Lexikon der Psychologie: Triebtheorie
Triebtheorie, vor allem in der Tiefenpsychologie vertretene Auffassung, derzufolge das menschliche Verhalten und Handeln durch bestimmte Grundbedürfnisse motiviert seien. Freud verstand unter Trieben Kräfte, die ihren Ursprung in einer somatischen Triebquelle haben, sich auf eine Abfolge erogener Zonen (oral, anal, phallisch) beziehen, sich in Vorstellungen und Affekten manifestieren und erlebnismäßig eine dranghafte Qualität aufweisen, wobei das Ziel eines Triebimpulses in der Aufhebung des unlustvollen Reizzustandes besteht. Bei dieser Befriedigung sind Menschen auf ein Objekt angewiesen, das aus Teilen des eigenen Körpers oder einem anderen Menschen bestehen kann. Freud hat im Lauf seines Lebens verschiedene Triebdualismen entworfen, so z.B. die von Ich- oder Selbsterhaltungstrieben und Sexualtrieb, narzißtische Libido und Objektlibido, Libido und Aggression.
Das Freudsche triebtheoretische Paradigma betrachtete den Menschen als ein Wesen, dessen Erleben und Handlungen von der Geschichte seiner psychosexuellen, narzißtischen und aggressiven Triebwünsche bestimmt sind. Persönlichkeitszüge sind nicht statische traits oder anhand von Konditionierungen entstandene Einstellungen, sondern Kompromißbildungen aus einem drangvollen Begehren, einschüchternden Verboten, schrecklichen Ängsten und schamvollen Erlebnissen. Kindliche Triebansprüche und -äußerungen, die mit den elterlichen und kulturellen Erwartungen in Konflikt geraten, müssen vom Kind unterlassen, aufgegeben oder verdrängt werden.
Die Weiterentwicklung der Psychoanalyse besteht zu einem guten Teil in einer Auseinandersetzung mit dem Freudschen Triebkonzept und mit der Auffassung von Libido und Aggression als zentrale Motivatoren menschlichen Erlebens und Handelns.
Eine Gruppe von Kritikern wandte sich schon bald gegen den Primat des dem Triebkonzept inhärenten und uranfänglichen psychosexuellen Triebgeschehens. So postulierten Sandor Ferenczi, Imre Hermann, Harald Schultz-Hencke, Michael Balint und John Bowlby an Stelle der von Freud behaupteten primär sinnlich sexuellen Lustsuche des Kleinkindes eine primäre Liebe und einen Bindungstrieb (Bindungsforschung). Damit wird aus dem zu Lebensbeginn tendenziell beziehungslosen Verhalten des Kindes, das nur die orale Lustbefriedigung mittels einer – im Grunde als austauschbar gedachten – Mutterbrust anstrebt, eine komplexe Erlebnisweise, bei der Zärtlichkeit, primäre Liebe, Bindung und Aufeinanderbezogensein zentral sind.
Die stärkere Einbeziehung der objektbeziehungstheoretischen Sichtweise ab den 50er Jahren des 20. Jh. brachte eine Relativierung der bis dato angenommenen starken Eigendynamik und Priorität des Triebhaften mit sich. Von hier war der Weg nicht mehr weit zu einer Betrachtungsweise, bei der die verinnerlichten Interaktionsrepräsentanzen, die mit einer bestimmten affektiven Erfahrung einhergehen, zu Motivatoren des Handelns werden. Wurden hierbei aber immerhin noch Triebimpulse als sich aus den Affekten entwickelnde Faktoren angesehen, so betrachtete die Selbstpsychologie H. Kohuts sexuelle und aggressive Phänomene, vor allem wenn sie sehr stark ausgeprägt sind, als tendenziell psychopathologische Erscheinungen. Triebhafte Sinnlichkeit wird als Desintegrationsprodukt des Selbstsystems aufgefaßt, dem es nicht auf normale Weise gelungen ist, ein kohärentes und vitales Selbstgefühl aufrechtzuerhalten.
Wurden nun schon bei den Objektbeziehungstheoretikern Sexualität und Aggression zwei Motivationssysteme unter mehreren, und galt es fortan als ausgemacht, daß Beziehungen ihre Bedeutung keineswegs nur aufgrund von sexuellen und aggressiven Triebbesetzungen erhalten, so wurde diese Auffassung in dem Werk von Joseph Lichtenberg (1989) systematisch ausgebaut. Er unterscheidet insgesamt fünf Motivationssysteme. Jedes dieser Systeme hat den Zweck, ein Grundbedürfnis zu regulieren oder zu befriedigen. Diese fünf Grundbedürfnisse sind: 1) das Bedürfnis nach psychischer Regulation physiologischer Erfordernisse; 2) das Bedürfnis nach Bindung und Kontakt; 3) das Bedürfnis nach Erkundung und Selbstbehauptung; 4) das Bedürfnis, via antagonistischem Verhalten oder Rückzug aversiv zu reagieren; 5) das Bedürfnis nach sinnlicher Freude und Genuß sowie nach sexueller Erregung. Damit ist nach Lichtenberg die klassische duale Triebtheorie eindeutig ad acta gelegt und die Bedeutung der Sexualität drastisch eingeschränkt.
W.M.
Literatur
Lichtenberg, J. (1989). Psychoanalysis and motivation. Hillsdale, N.J. Analytic Press.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.