Lexikon der Psychologie: Säuglingsforschung
Essay
Säuglingsforschung
Sabina Pauen
Unser Bild vom Säugling und Kleinkind hat sich in den letzten 50 Jahren drastisch gewandelt. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtete man Neugeborene als “tabula rasa.” Man vermutete, daß ihre Wahrnehmungsfähigkeit deutlich eingeschränkt und ihr Verhalten primär reflex- und triebgesteuert sei. Heute wissen wir, daß die Wahrnehmungs- und Lernfähigkeit von Säuglingen unterschätzt wurde. Die Vorstellung vom “dummen Vierteljahr” ist der Vorstellung vom kompetenten Säugling gewichen. Maßgeblich dazu haben neue experimentalpsychologische Methoden beigetragen (Säuglingsforschungs-Methoden).
Wichtige Ergebnisse
Motorik: Erkenntnisse über die motorische Entwicklung stammen größtenteils aus Verhaltensbeobachtungen. Ultraschallaufnahmen belegen, daß Föten erste Spontanbewegungen ab der 8. Schwangerschaftswoche zeigen. In der 10. Woche wurden bereits 20 verschiedene Bewegungsmuster registriert. Ab dem 5. Monat treten auch mimische Reaktionen auf. Als Neugeborenes verfügt das Kind dann nicht nur über ein umfangreiches Repertoire an Reflexen, sondern es versucht auch schon, gezielt bestimmte Bewegungen durchzuführen (z.B. mit den Ärmchen rudern, um ein hängendes Spielzeug anzustoßen). Aus diesen zunächst noch unbeholfenen Bewegungen entstehen innerhalb der ersten Lebensmonate gezielte Greifbewegungen. Die Feinmotorik der Hand wird etwas später geschult und entwickelt sich vom einfachen Zupacken mit der ganzen Hand, das als Reflex schon bei Neugeborenen beobachtet werden kann, hin zum gezielten Pinzettengriff (ab ca. 9 Monaten). In bezug auf die Fortbewegung im Raum ist das erste Lebensjahr ebenfalls entscheidend: Hier schult das Kind als erstes seine Kompetenzen im Abstützen von einer Unterlage, lernt anschließend das Drehen des Körpers im Liegen, den Vierfüßlerstand, das freie Sitzen, das Hochziehen an Möbeln, bis es schließlich seine ersten freien Schritte macht, die frühestens mit 8 Monaten und selten später als mit 14 Monaten beobachtet werden. Die zunehmende Mobilität des Kindes verändert auch seine Möglichkeiten, die Umwelt zu erkunden (Cole & Cole, 1996).
Wahrnehmung: Dachte man noch Anfang der fünfziger Jahre, ein Neugeborenes könne keinen Schmerz empfinden, so weiß man heute, daß der Schmerzsinn schon lange vor der Geburt ausgebildet ist. Bereits ab dem dritten Schwangerschaftsmonat reagieren Föten empfindlich auf Berührungsreize am Mund. Nicht viel später verfügen sie über eine differenzierte Geruchs- und Geschmackswahrnehmung. So kann man bei Neugeborenen feststellen, daß sie den Geschmack süßer gegenüber saurer Flüssigkeiten bevorzugen. Auch scheinen sie den Geruch des eigenen Fruchtwassers oder des Schweißes der eigenen Mutter gegenüber dem Geruch von fremdem Fruchtwasser bzw. Schweiß zu präferieren.
Die Hörfähigkeiten sind zum Zeitpunkt der Geburt ebenfalls gut entwickelt. Säuglinge interessieren sich für Geräusche und Musik, besonders aber für die menschliche Sprache. Im allgemeinen bevorzugen sie stark modulierte Stimmen in mittlerer und höherer Tonlage. Sie registrieren selbst subtile Unterschiede zwischen einzelnen Sprachlauten (z.B. “ba” und “pa”) und sind damit optimal auf das Lernen ihrer Muttersprache vorbereitet (Sprachentwicklung). Auch die Koordination von Sehen und Hören ist bereits vorgebahnt. Wenn das Neugeborene ein Geräusch hört, dreht es seinen Kopf automatisch in die Richtung der Schallquelle (Schall).
In bezug auf das Sehen sind seine Kompetenzen noch nicht ganz so weit entfaltet. Zwar folgen Neugeborene mit den Augen einem Gegenstand, der vor ihren Augen vorbeigeführt wird, und können auch einfache Formen voneinander unterscheiden, doch reagieren sie zunächst primär auf starke Hell-Dunkel Kontraste. Dabei werden komplexe Muster einfachen vorgezogen. Eine besondere Vorliebe existiert für die Wahrnehmung von Gesichtern. Die Sehschärfe ist anfangs noch defizitär, erreicht bis zum sechsten Lebensmonat jedoch fast das Niveau Erwachsener. Grundsätzlich ist es für Kinder leichter, bewegte Gegenstände wahrzunehmen als statische. Auch die Tiefenwahrnehmung orientiert sich zunächst vor allem an Hinweisreizen, die durch Bewegung erkennbar sind. Wenige Wochen alte Säuglinge reagieren mit abwehrender Körperhaltung, wenn ein Gegenstand in ihrem Blickfeld immer größer wird und auf sie zuzukommen scheint. Etwa ab einem halben Jahr werden auch andere Hinweise zur Tiefenwahrnehmung genutzt.
Koordination zwischen Seh- und Tastsinn: Wenige Tage alte Kinder, die zunächst an einem Schnuller mit Noppen saugen durften, den sie aber nicht zu Gesicht bekamen, schauten sich anschließend einen entsprechenden Schnuller lieber an als ein baugleiches Modell ohne Noppen, während das umgekehrte Ergebnismuster bei einer Gruppe von Kindern auftrat, die zunächst an einem Schnuller ohne Noppen saugen durften. Offensichtlich stellten die Kinder automatisch eine Korrespondenz her zwischen dem, was sie sahen, und dem, was sie taktil erfassen konnten.
Insgesamt ist man sich heute einig, daß die Wahrnehmungsfähigkeit des Säuglings bereits zum Zeitpunkt der Geburt vorhanden und mit ca. 6 Monaten so weit entwickelt ist, daß physikalische Reize unterschiedlicher Art auf vergleichbare Weise von den Sinnesorganen aufgenommen werden können wie beim Erwachsenen. Da die menschliche Wahrnehmung jedoch immer auch von vorangegangenen Lernerfahrungen abhängt, ist die Entwicklung auf diesem Gebiet bis zum Kleinkindalter keinesfalls abgeschlossen (Krist & Wilkening, 1996; Rauh, 1996).
Lern- und Problemlösefähigkeit
Bereits im Uterus können Föten lernen. Man kann sie zum Beispiel an bestimmte Geräusche habituieren. Daß solche frühen Lernerfahrungen auch für die Zeit nach der Geburt Konsequenzen haben, zeigen Studien mit Neugeborenen. Hier stellte man unter Verwendung des Saugpräferenzparadigmas fest, daß Kinder die Stimme der eigenen Mutter von der anderer Mütter unterscheiden können, aber auch die eigene Muttersprache von einer fremden Sprache. Zudem scheinen sie sich bei jenen Musikstücken besonders gut zu entspannen, bei denen sich auch ihre Mutter während der Schwangerschaft entspannt hat. Untersuchungen, in denen die Mütter während der letzten sechs Wochen ihrer Schwangerschaft täglich eine bestimmte Geschichte laut vorlesen sollten, zeigen, daß Neugeborene diese spezielle Geschichte gegenüber einer unbekannten klar bevorzugen, und zwar unabhängig davon, ob die eigene Mutter oder eine fremde Person beide Geschichten vorliest.
Auch wenn Säuglinge früh lernfähig sind, unterliegt ihre Gedächtnisleistung systematischen Einschränkungen, die mit der verzögerten Reifung des Gehirns zusammenhängen (Gedächtnis). Dies gilt vor allem für das Arbeitsgedächtnis, das eng an die Entwicklung des Präfrontalen Kortex gekoppelt ist. Als Konsequenz ergeben sich begrenzte Möglichkeiten der Problemlösung im Säuglingsalter. Trotz solcher Einschränkungen wurden unter Verwendung des Erwartungs-Verletzungsparadigmas schon bei wenige Monate alten Säuglingen zum Teil erstaunliche Leistungen im Bereich des induktiven und deduktiven Denkens nachgewiesen (Baillargeon, 1995; Spelke, 1991).
Konzept- und Wissenserwerb
Während einige Autoren davon ausgehen, daß Kinder über angeborenes “Kernwissen” in einzelnen Wissensdomänen verfügen, das im Verlauf der weiteren Entwicklung lediglich angereichert wird, vermuten andere, daß Konzepte erst durch wahrnehmungsbasierte Abstraktionsprozesse zustande kommen (Wissen). Weitgehend einig scheint man sich allerdings in der Annahme, daß der Konzepterwerb bereits im Säuglingsalter domänenspezifischen Prinzipien folgt. So dürften für das Erlernen von Sprache andere Mechanismen relevant sein als für das Erlernen mathematischer oder physikalischer Sachverhalte. Auch differenzieren bereits Säuglinge klar zwischen dem physikalischen und psychologischen Wissensbereich. Generell scheint die ontologische Unterscheidung zwischen Lebewesen und unbelebten Dingen früher nachweisbar als die Unterscheidung von Basiskategorien innerhalb derselben globalen Domäne. Mit Lebewesen verbinden Säuglinge die Fähigkeit zu selbstinitiierter Bewegung, zu intentionalem Handeln und zur Kommunikation, während die genannten Eigenschaften nicht mit unbelebten Dingen assoziiert sind. Bei Artefakten ist vielmehr die Funktion von besonderem Interesse. Daß schon 7-11 Monate alte Säuglinge eine konzeptuelle Differenzierung zwischen Lebewesen und Artefakten vornehmen, zeigt, wie früh sich menschliches Wissen nach Inhaltsbereichen organisiert. In Übereinstimmung mit der Vorstellung einer bereichsspezifischen Konzeptentwicklung zeigen neuropsychologische Studien, daß Wissen über Personen, Tiere und Artefakte in jeweils unterschiedlichen Hirnregionen verarbeitet wird. Auch für die Entwicklung des mathematischen und sprachlichen Denkens, die ihren Anfang in der frühen Kindheit haben, wurden entsprechende Regionen definiert (Goswami, 1995; Pauen, in Vorb.).
Soziale Entwicklung
Von Geburt an reagieren Kinder mit besonderem Interesse auf Gesichter und Stimmen. Sie zeigen ein zunächst reflexhaft gesteuertes Lächeln, das jedoch schon 6-8 Wochen nach der Geburt durch das soziale Lächeln abgelöst wird (Mimik). Besondere Rätsel in bezug auf die Interaktionsfähigkeiten von Säuglingen geben Befunde zur Neugeborenenimitation auf: Hier wurde gezeigt, daß Kinder kurze Zeit nach der Geburt in der Lage sind, bestimmte mimische Ausdrücke eines Erwachsenen (z.B. Zunge herausstrecken) zu imitieren. Diese Fähigkeit scheint sich bis zum 3./4. Lebensmonat zu verlieren, um mit ca. 5-6 Monaten in umfassender Weise wieder in Erscheinung zu treten. Imitationsverhalten wird als wichtiges Element von Eltern-Kind-Interaktionen im Säuglingsalter interpretiert. Mit ca. 9 bis 11 Monaten zeigt das Kind “social” und “emotional referencing”, indem es seine Reaktionen auf eine Situation von den Reaktionen enger Bezugspersonen abhängig macht. Auch entwickelt sich nun die Fähigkeit zu “joint attention”, einem Zustand, in dem das Kind gemeinsam mit einer Bezugsperson seine Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand richtet. Diese Fähigkeit spielt vermutlich für den frühen Worterwerb eine wichtige Rolle. Etwa zeitgleich beginnt der Säugling, dem Blick einer anderen Person zu folgen. Allerdings dauert es noch mehrere Monate, bis das Kind versteht, daß das Blickverhalten eines Gegenübers wichtige Aufschlüsse über dessen Handlungsziele und Wissenszustände liefern kann. Erst dann beginnt der Aufbau einer “theory of mind”, einer naiven Psychologie, die das Sozialverhalten von Kindern im Verlauf ihrer Entwicklung zunehmend beeinflussen wird (Rauh, 1995; Rochat, 1999) (Kleinkindforschung, psychoanalytische).
Literatur
Baillargeon, R. (1995). A model of physical reasoning in infancy. In C. Rovee-Collier & L. Lipsitt (Eds.), Advances in infancy research, Vol. 9 (pp. 305-371). Norwood, NJ: Ablex.
Goswami, U. (1998). Cognition in children. East Sussex, UK: Psychology Press.
Krist, H. & Wilkening, F. (1996). Wahrnehmung und Psychomotorik. In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (Kap. 10). Weinheim: Beltz Verlag.
Pauen, S. (in Vorb.). Babys denken mit. Beck Verlag.
Rauh, H. (1995). Frühe Kindheit. In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (Kap. 4). Weinheim: Beltz Verlag.
Rochat, P. (1999). Early social cognition. Mahwah, NJ: Erlbaum.
Spelke, E.S. (1991). Physical knowledge in infancy: Reflections on Piaget's theory. In S. Carey & R. Gelman (Eds.), The epigenesis of mind: Essays on biology and cognition (pp. 133-169). Hillsdale, NJ.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.