Lexikon der Psychologie: Soziobiologie
Soziobiologie, die Wissenschaft von der durch natürliche innerartliche Selektion entstandenen biologischen Angepaßtheit der für das Sozialverhalten und die Gruppenstrukturen verantwortlichen Verhaltensmerkmale bei Tieren und Menschen. Wissenschaftshistorisch ist die Soziobiologie eine Teildisziplin der Ethologie (Verhaltensbiologie), speziell der Verhaltensökologie (Ethoökologie, Öko-Ethologie), die den Gedanken von Kosten-Nutzen-Kalkulationen, gemessen an der erfolgreichen Weitergabe von Genen unter Berücksichtigung von Energieeinsatz und Risiko, in die wissenschaftliche Diskussion gebracht hat. Der Soziobiologie ist die Integration ökologischer Forschung und populationsgenetischer Ansätze in die Evolutionsbiologie gelungen. Auch das Sozialverhalten unterliegt der formenden und optimierenden Wirkung evolutionsbiologischer Vorgänge. Die Erkenntnis für diese einen gedanklichen Kurswechsel startenden Zusammenhänge war durch zunehmende interdisziplinäre Forschung immer mehr herangereift. Bereits in den 60er Jahren hatte N. Tinbergen die Ethologen auf die Notwendigkeit hingewiesen, das Forschungsinteresse auf die Frage nach dem Anpassungswert von Verhalten (survival value) zu lenken. W. D. Hamilton (1964) gilt als Begründer der Soziobiologie; mit seinem Namen ist der Paradigmenwechsel weg vom Arterhaltungskonzept hin zur Individual- und Verwandtenselektion verbunden. Der bislang postulierte “arterhaltenden Wert” von Verhaltensweisen hatte die Interessen des arteigenen Nachwuchses im Konfliktfall stets über die individuellen Eigeninteressen gestellt. Nun wurde als Maß für den relativen Fortpflanzungserfolg der Begriff der Fitneß eingeführt, der reproduktive Beitrag eines Individuums zum Genpool der Population. Es geht darum, wie geeignet die Ausstattung und die Verhaltensstrategien eines Lebewesens sind, sein spezifisches individuelles Erbgut angesichts der gleichgeschlechtlichen Konkurrenz derselben Population sowie den Präferenzen des Gegengeschlechts weiterzugeben (lebende Systeme, Verhaltensgenetik). Für eine Fitneß-Maximierung zählen jedoch nicht nur die direkten Nachkommen, sondern auch Geschwister, Neffen, Nichten und alle Verwandten, mit denen das betrachtete Lebewesen Gene gemeinsam hat. Wichtig für einen evolutionären Erfolg ist die Gesamtfitneß (inclusive fitness) über die gesamte Lebenszeit, die sich aus direkter Fitneß durch eigene Nachkommen und indirekter Fitneß durch Verwandte mit möglichst hoher genetischer Ähnlichkeit ergibt, und Phänomene wie spezielle Überlebensstrategien, Familienformen, Nepotismus und Helfertum erklären kann. Die Erkenntnis, daß auch “Strategien”, ererbte wie erfahrungsbedingte Sätze von alternativen Verhaltensmustern, einen evolutiven Anpassungswert haben, stammt von Maynard Smith (1982). Seine Theorie der evolutionsstabilen Strategien (evolutionary stable strategies, abgekürzt ESS) basiert auf Modellrechnungen, die zeigen, daß unter bestimmten Voraussetzungen keine der berücksichtigten alternativen Strategien im Selektionsprozeß verdrängt werden können. Der durch eine Strategie erzielte Fitneßgewinn hängt immer davon ab, in welcher Häufigkeit die alternativen Strategien innerhalb der Population vorkommen. So wurde es z. B. möglich, den Anpassungswert der Individualität zu erklären. Geht es um weitere soziobiologische Gewinne für die gesamte Biologie, müssen die Arbeiten von R. L. Trivers (1974) genannt werden, da dank einer Fokussierung der Aufmerksamkeit auf den Konfliktcharakter in Sozialbeziehungen eine Erklärung für Konflikte zwischen den Geschlechtern, zwischen Geschwistern und in der Eltern-Kind-Beziehung möglich wurde und auch unterschiedliches Elterninvestment als Anpassungswert verstanden werden konnte (Familie). Sie waren die Basis für modernste Untersuchungen über Partnerwahlentscheidungen und die Suche nach potentiellen Indikatoren für genetische Qualität (Major Histocompatibility Complex).
Die methodische Vorgehensweise der Soziobiologie ist deduktiv, im Gegensatz zum induktiven Vorgehen der “klassischen” Ethologie (Vergleichende Verhaltensforschung). Das modell- und theoriengeleitete Vorgehen erwies sich als zusätzlicher wissenschaftlicher Weg als äußerst erfolgreich, da das soziobiologische Denken viele empirische Untersuchungen, auch über menschliches Verhalten, erst möglich machte. Die Tiersoziobiologie gilt als anerkannt, während die Humansoziobiologie kontrovers diskutiert wird. Daran sind häufig von wissenschaftlicher Seite nicht mehr zu kontrollierende Popularisierungen humansoziobiologischer Gedankengänge bereits auf der Stufe von Hypothesen schuld, aber auch die Angst vor einer allzu großen genetischen Festgelegtheit des Menschen (moralistischer Trugschluß). Die vor allem anfangs aus pragmatischen Gründen, jedoch unüberlegt verkürzte, und dadurch provokative und mit Anthropomorphismen durchsetzte Sprache tat ihren Teil dazu, z. B. das “egoistische Gen” (selfish gene) von R. Dawkins (1976), das weltweit die Gemüter erregte, weil es keine niveauadäquate Terminologie ist, denn es sind keinesfalls Moleküle oder Gene, die eigennützig sind. Es können aber Individuen auf Grund genetischer Programme eigennützig sein. In diesem Zusammenhang lehren Vertreter der Soziobiologie, daß letztendlich das Gen (genauer das Allel) die Informationseinheit ist, dessen Verbreitung in einer Population durch Selektion am Individuum über die Anzahl der Nachkommen gefördert oder behindert wird. Zu stark überzogene Erklärungsansprüche einzelner Soziobiologen, wie auch das in-Kauf-Nehmen von Mißverständnissen und Emotionen schürende Aussagen, wie z. B. von E. O. Wilson (1975), haben die Soziobiologie dem Vorwurf eines biologischen Reduktionismus ausgesetzt und dadurch ihren Verdienst zu einer interdisziplinären Sichtweise des Menschen in den Augen vieler Zeitgenossen geschmälert. Hat sie auch im Hinblick auf angeborene Motive und Verhaltenstendenzen die Sonderstellung des Menschen im Reich der Organismen widerlegt, so stellt sie dessen kognitive, soziale, emotionale und kulturelle Weiterentwicklung nicht in Frage, doch das ist nicht ihr Forschungsgebiet. Die Soziobiologie arbeitet am Verständnis des Einflusses der Erbfaktoren auf das Sozialverhalten. Andere Humanwissenschaften (Psychologie, Soziologie, klassische Ethologie) untersuchen das in der individuellen Ontogenese oder während der kulturspezifischen Sozialisation erworbene Verhalten, für das nach deren Auffassung eigene Gesetze einer komplexeren Systemebene gelten. Hier findet sich der Hauptstreitpunkt zwischen Soziobiologen und deren Gegnern. Während die Humansoziobiologie implizit davon ausgeht, daß nahezu alles Verhalten, Fühlen und Denken des Menschen einen Anpassungswert hat und letztlich zur Erhöhung des Fortpflanzungserfolgs beiträgt, der Mensch also – auch wenn größtenteils unbewußt – fast immer nach dieser Maxime handelt, sehen die Soziobiologiegegner eine ebenso hohe Bedeutung von Ontogenese und Sozialisation, die als eigenständige Beiträge zusätzlich zu ultimaten Fitneßinteressen zum Zuge kommen. Auch innerhalb der evolutionsbiologischen Disziplinen finden sich zwei unterschiedliche Theorielager. Während die Humansoziobiologie (darwinsche Anthropologie, evolutionäre Anthropologie, Verhaltensökologie des Menschen) die ultimate Ursache jedes Verhaltens, auch des “scheinbar” altruistischen, letztendlich auf den Egoismus der Gene (den Reproduktionserfolg) zurückführt, legt die Evolutionspsychologie (evolutionäre Psychologie, darwinsche Psychologie) viel größeren Wert auf den Unterschied zwischen der “Umwelt der evolutionären Angepaßtheit” in stammesgeschichtlicher Vergangenheit und der heutigen Umwelt des Menschen. Es mache daher keinen Sinn, bei rezenten Kulturen “alle” Zusammenhänge zwischen Verhalten und Fortpflanzungerfolg messen zu wollen. Sinnvoll untersuchen ließen sich nur die evolvierten geistigen Mechanismen, die unserem Verhalten zugrunde liegen. Sie spiegelten jedoch Anpassungen an frühere, nicht an heutige Bedingungen wider.
Einig sind sich die wissenschaftlichen Lager jedoch darin, daß die Soziobiologie nicht mißbraucht werden darf evolutionsbiologische und folglich genetische Ursachen und Konsequenzen als eine Entschuldigung für soziale Ungleichheit, Konkurrenz, Ausbeutung und Unterdrückung zu verwenden, denn es ist nicht die Natur, nicht unsere Biologie, die “richtige” Prinzipien und sittliche Normen menschlichen Zusammenlebens vermittelt; dies anzunehmen, wäre ein naturalistischer Trugschluß. Eckhart Voland (2000), der bekannteste deutsche Humansoziobiologe: “Die biologische Evolution ist kein Werte-generierender Prozeß, die Natur kein sittliches Prinzip. Sie taugt deshalb nicht als Vorbild.”
G.H.-S./J.Be.
Literatur
Dawkins, R. (1976). The selfish gene. Oxford University Press. New York and Oxford.
Hamilton, W. D. (1964). The genetical evolution of social behavior (I and II). Journal of Theoretical Biology, 7, 1-52.
Maynard Smith, J. (1982). Evolution and the theory of games. Cambridge University Press. Cambridge.
Trivers, R. L. (1974). Parent-offspring conflict. American Zoologist 14, 249-264.
Voland, E. (2000). Grundriss der Soziobiologie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg.
Wilson, E. O. (1975). Sociobiology – The new synthesis. Belknap Press of Harvard University, Cambridge /Mass.
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