Lexikon der Psychologie: Sinnerleben
Sinnerleben, ein Konstrukt in der gegenwärtigen handlungstheoretischen Psychologie ( Handlungstheorie), aus dem Begriff der Handlung, gemäß ihrem Merkmal der Referentialität, entwickelt. Danach ist Sinn die Bedeutung oder der Wert, den eine Handlung oder ein Projekt in Hinblick auf einen größeren Zusammenhang für jemanden hat, und die Bedeutung dieses größeren Ganzen selbst. Allgemein gilt das Leben als in sich selbst sinnvoll (Lebenssinn), d.h. daß es durch sein Vorhandensein gerechtfertigt ist. Sinnlos meint dann, daß Sinn da sein sollte. Nahezu alle gegenwärtig namhaften Theorien unterschiedlicher Aspekte einer in wesentlichen Zügen übereinstimmenden Handlungstheorie betonen: Handlungen haben Ziele; sie stehen im Mittelpunkt aller Theorien. Zielsetzungen erfordern Entscheidungen; ihnen kommt eine Schlüsselrolle in der Gestaltung der Identität und des persönlichen Sinns zu. Ein Motiv nach Sinnsuche als Einordnung in einen größeren Zusammenhang ist in den meisten Konzepten enthalten. Handlungen können in übergeordneten Strukturen wie Projekten dargestellt werden; die darin erfolgte Kontinuitätserfahrung vermittelt Sinnerleben.
a) Regelungstheoretisch betrachtet stellen die behavioralen und kognitiven Operationen eines Bewußtseinssystems ein sequentiell-hierarchisch verwobenes Netz dar und verweisen in ihrem Sinngehalt aufeinander. So erhält jede Operation ihren Referenzrahmen auf verschiedenen Referenzebenen. Bei gezielten Handlungen erfolgt die Kontrolle von oben nach unten. Für eine Sinntheorie ist die höchste Ebene entscheidend, d.i. die Ebene der sinnhaltigen Selbstdefinition(en) der Person. Der Mensch kann seine Operationen ansehen, werten und reflektieren, um zu erfahren, wer er ist, und er kann den sinnhaltigen, verhaltensführenden Referenzrahmen seines Handelns bestimmen, ja sogar sein biologisches Überleben dem Sinnprinzip unterordnen.
b) Aus Sicht erfahrungswissenschaftlicher Forschung wird Lebenssinn konstruiert und dem Leben vom Menschen beigelegt, so daß sein Leben für den einen Menschen sinnvoll, für den anderen sinnlos sein kann oder für jemanden gegenwärtig sinnvoll und ein anderes Mal sinnlos. Ein Sinnerleben aus Verneinung gibt es nicht. Das Sinnerleben wird dem Menschen gewöhnlich durch das Kontinuitätserleben seines selbstreferentiellen Handelns (Permanenz der Operationen) in Projekten, im Erleben von Differenz und Identität mit sich selbst in der Zeit, auch in der Muße und im “Flow-Erleben” (flow) u.a. und im sprachlichen (biographischen) Beschreiben vermittelt (Abwehr des Todes (Terror-Management-Theorie). Geistige und emotionale Prozesse der Reflektion des eigenen Existierens und der Konstruktion können damit einhergehen, müssen es aber nicht. Befunde zeigen, daß wohl die meisten Menschen eben nicht reflektieren; insofern ist das Postulat eines gesonderten Bedürfnisses nach Sinn fragwürdig, nicht jedoch die allgemeine Tendenz zur Konstruktion größerer Zusammenhänge.
c) Sinnsuche als Suche nach einem größeren Zusammenhang kann durch Gefährdung der Selbstdefinition ausgelöst werden. Ursachen der Gefährdung sind – externe oder interne – Ereignisse, die einen Bruch im Kontinuitätserleben darstellen, etwa “kritische Lebensereignisse” (Lebensereignisse, kritische), die Selbstdefinition betreffende Mißerfolge, biologische Gefährdung (Krankheit, Unfall, Folter), die Diskreditierung der Selbstdefinition oder die Disorganisation der psychischen Operationen. Vielen wird erst im Erleben von Sinnverlust, Sinneinbruch, Sinnkrise und Sinnlosigkeit die existentielle Dimension von Lebenssinn erlebbar. Die therapeutische Bedeutung einer Sinn(wieder)entdeckung etwa durch Umdeuten der Lebenssituation, durch Umstrukturierung der bisherigen Sicht des Lebensweges und Neuordnung der Prioritäten im Leben u.a. ist ebensogut belegt wie der korrelative Zusammenhang von Mangel an Sinn(erleben), innerer Langeweile und verschiedenen Anfälligkeiten (geringe Belastbarkeit, negative Affektivität u. a.).
d) In den Anfängen der psychologischen Sinnforschung (u.a. Ch. Bühler, Adler, Fromm, Frankl) wurde nicht hinreichend zwischen Sinn und Wesen unterschieden; während der Sinn dem Leben beigelegt wird, gehört das Wesen zur Sache selbst. Ob der Sinn zum Wesen des Lebens gehört, ist keine Frage psychologischer Forschung, sondern ein ontologisches und theologisches Problem. Diese Vermengung mag manche Psychologen von der Sinn-Forschung abgehalten haben.
E.Schm.
Literatur
Schmitz, E. & Hauke, G. (1992) Die Erfahrung von Lebenssinn und Sinnkrisen – ein integratives Modell. Integrative Therapie – Zeitschrift für vergleichende Psychotherapie und Methodenintegration, 18, 3, S. 270 – 291.
Wong, T. P. & Fry, P. S. (1998) The human quest for meaning. A handbook of psychological research and clinical applications. Mahwah, N.J.: Erlbaum.
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