Lexikon der Psychologie: Übertragung
Übertragung, wichtigster und unverzichtbarer Bestandteil der psychoanalytischen Therapie. Die Erkenntnismethode der Psychoanalyse erfordert vom Analytiker und vom Analysanden, sich auf eine weitgehend unbewußte Übertragungsbeziehung und dessen Reflexion einzulassen, d.h. auf einen lebendigen Prozeß, an dem das Unbewußte von zwei Subjekten beteiligt ist. Denn die Leiden eines Menschen sind aus psychoanalytischer Sicht nicht als isolierte Symptome zu begreifen, die aufgrund falsch gelernter oder mangelhafter Problemlösungen entstanden sind, sondern sie sind Ausdruck einer Persönlichkeit, die sich in einer intersubjektiven Matrix im Verlauf des Heranwachsens und der Sozialisation entwickelt hat. Der Analytiker wird im psychoanalytischen Prozeß zum engagierten Mitspieler eines sich nach und nach entfaltenden Dramas, das in seinen verschiedenen Szenen in vielem den traumatisierenden und konflikthaften Lebensstationen des Analysanden ähnelt, aber auch viele Neuerfahrungen aufweist, die dieser mit seinem Analytiker macht. Seitdem Freud in der Darstellung des Falles Dora (1905) zum ersten Mal auf die entscheidende Rolle der Übertragung für den Behandlungsverlauf und den Ausgang der Therapie hinwies und sie als größtes Hindernis, aber auch als das mächtigste Hilfsmittel bezeichnete, ist sie aus der Psychoanalyse nicht mehr wegzudenken. Anhand der Übertragungsanalyse suchte diese immer nach dem gefühlsmäßig am dringlichsten Punkt und stand einem bloßen Sprechen über die Symptome von Beginn an mit Skepsis gegenüber. Die Übertragung ist zudem für nicht mehr erinnerbare, z.B. prozedural kodierte Beziehungserfahrungen der frühen Kindheit, die einzige Möglichkeit, sie erlebbar zu machen. Eine Bestätigung für die Bedeutung der übertragungsanalytisch zugänglichen Erinnerungen ergibt sich ebenfalls aus dem lern- und gedächtnistheoretischen Axiom der zustandsabhängigen Erinnerung. Waren es bei Freud noch überwiegend Trieb- und Über-Ich-Impulse, die übertragen werden, so sind es aus heutiger Sicht Anteile von unterschiedlich komplexen Beziehungsrepräsentanzen, die die Wahrnehmung, das Erleben und den handelnden Umgang mit gegenwärtigen Personen beeinflussen. In der interpersonell orientierten Psychoanalyse wird davon ausgegangen, daß die Übertragung nicht nur dem vergangenen Erleben des Analysanden entstammt, sondern auch durch das Hier und Jetzt gefärbt ist. Der unterschiedlich große konarrative Einfluß des Analytikers ist also stets mitzuberücksichtigen.
Galt in den Anfängen der Psychoanalyse die Gegenübertragung des Psychoanalytikers noch als eine Verunreinigung der Objektivität des Erkennens, vergleichbar den Konzepten des Vorurteils und des Versuchsleiter-Einflusses, so setzte sich erst in den 50er Jahren die Auffassung durch, die Gegenübertragung nicht länger als überwiegend störende Subjektivität zu betrachten, sondern sie als wichtiges Diagnostikum zuzulassen. Die Gegenübertragung kann eine nicht-neurotische Reaktion, die in unterschiedlichem Ausmaß zunächst noch unbewußt ist, auf die Übertragung eines Patienten darstellen. So löst z.B. die Übertragung einer stark narzißtisch delegierenden Mutter eines Patienten im Analytiker die Reaktion aus, diesem aktiv Ratschläge erteilen oder verhaltenspädagogisch intervenieren zu wollen; diese Reaktion wird exakt als Pendant zur unbewußten Übertragung der generalisierten Mutter-Kind-Interaktion des Analysanden registriert. Die Gegenübertragung kann aber auch mit eigenen neurotischen Anteilen vermengt sein: Entsprechend dieser Auffassung ist es wichtig, auf jegliche gefühlsmäßige Reaktion, auf Phantasien und auftauchende Bilder und Vorstellungen zu achten, auch wenn diese prima vista zunächst noch keinen Zusammenhang mit den Übertragungen des Patienten erkennen lassen. Reagiert ein Analytiker auf die oben genannte Übertragung z.B. mit einem Gefühl der Langeweile, so könnte es sein, daß er auf die in ihm durch die Übertragung ausgelöste aggressive Reaktion mit Abwehr reagiert, die die Langeweile in ihm entstehen läßt. Eigene neurotische Reaktionen und Übertragungen können kodeterminierend und intervenierend zu den Äußerungen des Analysanden hinzukommen, und die Gegenübertragung ist dann nicht länger eine einfache spiegelbildliche Gegenreaktion.
W.M.
Literatur
Mertens, W. (1990/91). Einführung in die psychoanalytische Behandlung. 3 Bände. Stuttgart: Kohlhammer.
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