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Lexikon der Psychologie: Stereotype

Essay

Stereotype

Iris Six-Materna und Bernd Six

Ursprung und Definition
Der Begriff des Stereotyps (griech.: stereos – starr, hart, fest und typos – feste Norm, charakteristisches Gepräge) wurde bereits 1922 vom Journalisten Walter Lippmann in die Sozialwissenschaften eingeführt, der damit die “Bilder in unseren Köpfen” beschrieb, die sich als schablonisierte und schematisierte Vorstellungsinhalte zwischen unsere Außenwelt und unser Bewußtsein schieben. Die sozialpsychologische Erforschung von Stereotypen beginnt mit einer empirischen Studie von Katz und Braly (1933). Die von ihnen entwickelten Eigenschaftslisten wurden in der Folge zum Standardmeßverfahren. Sie definieren ein Stereotyp als “einen starren Eindruck, der nur in geringem Ausmaß mit der Realität übereinstimmt, sondern vor allem dadurch zustande kommt, daß wir zuerst urteilen und dann erst hinschauen”. Nach einer neueren Stereotypendefinition sind Stereotype “...eine Reihe von Überzeugungen über die Merkmale der Mitglieder einer sozialen Gruppe”. Die Definitionen unterscheiden sich darin, ob Stereotype als “schlecht” bzw. “negativ” angesehen werden sollten. Ebenso unterscheiden sich existierende Definitionen danach, ob es sich bei Stereotypen um sozial geteilte Überzeugungen handelt oder ob der Terminus für Überzeugungen einzelner Individuen steht. Zur Klärung dieses Problems wird vorgeschlagen, im ersten Fall von “kulturellen Stereotypen” zu sprechen. Ein besonderes Charakteristikum zahlreicher Stereotypendefinitionen ist ihre kognitive Ausrichtung. So werden Stereotype bspw. als “kognitive Struktur”, als “Assoziation” oder als “hoch organisierte soziale Kategorie” bezeichnet. Dieses kognitive Verständnis resultiert nicht zuletzt aus dem Versuch, eine Abgrenzung dieses Terminus von dem historisch älteren und zudem zunächst bedeutend prominenteren Begriffs des Vorurteils vorzunehmen. Entsprechend wird die kognitive Wende innerhalb der Psychologie vielfach mit der Revitalisierung des Stereotypenkonzepts gleichgesetzt.

Repräsentation von Stereotypen
Bei der Erforschung der kognitiven Verarbeitungsmechanismen von Stereotypen wurden verschiedene Modelle der kognitiven Repräsentation entwickelt.
1) Prototypen-Modelle: Für eine soziale Gruppe existiert im Gedächtnis eine abstrakte Repräsentation (Prototypen-Repräsentation), in der die typischen Merkmale der Gruppe vereinigt sind. Der Prototyp ist jedoch nicht durch eine Ansammlung von einzelnen Merkmalen spezifiziert, sondern stellt das aus den charakteristischen Merkmalen der Gruppe gebildete Gesamturteil dar. Die prototypische Gruppenrepräsentation bildet die Grundlage für spätere Urteile über einzelne Gruppenmitglieder. Prototypen-Modelle gehen von der hierarchischen Organisation von Stereotypen und der Existenz von Substereotypen neben den globalen Gruppen-Kategorien aus (Prototypentheorie, Begriffsbildung).
2) Exemplar-Modelle nehmen an, daß eine Gruppe durch ein (persönlich bekanntes oder unbekanntes) Mitglied der Gruppe repräsentiert wird, wie z.B. die Gruppe “attraktive Schauspielerinnen” durch Cindy Crawford. Die Zugehörigkeit einer Person zu eben dieser Gruppe wird über den Vergleich dieser Person mit dem “Exemplar” (hier: Cindy Crawford) erreicht, das die Gruppe repräsentiert.
3) Als Kombination der Modell-Typen gehen Prototypen-Exemplar-Mischmodelle davon aus, daß Stereotype durch Prototypen und Exemplare repräsentiert sind.
4) In Assoziativen Netzwerkmodellen werden Stereotype als Verknüpfungen (Assoziationen) von bestimmten Attributen (Eigenschaften, Überzeugungen, Verhaltensweisen) verstanden. Diese Attribute, die einer bestimmten Gruppe zugeordnet werden, werden als “Knoten” bezeichnet, die meist hierarchisch angeordnet sind. Die Verknüpfungen zwischen den Knoten werden u.a. dazu verwendet, Intensität, emotionale Qualität oder Ähnlichkeit zwischen den Attributen zu repräsentieren. Netzwerkmodelle stimmen in der Annahme überein, daß die Aktivierung der Assoziationen automatisch stattfindet und so bei Aktivierung eines Knotens sämtliche damit verbundene Knoten mit aktiviert werden. (Weitere Modellvorstellungen siehe Schema-Modelle und Basisraten).

Kategorisierung und Stereotypisierung
Der Prozeß der Kategorisierung bezieht sich auf die Frage, wie bestimmte Reize (v.a. soziale Reize) identifiziert werden und mit anderen, ähnlichen Reizen zu “Mitgliedern” einer Kategorie gemacht werden; unähnliche Reize werden zum Bestandteil einer anderen Kategorie, wenn sie entsprechend viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Je globaler eine Kategorie gefaßt wird, um so mehr Reize lassen sich dieser Kategorie zuordnen, wobei bei dieser eher undifferenzierten Betrachtung viele spezifische Informationen über den Reiz verlorengehen, so daß eine effiziente Informationsverarbeitung unweigerlich mit einem Informationsverlust einhergeht. Entsprechend können Fehleinschätzungen und Stereotype eine Folge dieses Kategorisierungsprozesses sein (Stereotypengenauigkeit). Neben ihrer Zuordnung zu globalen Kategorien scheinen Reize im Gedächtnis in noch differenzierterer Weise in Form von Subkategorien repräsentiert zu sein. So wird bspw. die globale Kategorie “Frau” in Subkategorien wie bspw. “Hausfrau”, “Karrierefrau”, “Emanze” oder “Schickimicki-Braut” unterteilt (Eckes, 1997). Die damit in Verbindung gebrachten Merkmale, die sogenannten Substereotype, stellen mentale Repräsentationen der spezifischen Kategorien dar. Die Existenz von Substereotypen wird von Untersuchungsergebnissen gestützt, wonach bspw. Stereotype über “Frauen” in Abhängigkeit von anderen Faktoren – ethnischer Zugehörigkeit, Status oder Alter – variieren.

Automatische vs. kontrollierte Informationsverarbeitung
Wenn Kategorisierung auf der einen Seite als zentrale kognitive Tendenz betrachtet wird, die dem Individuum die Informationsverarbeitung in einer komplexen Umwelt erleichtert, auf der anderen Seite jedoch eben dieser Kategorisierungsprozeß eine zentrale Komponente von Stereotypisierung ist, stellt sich die Frage, ob Stereotype eine unvermeidliche Konsequenz eines vereinfachten Wahrnehmungsprozesses sind oder der individuellen Kontrolle unterliegen. Nach Expertenmeinung lernt jedes Individuum die in seiner Kultur vorhandenen Stereotype und assoziiert diese automatisch mit der betreffenden Gruppe. Ob und in welchem Ausmaß diese Stereotype jedoch Vorurteile und Diskriminierungen dieser Gruppe nach sich ziehen, hängt von personinternen Faktoren ab, da Personen den ihnen bekannten und automatisch aktivierten Stereotypen unterschiedlich stark nachgeben. Andere Experten gehen ebenfalls von einer automatischen Aktivierung von Stereotypen aus, führen jedoch Unterschiede in der Höhe von Vorurteilen nicht auf eine unterschiedliche Hemmung stereotyper Informationen zurück, sondern darauf, daß Personen mit niedrigen Vorurteilen sowohl positive als auch negative Stereotype aktivieren, während Personen mit hohen Vorurteilen ausschließlich negative Stereotype zulassen.

Stereotype und ihre Folgen
Stereotype sind nicht nur kognitive Strukturen, sondern können auch für ihre Adressaten in zahlreichen Lebensbereichen verhaltensdeterminierend sein, da sie eine Reihe zumeist negativer Konsequenzen nach sich ziehen.
1) Die Untersuchungen zu ethnischen Stereotypen zählen bis heute zum klassischen Forschungsrepertoire der Sozialpsychologie. Jahrelange juristische Auseinandersetzungen in den USA zum sogenannten “Busing”-Problem wurden z.B. darüber geführt, ob schwarze und weiße Schulkinder “separat” oder “gemeinsam” zur Schule transportiert werden und dort gemeinsam am gleichen Schulunterricht teilnehmen sollten. Auch die Erfassung nationaler Stereotype oder “Nationalcharakteristika” hat nichts an Aktualität verloren (Willems, 1993).
2) Geschlechterstereotype: Bestimmte Vorstellungen über die charakteristischen Eigenschaften der Geschlechter haben vor allem für Frauen negative Folgen. Da das männliche Stereotyp instrumentelle Eigenschaften (Aktivität, Stärke, Durchsetzungsvermögen), das weibliche Stereotyp hingegen expressive Eigenschaften (Emotionalität, Abhängigkeit, Einfühlungsvermögen) vereinigt, gelten Männer und Frauen für unterschiedliche Rollen geeignet. Dies zeigt sich bspw. im Familienleben bei der ungleichen Verteilung häuslicher Tätigkeiten, auch wenn die Frau berufstätig ist, aber auch im Berufsleben, wo Frauen trotz gleicher Qualifikation nur selten die Chance erhalten, in traditionell männliche Domänen (z.B. Managementberufe) vorzudringen. Auch wenn frauenfeindliche Einstellungen längst nicht mehr so offen wie noch vor Jahrzehnten geäußert werden, belegen zahlreiche Studien, daß sexistische Einstellungen in subtilerer und weniger augenscheinlicher Weise fortbestehen. Entsprechend wurden dem Konzept des “traditionellen Sexismus” neuere Sexismuskonzeptionen an die Seite gestellt, die die Ambivalenz sexistischer Einstellungen, deren Mehrdimensionalität sowie subtilere Erscheinungsform thematisieren (Überblick: Swim, Aikin, Hall & Hunter, 1995) (Geschlechterpsychologie).

Ausblick
Auch wenn mehr Einigkeit darüber besteht, wie Stereotype gebildet und beibehalten werden, als über die Möglichkeiten ihrer Reduktion, scheint sicher zu sein, daß allein Kontakt zu anderen Gruppen zur Reduktion von Stereotypen unzureichend ist. Stereotype unterdrücken zu wollen, ist kontra-indiziert, da sich Stereotype dadurch eher verstärken und schneller aktiviert werden. Wenn überhaupt, dann versprechen minimale Veränderungen im kognitiven Kategorisierungshaushalt am ehesten andauernden Erfolg.

Literatur
Eckes, T. (1997). Geschlechterstereotype. Frau und Mann in sozialpsychologischer Sicht. Pfaffenweiler: Centaurus.
Katz, D. & Braly, K.W. (1933). Racial stereotypes of one hundred college students. Journal of Abnormal Psychology, 28, 280-290.
Krueger, J. (1966). Probabilistic national stereotypes. European Journal of Social Psychology, 26, 961-980.
Lippmann, W. (1922). Public opinion. New York: Harcourt, Brace, Jovanovich.
Swim, J.K., Aikin, K.J., Hall, W.S., & Hunter, B.A. (1995). Sexism and Racism: Old-fashioned and modern prejudices. Journal of Personality and Social Psychology, 68, 199-214.
Willems, H. (1993). Fremdenfeindliche Gewalt. Opladen: Leske +Budrich.

  • Die Autoren
Gerd Wenninger

Die konzeptionelle Entwicklung und rasche Umsetzung sowie die optimale Zusammenarbeit mit den Autoren sind das Ergebnis von 20 Jahren herausgeberischer Tätigkeit des Projektleiters. Gerd Wenninger ist Mitherausgeber des seit 1980 führenden Handwörterbuch der Psychologie, des Handbuch der Medienpsychologie, des Handbuch Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutz sowie Herausgeber der deutschen Ausgabe des Handbuch der Psychotherapie. Er ist Privatdozent an der Technischen Universität München, mit Schwerpunkt bei Lehre und Forschung im Bereich Umwelt- und Sicherheitspsychologie. Darüber hinaus arbeitet er freiberuflich als Unternehmensberater und Moderationstrainer.

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