Lexikon der Psychologie: Sauberkeitsentwicklung
Sauberkeitsentwicklung, vier bis fünf Jahre dauernder Reifungsprozeß von der subkortikal gesteuerten, unwillkürlichen Blasen- und Darmentleerung des Neugeborenen zur reifen Blasen- und Darmfunktion des (Klein-)Kindes, wozu ein langsamer Druckanstieg ohne Kontraktionen während der Füllungsphase gehört. Für eine erfolgreiche Darm- und Blasenkontrolle sind intakte anatomische Strukturen sowie eine ausgereifte neurogene Steuerung notwendig. Die Kontrolle des Darmes gelingt meist schneller: 97% aller Kinder haben sie mit vier Jahren erreicht, während ca. 25% aller Vierjährigen noch einnässen. Speicherung und Entleerung von Kot und Urin geschehen durch eine komplexe neuronale Steuerung, an der parasympathische, sympathische und somatische Innervationen beteiligt sind. Die Entwicklung der kontrollierten Ausscheidung verläuft parallel zur körperlichen und psychischen Entwicklung und wird hiervon beeinflußt, deutlich sichtbar an ihrer Irritabilität durch Stressoren und sozialen Druck sowie ihrer Korrelation mit anderen diskreten Entwicklungsstörungen.
Das Erreichen der willkürlichen Blasenkontrolle beruht auf endogenen biologischen Reifungsvorgängen, die – da genetisch festgelegt – weder im Ablauf noch in der Geschwindigkeit “von außen” beeinflußbar sind. Junge Säuglinge entleeren unkoordiniert im Ein- bis Zwei-Stunden-Rhythmus ca. 30 ml Urin. Ab dem 6. Lebensmonat setzt die Reifung unbewußter hemmender Bahnen ein, abzulesen an vergrößerten Miktionsintervallen und Blasenvolumina von 60 ml. Zwischen dem 18. und dem 30. Monat entwickelt sich die Wahrnehmung für die volle Blase und das Harndranggefühl. Der Harndrang wird verbalisiert, aber der Detrusor ist noch instabil, es kommt immer wieder zu unwillkürlichen Kontraktionen mit Harnabgang. Zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr wird die bewußte, willkürliche Kontrolle erreicht, das Kind kann die Harnabgabe willentlich herauszögern und initiieren. Einzelne Zwischenfälle bei Nichtbeachtung des Harndrangs bei voller Blase im intensiven Spiel (“Spieleifernässen”) sind typisch auf dem Weg zur perfekten Kontrolle. Erst nach Ausreifen der neurophysiologischen Voraussetzungen für eine kontrollierte Harnabgabe kann Sauberkeitserziehung beginnen.
Näßt ein Kind im Alter von fünf Jahren noch ein, kann dies nachts (Enuresis nocturna) und/oder am Tag geschehen und durch genetische, umweltbedingte, psychische oder somatische Faktoren bedingt sein. Beim Tagnässen muß zwischen unterschiedlichen Formen funktioneller Harninkontinenz und der Enuresis diurna (Einnässen ohne auffällige Detrusor- und Sphinkterfunktion) unterschieden werden. Vor allem für eine sekundäre Enuresis (erneutes Nässen nach perfekter Blasenkontrolle) werden eine hohe Vulnerabilität gegenüber belastenden Stressoren sowie weitere psychosoziale Risikofaktoren in Form unerkannter Lernprozesse beschrieben. Bei Einnäßzwischenfällen in der Nacht, aber auch am Tag, kommt es unabhängig von der Blasenfüllung und somit auch von der Trinkmenge zur unkontrollierten Harnabgabe, die nachweislich in engem Zusammenhang mit vorausgegangenen belastenden Ereignissen steht (“Konfliktnässen”).
Folgende erlernte Fehlsteuerung des Verhaltens wird diskutiert: Beim einnässenden Kind verstärken belastende Erfahrungen nicht nur das Zuwendungsbedürfnis, sondern gleichzeitig die Tendenz, die Blase zu entleeren. Ein mit Zuwendung belohnter Lernprozeß bewirkt diese Assoziation, indem das Kind in seiner frühen Kindheit unbewußt lernt, daß sein Kontaktbedürfnis immer dann zumindest kurzfristig befriedigt wird, wenn zeitschnell auf das Harnlassen der zuwendungsintensive Pflegeakt des Wickelns folgt. Durch eine Vielzahl identischer Abläufe festigt sich die Verknüpfung zwischen Zuwendungsbedürfnis und Harnlassen, ein ungewöhnlicher Weg zur Bedürfnisbefriedigung wird eingeschlagen. Von ihm kann erst dann abgewichen werden, wenn Kontakt- und Zuwendungsbedürfnis in Belastungssituationen direkt befriedigt werden, bevor die damit verknüpfte Harnabgabe erfolgt. Des weiteren müssen alle Umweltreaktionen, die vorher das Einnässen verstärkt haben, entfallen. Dieser Lernprozeß findet bei der Enuresis nocturna eine genetisch bedingte Disposition, auf Stressoren mit unkontrollierter Harnabgabe zu reagieren, vor, bei der Enuresis diurna die angeborene Streßreaktion, bei erhöhter Fluchtbereitschaft mit Blutdrucksteigerung und vermehrter Harnproduktion zu reagieren (Lernen, Instrumentelles Lernen).
G.H.-S.
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