leben vor und während der Geburt. Neu-Isenburg: LinguaMed Verlag.
Nickel, H. (1993). Pränatale und perinatale Entwicklungsforschung auf der Grundlage ökologisch-systemischer Entwicklungstheorien. In Nickel, H. (Hrsg.), Psychologie der Entwicklung und Erziehung. Pfaffenweiler: Centaurus-Verlagsgesellschaft.
Nickel, H. (1995). Pränatale Psychologie aus ökologischer Perspektive: Plädoyer für ein noch immer vernachlässigtes Gebiet der Entwicklungspsychologie. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 42, 77-81.
Schindler, S. (1987). Das Bild vom Ungeborenen. Zum Konzept einer Entwicklungspsychologie der Pränatalzeit. In P.Fedor-Freybergh (Hrsg.), Pränatale und Perinatale Psychologie und Medizin. Älvsjö: Saphir Verlag.
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