Lexikon der Psychologie: Verhaltensmedizin
Essay
Verhaltensmedizin
Katja Wiech und Niels Bierbaumer
Gegenstand
Verhaltensmedizin ist ein Forschungsfeld, das sich mit der Entwicklung und Integration der für Gesundheit und Krankheit relevanten Erkenntnisse und Techniken der verhaltens- und biomedizinischen Wissenschaften und mit der Anwendung dieser Erkenntnisse und Techniken für Prävention, Diagnose, Behandlung und Rehabilitation beschäftigt (Schwartz & Weiss, 1978). In Anlehnung an ihre behavioristische Tradition liegt der Schwerpunkt verhaltensmedizinischer Konzepte neben den biomedizinischen Grundlagen auf lerntheoretischen und psychophysiologischen Überlegungen zur Krankheitsentstehung und -aufrechterhaltung. Die Verhaltensmedizin geht davon aus, daß gesundheitsschädigendes Verhalten erlernt wird und durch verhaltensmedizinische Interventionen modifiziert werden kann. Experimentelle Grundlagenforschung zum Zusammenhang somatischer und psychologischer Vorgänge sowie ein Krankheitsmodell, das diese Zusammenhänge berücksichtigt, bilden in der Verhaltensmedizin die Basis für Interventionsprogramme zur interdisziplinären Behandlung einer Erkrankung.
Multikausales Bedingungsmodell
Grundlage der multikausalen verhaltensmedizinischen Sichtweise körperlicher Erkrankungen ist die Erkenntnis, daß Körper und Psyche nicht getrennt voneinander zu sehen sind, sondern psychische Vorgänge und Verhalten aus elektrochemischen Prozessen des Gehirns erklärbar sind (Leib-Seele-Problem). Demnach geht jeder psychische Prozeß mit neurophysiologischen Veränderungen einher. Ausgangspunkt dieser Psychophysiologie des Menschen waren in der Regel Erkenntnisse aus Tierexperimenten (Ethik und Tierversuche). Die wichtigsten Befunde zur Psychophysiologie stammen aus der Forschung zu Emotionen und Streß. Es konnte gezeigt werden, daß diese vormals rein subjektiv beschriebenen Phänomene eine Kombination aus kortikaler und subkortikaler Aktivität, kognitiven Operationen (z.B. Attribution), neuroendokriner Aktivität und subjektivem Erleben darstellen (Psychoneuroendokrinologie). Von besonderer Bedeutung für die Verhaltensmedizin sind daher Forschungsergebnisse zur Interaktion zwischen diesen Ebenen, die z.B. in der Psychoneuroimmunologie untersucht wird. Die Entwicklung bildgebender Verfahren hat zudem in den letzten Jahren einen wesentlichen Beitrag zur Darstellung des Einflusses von Lern- und Gedächtnisprozessen auf Struktur und Arbeitsweise des Gehirns geleistet. Die Ergebnisse verhaltensmedizinischer Grundlagenforschung führten zu einer Um- und Neuformulierung rein somatischer Ätiologie- und Therapiekonzepte. Mittlerweile sind für zahlreiche körperliche Erkrankungen (z.B. chronische Schmerzen, Krebs, Hypertonie, Epilepsie, Asthma, Colon irritabile) Bedingungsmodelle formuliert worden, die neben krankheitsspezifischen biologischen Faktoren psychologische und soziale Bedingungen berücksichtigen. Lange Zeit wurde auf der Grundlage psychoanalytischer Überlegungen postuliert, daß die Persönlichkeit des Patienten als dispositionelle Kombination von Eigenschaften von Bedeutung für die ”Wahl” der Symptomatik sei. Untersuchungen an Patienten mit verschiedenen Krankheitsbildern konnten diese Vermutung nicht stützen. Empirisch bestätigt sind vielmehr konditionierte, kognitive und emotionale Prozesse, die im Verlauf der Lerngeschichte einer Person die Einstellung zu Gesundheit und Krankheit prägen. Lernen vom Typ klassische Konditionierung wird z.B. bei Atemwegserkrankungen (z.B. Asthma) für die Ausweitung allergener Wirkungen verantwortlich gemacht. Über eine raum-zeitliche Koppelung mit dem ursprünglichen Allergen sind in der Folge auch ehemals neutrale Reize in der Lage, einen Asthmaanfall auszulösen. Operante Lernfaktoren stehen dagegen bei der Etablierung von Verhalten im Vordergrund, das die Aufrechterhaltung einer Erkrankung begünstigt. Über direkte Belohnung (z.B. Zuwendung bei anhaltendem Klagen) oder negative Verstärkung (z.B. Abnahme der Schmerzintensität bei Medikamenteneinnahme) erfährt der Patient eine Bestätigung seines Verhaltens und wird dies in Zukunft häufiger zeigen. Die Bedeutung kognitiver und emotionaler Prozesse für das Krankheitsgeschehen ergeben sich aus Beobachtungen zum Streß und zum Umgang mit streßhaften Ereignissen (Streßbewältigung oder Coping). Erst die individuelle Bewertung eines Ereignisses als bedrohlich und die Einschätzung eigener Bewältigungsmöglichkeiten als nicht ausreichend verleihen dem Ereignis die streßhafte Qualität. Die Folge ist eine somatische Streßreaktion, die durch einen erhöhten Sympathikotonus mit Anstieg der Hypophysen-Nebennierenrinden- und Nebennierenmarkaktivität gekennzeichnet ist. Ist das Individuum dem Stressor über längere Zeit ausgesetzt, führt die anhaltende Überaktivität dieser Systeme zu Schädigungen in den Effektorganen. So stehen beispielsweise passive Bewältigungsstrategien wie Rückzug oder Duldung vor allem mit Erkrankungen im Zusammenhang, die durch den Einfluß der Kortikosteroide auf den Gastrointestinaltrakt und das Immunsystem erklärbar sind (z.B. Zwölffingerdarmgeschwüre oder Asthma). Im emotionalen Erleben geht die Erfahrung, keinen oder nur geringen Einfluß auf Stressoren zu haben, mit dem Gefühl der Hilflosigkeit, Depressivität oder Angst einher (Depression). In Studien zu unterschiedlichen chronischen Erkrankungen geben die Patienten an, unter diesen Gefühlen im Zusammenhang mit ihrer Erkrankung zu leiden. Die Frage, ob diese Veränderungen bereits vor der Erkrankung bestanden und damit eventuell zu den Verursachungsfaktoren gehören oder erst als Folge der Erkrankung auftreten, läßt sich bislang nicht abschließend beurteilen. Lernprozesse beeinflussen nicht nur die Entstehung der Erkrankung (Hilflosigkeit, erlernte), sondern über die Vorstellung, welche Faktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Erkrankung verantwortlich sind (Kausalattribution) und inwieweit diese durch eigenes Handeln beeinflußt werden kann (Kontrollerwartung), auch die Krankheitsbewältigung (Patientenschulungsprogramme). Attributionsprozesse haben nicht zuletzt Einfluß auf die Wirksamkeit von Medikamenten und anderen medizinischen Maßnahmen, was am positiven Effekt wirkstoffreier Präparate (Plazebo) deutlich wird. Ausdruck dieser psychischen Faktoren ist häufig eine Lebensführung, die die Entwicklung körperlicher Erkrankungen begünstigt. Übermäßiger Alkohol- und Medikamentenkonsum, Rauchen, mangelnde Bewegung und unausgewogene Ernährung stellen insbesondere für kardiovaskuläre und gastrointestinale Erkrankungen sowie das Tumorwachstum Risikofaktoren dar.
Verhaltensdiagnostik
Wie in der Verhaltenstherapie steht vor Beginn einer verhaltensmedizinischen Intervention eine ausführliche Verhaltensdiagnostik, die sowohl körperliche wie auch psychosoziale Aspekte der Erkrankung erfassen soll. Im Anschluß an eine Verhaltensanalyse erfolgt die Formulierung eines individuellen Bedingungsmodells (SORKC-Modell), das Grundlage der Interventionsplanung ist. Die subjektive Wahrnehmung der krankheitsspezifischen Symptomatik sowie die individuelle Krankheitsverarbeitung werden vor allem mit Hilfe von Fragebögen und psychometrischen Tests erhoben. Krankheitsbegleitende Befindlichkeitsstörungen wie depressive Zustände und Ängste sollten ebenso sorgfältig erfaßt und die Ergebnisse in der Therapieplanung berücksichtigt werden. Um das Ausmaß der Erkrankung zu quantifizieren und den Patienten in seiner Eigenwahrnehmung zu schulen, wird in vielen Fällen ein Tagebuch verwendet (Tagebuchverfahren). Je nach Krankheitsbild werden mehrmals täglich Beobachtungen zu Krankheitsparametern (z.B. Intensität, Dauer, Lokalisation) sowie zur subjektiven Einschätzung (z.B. Grad der Beeinträchtigung in beruflichen, privaten und freizeitlichen Aktivitäten) festgehalten. Die Beschreibung physiologischer Parameter, denen in der verhaltensmedizinischen Therapie besondere Bedeutung zukommt, umfaßt periphere Veränderungen sowie zentralnervöse Prozesse. Zu den psychophysiologisch relevanten Meßmethoden für periphere Parameter gehören die folgenden Verfahren: Elektromyogramm (EMG), Elektrokardiogramm (EKG), Pulsplethysmogramm für die Pulsvolumenamplitude, Spirogramm für die Ermittlung der Atemfrequenz sowie die Messung des elektrischen Hautwiderstandes und Elektroenzephalogramm.
Interventionen
Verhaltensmedizinische Interventionen können an drei verschiedenen Punkten des Krankheitsgeschehens ansetzen: an den auslösenden Reizen, den gezeigten Reaktionen oder den Konsequenzen der Erkrankung. Führen bestimmte Reize zu einer Verstärkung der Symptomatik, so kann der Patient lernen, das Auftreten dieser Reize zu kontrollieren oder zu vermeiden. Eine besondere Bedeutung kommt den nachstehenden Verfahren bei der Verhinderung der Krankheitsentstehung und -chronifizierung (Prävention) zu. Im Rahmen der Edukation wird dem Patienten Wissen über sein spezifisches Krankheitsbild, die typischen Auslösesituationen und den Zusammenhang zwischen diesen auslösenden Bedingungen und seinen Symptomen vermittelt. Diese Aufklärung ermöglicht vielen Patienten erstmals eine realistische Einschätzung ihrer Erkrankung und dient u.a. dazu, Ängste und irrationale Vorstellungen über Krankheitsursache und Krankheitsverlauf abzubauen. Da die auslösenden Reize in der Regel nicht nur Umweltreize umfassen, sondern auch Kognitionen und Emotionen, gehört zum edukativen Programm auch eine Einführung in die Situationsanalyse, mit der die Patienten individuell die Verkettung von Kognitionen, Emotionen, Verhalten und Krankheitsgeschehen ermitteln können. Eine Möglichkeit zum Abbau von Auslöserbedingungen ist z.B. die Habituation oder Extinktion durch systematische Desensibilisierung. Über eine allmähliche Gewöhnung an den Reiz verliert dieser seine Auslösereigenschaft. Desensibilisierungsverfahren werden insbesondere auch zur Vorbereitung medizinischer Maßnahmen verwendet, die vom Patienten als schmerzhaft oder unangenehm empfunden werden. Mit Hilfe kognitiver Techniken (z.B. kognitiveUmstrukturierung) kann zudem eine Veränderung auslösender oder aufrechterhaltender Kognitionen erreicht werden. Viele Erkrankungen, bei denen verhaltensmedizinische Interventionen angewendet werden, sind durch eine fehlregulierte oder starke körperliche Reaktion gekennzeichnet. Eine geeignete Methode zur Veränderung der fehlregulierten Reaktion ist Biofeedback. Eine weitere Möglichkeit zur Reaktionsveränderung ist die Gegenkonditionierung. Zu den meist verwendeten Gegenkonditionierungsmaßnahmen gehören die Entspannungstechniken. Ziel ihrer Anwendung bei somatischen Erkrankungen ist die Durchbrechung anhaltender körperlicher Aktivierung z.B. in Form von Muskelspannung bei chronischen Schmerzzuständen oder erhöhter Herzfrequenz bei Hypertonie. Im Sinne lerntheoretischer Konzepte kommt den Konsequenzen bei der Aufrechterhaltung einer Störung oder Erkrankung eine besondere Bedeutung zu. Erfährt der Patient beispielsweise aufgrund exzessiven Klagens über seine Symptome besondere Aufmerksamkeit, so wird er dieses Verhalten in Zukunft häufiger zeigen, das Verhalten steht unter operanter Kontrolle. In einem systematischen Kontingenzmanagement werden lediglich die Verhaltensweisen oder Kognitionen positiv verstärkt, die mit dem Therapieziel übereinstimmen. Zu den Folgen einer chronischen Erkrankung gehört für viele Betroffene, daß mit zunehmender Dauer das Verständnis anderer für ihre Situation abnimmt. Die Folgen sind häufig der Rückzug aus sozialen Kontakten und eine allmähliche Isolierung. In einem Training sozialer Kompetenzen können sie z.B. mit Hilfe von Rollenspielen lernen, die Angst vor Ablehnung zu überwinden und Kontakte wieder befriedigender zu gestalten.
Ausblick
Für viele der verhaltensmedizinischen Interventionen liegen mittlerweile Evaluationsstudien vor, in denen die Wirksamkeit dieses Behandlungsansatzes bestätigt werden konnte (Evaluation). Auch wenn die meisten Therapieprogramme für erwachsene Patienten entwickelt wurden, können verhaltensmedizinische Konzepte ebenso bei Kindern angewendet werden. Eine Anpassung an den jeweiligen Entwicklungsstand ist dabei jedoch dringend erforderlich. Spezielle Therapieprogramme für Kinder auf der Grundlage eines multidisziplinären Ansatzes liegen bereits für einige Erkrankungen vor. Im Mittelpunkt zukünftiger Entwicklungen stehen zum einen diese Anpassung bestehender Programme an spezielle Patientengruppen (z.B. ältere Patienten, Kinder) und die Erweiterung des Therapieangebotes auf weitere Erkrankungen. Darüber hinaus werden neue Techniken wie immunobiologische, radioimmunologische, biochemische und detailliertere bildgebende Darstellungen in bezug auf ihre Aussage bei verhaltensmedizinisch behandelbaren Erkrankungen und ihre Nutzbarkeit für therapeutische Zusammenhänge untersucht.
Literatur
Schwartz, G.E. & Weiss, S.M. (1978). Yale Conference on behavioral medicin: a proposed definition and statement of goals. Journal of Behavioral Medicine, 1, 3-12.
Hellhammer, D.H. & Ehlert, U. (1991). Verhaltensmedizin: Ergebnisse und Anwendung. Bern: Huber.
Gerber, W.-D., Basler, H.-D. & Tewes, U. (1994). Medizinische Psychologie. München: Urban & Schwarzenberg.
Birbaumer, N. & Schmidt, R.F. (1996). Biologische Psychologie (3. Auflage). Berlin, Heidelberg: Springer.
Krantz, D.S. & Baum, A. (Eds.) (1998). Academy of Behavioral Medicine: technology and methods in Behavioral Medicine. New York: Lawrence Erlbaum Association.
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