Lexikon der Psychologie: Vergleichende Verhaltensforschung
Vergleichende Verhaltensforschung, “klassische Ethologie”, Ethologie im engeren Sinne, ein Begriff von Konrad Lorenz zur Bezeichnung der wissenschaftlichen Erforschung tierlichen wie menschlichen Verhaltens, wobei der Vergleich der Arten untereinander im Vordergrund stand. O. Heinroth und die Nobelpreisträger K. Lorenz und N. Tinbergen gelten als Begründer dieser Verhaltensforschung in den 30er Jahren, die (in Abkehr von der vorangegangenen naiven Tierbeobachtung mit vitalistischen/außernatürlichen und anthropomorphen Deutungen) erfolgreich den Nachweis dafür gefunden haben, daß bestimmte Verhaltensweisen, die sog. Erbkoordinationen, genauso wie morphologische und physiologische Merkmale zur Beschreibung einer Art und ihrer stammesgeschichtlichen Herkunft herangezogen werden können und sich alle Organismen im Rahmen von erforschbaren Naturgesetzen bewegen. Das voraussetzungslose Beobachten auf möglichst breiter empirischer Basis, die umfassende Beschreibung des Verhaltens einer Tierart in natürlicher Umgebung sowie nach Möglichkeit die Erstellung eines Ethogramms (Aktionskatalog der Verhaltensweisen) galten als Grundlage dafür, erste Arbeitshypothesen entwickeln und allgemeine theoretische Konzepte ableiten zu können, denen gezielte, durch Experimente unterstützte Analysen folgten. Es handelte sich um ein typisch induktives Vorgehen, das den Blickwinkel nicht auf diejenigen Fragestellungen einschränkt, die von der Theorienbildung bereits in Auge gefaßt wurden, sondern hypothesengenerierende Schlüsselbeobachtungen zuläßt.
Bei anthropologischen Fragestellungen ist in der Klassischen Ethologie der Vergleich zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Primaten wichtig. Ähnlichkeiten beim Tier-Mensch-Vergleich und im Kulturenvergleich sind ein Hinweis auf die Möglichkeit einer phylogenetischen Erwerbung: Bei der Untersuchung menschlicher Populationen werden möglichst Kulturen, in denen die Menschen unter Bedingungen leben, an die wir stammesgeschichtlich angepaßt sind, mit Stadtkulturen und technisierten Zivilisationen verglichen. Hier sind die jahrzehntelangen Arbeiten von I. Eibl-Eibesfeldt und W. Schiefenhövel richtungsweisend. Mit Hilfe des Artenvergleichs werden ferner stammesgeschichtliche Entwicklungsstufen und Vorbedingungen von Verhaltensmerkmalen rekonstruiert, das phylogenetische Alter von menschlichen Verhaltensmerkmalen und Merkmalen der Psyche eingeschätzt sowie das "So-und-nicht-anders-Sein" von Verhaltensmerkmalen gedeutet. Fragestellungen betreffen aber auch angeborene Lerndispositionen, etwa in dem Sinn: Warum führt individuelles Lernen fast immer zu einer Anpassungsverbesserung?
Wissenschaftsgeschichtlich stand die Vergleichende Verhaltensforschung lange Zeit in heftiger wissenschaftlicher Kontroverse zum zeitgleich in Nordamerika dominierenden Behaviorismus, der ausgehend von einigen wenigen basalen Reflexen ein Erlernen des gesamten Verhaltensrepertoires als Reaktion auf Umwelteinflüsse durch Versuch und Irrtum postulierte. Die Vergleichende Verhaltensforschung konnte jedoch Instinkthandlungen nachweisen, die nur von handlungsbereiten Tieren auf bestimmte auslösende Reize hin ausgeführt werden. Sie differenzierte zwischen a) starr festgelegtem, kaum veränderbarem Instinktverhalten, b) durch Lernen flexibel kombinierbaren genetischen Anlagen für Verhaltensbausteine sowie erlernten Handlungen, c) die in offene Verhaltensprogramme einbaubar waren.
Immer mehr setzte sich in der Vergleichenden Verhaltensforschung die Vorstellung durch, daß eine Kausalanalyse von Verhalten nur möglich wäre, wenn die dem Verhalten zugrundeliegenden neuronalen Mechanismen erforscht werden würden, was dem Physiologen Erich von Holst Anfang der 50er Jahre mit bahnbrechenden Experimenten gelang und den Start für die Verhaltensphysiologie bedeutete. Die in den nächsten Jahrzehnten hinzukommende Neuroethologie und Verhaltensökologie und Soziobiologie kennzeichnen den Übergang zur “modernen” Ethologie, der Verhaltensbiologie, in der unmittelbare Ursachen des Verhaltens und deren Mechanismen (proximate Ebene) wie auch die biologischen Funktionen des Verhaltens (ultimate Ebene, Soziobiologie) erforscht werden (Interdisziplinarität, Universalien).
G.H.-S./J.Be./Ge.Me.
Literatur
Eibl-Eibesfeldt, I. (1999). Grundriß der Vergleichenden Verhaltensforschung. Piper: München.
Lorenz, K. (1978). Vergleichende Verhaltensforschung. Springer, Wien.
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