Lexikon der Psychologie: Sportpsychologie
Essay
Sportpsychologie
Jürgen R. Nitsch
Grundverständnis der Sportpsychologie
Sportpsychologie befaßt sich in Forschung, Lehre und Anwendung mit der Analyse und Optimierung der psychischen, psychosomatischen und psychosozialen Bedingungen, Abläufe und Wirkungen sportbezogener Aktivität. Dies geschieht unter zwei Leitfragen: 1) Wie lassen sich Erleben und Verhalten im Sport systematisch beschreiben, erklären, vorhersagen und in verantwortbarer Weise beeinflussen? Im Mittelpunkt steht hierbei das sportliche Geschehen selbst, d.h. die sportbezogene Aktivität von Athleten und Athletinnen sowie Personen ihres Bezugsfeldes (z.B. Schiedsrichtern, Trainern, Sportlehrern, Management). 2) Wie lassen sich durch Sport wünschenswerte Veränderungen von Erleben und Verhalten systematisch erzielen oder unterstützen? Im Mittelpunkt stehen hier Bewegung und aktive sportliche Betätigung als – über den Sport hinausreichende – Mittel zur gezielten Förderung der psychosozialen Entwicklung, der allgemeinen Leistungsfähigkeit und -bereitschaft sowie der Gesundheit, des Wohlbefindens und der individuellen Lebensqualität. Konstitutiv für die Sportpsychologie ist das Spannungsdreieck von Psychologie, Sportwissenschaft und Sportpraxis. In dieser dreifachen Verankerung ist sie eine “Querschnittswissenschaft” mit zahlreichen Überlappungen zu angrenzenden Wissenschaftsgebieten und verschiedenen – nicht nur i.e.S. sportlichen – Praxisfeldern (Gabler, Nitsch & Singer, 2000, 2001; Weinberg & Gould, 1995; Willis & Campbell, 1992). Laufende Informationen über sportpsychologische Forschung und Anwendung vermitteln insbesondere die Zeitschriften psychologie und sport, International Journal of Sport Psychology, Journal of Sport & Exercise Psychology, The Sport Psychologist und Psychology of Sport and Exercise sowie die Schriftenreihe “Betrifft: Psychologie & Sport” (bps-Verlag Köln).
Entwicklung der Sportpsychologie
Soweit bekannt, wurde die Bezeichnung “Sportpsychologie” (“psychologie du sport”) zum ersten Mal um 1900 von Pierre de Coubertin, dem Initiator der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit, ausdrücklich verwendet. Systematische sportpsychologische Forschung, Lehre und Anwendung sowie die daran geknüpfte Institutionalisierung der Sportpsychologie begannen in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts mit den maßgeblichen Initiativen von R. W. Schulte und H. Sippel in Deutschland, C. R. Griffith in den USA sowie P. A. Rudik und A. Z. Puni in der ehemaligen UdSSR. An der 1920 gegründeten Deutschen Hochschule für Leibesübungen (DHfL) in Berlin wurde Psychologie erstmalig als Lehrgebiet in der akademischen Sportlehrerausbildung ausgewiesen; im gleichen Jahr gründete Schulte an dieser Hochschule das erste “Sportpsychologische Laboratorium”. Den entscheidenden Aufschwung nahm die Sportpsychologie jedoch national und international erst nach dem II. Weltkrieg in den 60er Jahren. Die ersten Institute und Lehrstühle wurden eingerichtet, so in Deutschland 1961 an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig sowie an 1965 an der Deutschen Sporthochschule Köln. 1965 wurde die International Society of Sport Psychology – ISSP – gegründet, 1969 auf europäischer Ebene die Fédération Européenne de Psychologie des Sports et des Activités Corporelles – FEPSAC – und im gleichen Jahr auch die Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie in der Bundesrepublik Deutschland – asp. Zugleich begann damit eine inzwischen sehr vielfältige Kongreßtradition.
Einen wesentlichen Hintergrund für diese Entwicklung bildete die Ausbreitung und Ausdifferenzierung des Sports, der damit endgültig von der “schönsten Nebensache der Welt” zu einem vielschichtigen, politisch und ökonomisch sowie für die Freizeitgestaltung und Gesundheitsvorsorge bedeutsamen gesellschaftlichen Phänomen enormen Ausmaßes wurde (Freizeit, Gesundheit). Aus der Entwicklung des Sports wiederum ergab sich ein wachsender Bedarf an qualifizierten Sportlehrern und Trainern einerseits und an praktisch nutzbaren sportwissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden andererseits. Zahlreiche neue sportwissenschaftliche Institute wurden an den Universitäten der Bundesrepublik eingerichtet und damit zugleich auch die Sportpsychologie als Lehrfach an inzwischen rund 50 Hochschulen mit insgesamt 24 sportpsychologisch akzentuierten Professuren etabliert. Eine ähnlich intensive, wenn auch anders eingebettete und strukturierte Entwicklung nahm auch die Sportpsychologie in der ehemaligen DDR mit besonderer Akzentuierung des Leistungssports, insbesonders verankert an der Deutschen Hochschule für Körperkultur sowie dem Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport in Leipzig (beide nach der Wiedervereinigung aufgelöst). Die asp zählt mittlerweile rd. 250 Mitglieder; die Mehrzahl davon ist an den sportwissenschaftlichen Instituten der Universitäten beschäftigt. Weltweit sind ca. 3000 Kollegen in über 60 Ländern in sportpsychologischer Forschung, Lehre und Anwendung tätig.
Gegenstandsbereiche und Fragestellungen
Der gegenwärtige Sportbegriff umfaßt im wesentlichen drei Aspekte, die zugleich unterschiedliche Gegenstandsbereiche der Sportpsychologie thematisieren:
1) Sport als individuelle und/oder kollektive Betätigung: a) die Beweggründe für die Aufnahme, Ausübung und Beendigung einer bestimmten sportlichen Aktivität, b) die individuelle und soziale Regulation dieser Aktivität und c) ihre unmittelbaren und langfristigen psychischen, psychosomatischen und psychosozialen Effekte. Praxisbezogen geht es vor allem um die Entwicklung und Anwendung von psychologischen Verfahren zur Diagnostik und Optimierung der anforderungsspezifischen Handlungskompetenz.
2) Sport als gesellschaftliche Institution: Der Akzent liegt hier nicht auf der sportlichen Aktivität selbst, sondern auf dem Kontext, in den sie institutionell eingebettet ist und dem je spezifischen System von Interaktionsräumen, Organisationsformen, Rechtsvorschriften und Regeln sowie dem differenzierten System von Funktionsträgern. Hieraus ergeben sich z.T. gänzlich neue Fragestellungen: die psychologische Analyse und Gestaltung von Sportsystemen, Organisationsstrukturen und -abläufen, die Auseinandersetzung mit sportspezifischen Wertorientierungen und Regelsystemen sowie den Bedingungen ihrer Verletzung (z.B. Fair Play, Dopingproblematik) und nicht zuletzt das Management des Sports als soziales System.
3) Sport als Markt: Sport ist schließlich zugleich Produzent und Konsument in einem Markt, in dem die Beziehungen zwischen Produzenten und Konsumenten nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage geregelt werden: Sport als immens wichtiger Werbeträger und Absatzmarkt für industrielle Produkte (z.B. der Sportartikel- und Gerätehersteller) und gleichzeitig als Schausteller und Schauspiel, Sport als Produzent und Verkaufsobjekt in der modernen Unterhaltungsindustrie. Die Kommerzialisierung macht Sport (und Sportler) immer mehr zur “Ware”, für die Sportpsychologie gewinnen werbe- und marktpsychologische Aspekte an Bedeutung. Insbesondere werden auch die Erwartungen und Verhaltensweisen der Sportkonsumenten sowie die Art und Weise der Sportinformation in den Medien zu einem wichtigen – allerdings bislang noch kaum bearbeiteten – Gegenstandsfeld.
Das Praxisfeld des Leistungssports war bis in die jüngste Zeit hinein das international eindeutig vorrangige Forschungs- und Anwendungsfeld der Sportpsychologie. Entsprechend ausdifferenziert sind hier die Fragestellungen, theoretischen Konzepte, methodischen Ansätze und Befunde. Im wesentlichen geht es um drei Grundfragen: a) Wer treibt mit welcher Motivation welchen Sport? b) Welche kognitiven, emotionalen, sozialen und psychomotorischen Anforderungen stellen sich dabei, zu welchen Beanspruchungen führen sie, und wie werden diese dann zu bewältigen versucht? c) Auf welche Weise können Talentauswahl, Wettkampfvorbereitung, Leistungsrealisation sowie Regeneration psychologisch unterstützt werden? Darüber hinaus liegt ein besonderer Akzent auf der Analyse des Zuschauer- und Fanverhaltens.
Zentrale anwendungsbezogene Zielstellungen sind:
– Optimierung von Leistung durch Psychologisches Training (u.a. Mentales Training; Selbstmotivierungs- und Willenstraining; Wahrnehmungs- und Entscheidungstraining; Verbesserung der Selbstkontrolle, Streßresistenz und Regenerationsfähigkeit; Kommunikations- und Interaktionstraining).
– Entwicklung und Umsetzung von Beratungskonzepten zur Verbesserung des alltäglichen Selbstmanagements und der langfristigen Karriereplanung sowie von Betreuungskonzepten zur psychologischen Intervention bei akuten Krisen (anfänglich auf die Athleten ausgerichtet, mittlerweile jedoch auch für Schiedsrichter und Trainer).
– Schulsport mit drei Hauptthemen: Sportinteressen und -motivation von Schülern; psychodidaktische und sozialpsychologische Aspekte des Lehrerverhaltens und der Lehrer-Schüler-Interaktion, Wirkungen von unterschiedlichen Inhalten und Formen des Sportunterrichts auf Befindlichkeit, Konzentration, Schulleistungen und Sozialverhalten der Schüler.
Die beinahe explosionsartige Entwicklung des gesundheitsorientierten Sports, d.h. des Sports inPrävention, Therapie und Rehabilitation, hat auch eine entsprechende Resonanz in der sportpsychologischen Forschung und Anwendung gefunden und zu einer deutlichen Akzentverschiebung der Forschungsinteressen geführt. Das Spektrum reicht dabei vom Fitneßsport über gesundheitsorientierte Sportangebote in den Betrieben bis hin zum Seniorensport, dem Sport mit spezifischen Patientengruppen (z.B. Herzinfarktpatienten, Depressive) und der systematischen Nutzung von Bewegung und Sport im Sinne einer Bewegungspsychotherapie. Die zentralen Fragestellungen sind: a) Welche psychosozialen Effekte sind mit welcher Art der sportlichen Betätigung verbunden? b) Durch welche Maßnahmen lassen sich welche angezielten psychosozialen Effekte systematisch erreichen? c) Welche Art von Sport ist für wen bzw. für welche Symptomatik am geeignetsten? d) Warum tun viele (sportlich) nicht das, was für sie eigentlich (gesundheitlich) gut wäre, bzw. hören damit wieder auf?
Neue psychologische Forschungsakzente richten sich auf
– psychoimmunologische Aspekte körperlicher Aktivität (v.a. die Untersuchung psychoimmunologischer Aspekte körperlicher Aktivität sowie des optimalen Verhältnisses von Atemrhythmus und Bewegungsausführung),
– Sportverletzungen und Schmerzproblematik,
– Leistungs- und Sicherheitsfehler und Sportunfälle,
– Erlebnis-, Abenteuer- und Extremsport (Kann Sport zur “Sucht” werden?)
– sportliche “Subkulturen” mit jeweils besonderen Wertvorstellungen und Verhaltensnormen (z.B. die Szene der Inlineskater, Paraglider oder Freeclimber).
Was der Sportpsychologie jedoch gegenüber anderen psychologischen Teildisziplinen ihr besonderes Gepräge gibt, ist die intensive Auseinandersetzung mit der menschlichen Bewegung im Rahmen der interdisziplinär angelegten Bewegungsforschung. Im Zentrum stehen dabei die kognitiven (insbesondere auch sprachlichen) und emotionalen Grundlagen des Bewegungslernens, der Bewegungsrepräsention und der Bewegungsregulation. In diesem Sinne läßt sich die Sportpsychologie als “Psychologie der Bewegung im soziokulturellen Kontext des Sports” kennzeichnen.Von übergreifender Bedeutung ist schließlich die Entwicklung einer theoretischen Rahmenkonzeption für sportliches Handeln generell, wie sie mit einer handlungstheoretischen Fundierung der Sportpsychologie seit Jahren verfolgt wird (Nitsch, 2000).
Aus- und Fortbildung
Ein eigenständiges, mit einem entsprechenden akademischen Grad abschließendes Studium der Sportpsychologie gibt es weder in Deutschland noch – soweit bekannt – in anderen Ländern. Abgesehen von vereinzelten thematisch einschlägigen Lehrveranstaltungen (vor allem zur Psychomotorik), Diplomarbeiten, Dissertationen und gesondert vereinbarten Wahlfachschwerpunkten in der Angewandten Psychologie ist Sportpsychologie bisher erst in Ausnahmefällen als gesondertes Lehr- und Prüfungsfach in das Diplomstudium Psychologie einbezogen. An keinem Psychologischen Institut der Universitäten in Deutschland gibt es eine sportpsychologische Professur.
Sportwissenschaftliche Studiengänge beinhalten durchgängig Lehrangebote und zumeist auch Teilprüfungen in Sportpsychologie. Art und Umfang der Verankerung variieren jedoch – in Abhängigkeit von den jeweiligen Studienordnungen, Personalausstattungen und Studierendenzahlen – erheblich . Ein einheitliches Studienkonzept für die sportpsychologischen Anteile existiert bislang weder im nationalen noch im internationalen Raum.
Eine vertiefende Fortbildung in Sportpsychologie kann im wesentlichen auf drei Wegen erfolgen: a) Studienbegleitende Zusatzausbildung für Studierende der Psychologie oder der Sportwissenschaft mit Erwerb des European Masters Degree in Exercise and Sport Psychology im Rahmen eines von der Europäischen Gesellschaft für Sportpsychologie (FEPSAC) organisierten Netzwerkes von derzeit 13 europäischen Hochschulen. b) Curriculum “Fortbildung Sportpsychologie im Leistungssport”, das in gemeinsamer Trägerschaft des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen (bdp) und der Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie (asp) von der Deutschen Psychologen Akademie angeboten wird und zur Zusatzbezeichnung “Sportpsychologie bdp” führt. c) Promotion im Hauptfach Sportpsychologie nach einem Psychologie- oder Sportwissenschaftlichen Studium.
Literatur
Gabler, H., Nitsch, J.R. & Singer, R. (Hrsg.). (2000). Einführung in die Sportpsychologie: Teil 1. Grundthemen (3. Aufl.). Schorndorf: Hofmann.
Gabler, H., Nitsch, J.R. & Singer, R. (Hrsg.). (2001). Einführung in die Sportpsychologie: Teil 2. Anwendungsfelder (2. Aufl.). Schorndorf: Hofmann.
Nitsch, J.R. (2000). Handlungstheoretische Grundlagen der Sportpsychologie. In H. Gabler, J.R. Nitsch & R. Singer (Hrsg.), Einführung in die Sportpsychologie: Teil 1. Grundthemen (3. Aufl., S. 43-164). Schorndorf: Hofmann.
Weinberg, R.S. & Gould, D. (1995). Foundations of sport and exercise psychology. Champaign, IL: Human Kinetics.
Willis, J.D. & Campbell, L.F. (1992). Exercise psychology. Champaign, IL: Human Kinetics.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.