Elektronenmikroskopie: 3-D-Einblicke in die Zellmaschinerie
Ein raffiniertes tomografisches Verfahren mit hoher räumlicher Auflösung führt buchstäblich vor Augen, welch ein Gedränge in Zellen herrscht und wie viel Wert Moleküle auf Teamarbeit legen.
Natürlich und lebensnah – so wünschen sich Biologen Bilder von Zellen und Molekülen. Doch die sind winzig klein und ständig in Bewegung. Um die Strukturen des Lebens überhaupt sichtbar machen zu können, unterziehen Wissenschaftler die Objekte meistens einer harschen Prozedur, bei der die Zellen einen langsamen Tod sterben und ihre empfindlichen Feinstrukturen zerstört werden. Das Ergebnis sind zweidimensionale Momentaufnahmen, die oft wenig mit dem natürlichen Zustand gemeinsam haben. Oder die Forscher achten mehr auf Details: Sie brechen die Zellen auf und isolieren die stabilsten Molekülkomplexe in mehreren Arbeitsschritten aus den Bruchstücken, um mit aufwendigen Verfahren exakte Modelle dieser vereinzelten Strukturen zu erhalten. Daraus ein räumliches Bild von einer intakten und zudem aktiven Zelle zu machen, bleibt schließlich ihrer Vorstellungskraft überlassen.
Mit einer neu entwickelten Technik, die dreidimensionale Abbilder ganzer Zellen erstellt, verschaffen sich Biologen nun auch direkte Einblicke in deren Aufbau. Ähnlich wie die bekannten tomografischen Verfahren aus der medizinischen Diagnostik verbindet diese Elektronentomografie im Computer Bildserien zu räumlichen Modellen. Auch wenn die Methode noch sehr jung ist, tragen die bis heute vorliegenden Studien bereits zu einem Umdenken in der Zellbiologie bei. Denn die hohe räumliche Auflösung führt buchstäblich vor Augen, welch ein Gedränge in Zellen herrscht und wie viel Wert Moleküle auf Teamarbeit legen.
Eigentlich ist die Idee, aus einem Satz zweidimensionaler Bilder einer Zelle ein dreidimensionales Modell zu erstellen, nicht gerade neu. Seit Mitte der 1950er Jahre konnten Wissenschaftler mit so genannten Ultramikrotomen ihre Präparate in hauchdünne Scheibchen schneiden, die für das Elektronenmikroskop geeignet waren. Dafür wurden die Zellen als Erstes chemisch fixiert, anschließend mit organischen Lösungsmitteln entwässert und in Kunststoff gebettet, um sie fest genug für den Schneidvorgang zu machen. Schweratome sollten sich als Kontrastmittel an die feinen Strukturen anlagern und sie dadurch im Bild hervorheben. Weil jedoch nicht genau bekannt war, welche Wechselwirkungen dabei auftraten, wusste man auch nicht sicher, ob die Schweratome in die Strukturen eindrangen oder nur an deren Rändern lagen.
Die Scheibchen wurden schließlich einzeln mit dem Elektronenmikroskop abgebildet und vom Bildschirm abfotografiert, in späterer Zeit manchmal im Computer miteinander kombiniert. In der jeweiligen Schnittebene waren so noch Objekte zu erkennen, die nicht mehr als vier Nanometer (vier millionstel Millimeter) groß waren. Senkrecht dazu lag die Auflösung jedoch nur bei fünfzig Nanometern, der Dicke eines Schnitts. Das war immerhin ausreichend, um den Feinbau von Zellen zu entschlüsseln. Einen Großteil des heutigen Wissens über Zellstrukturen haben Biologen auf diese Weise gewonnen. Will man jedoch das Verhalten der wahren Akteure des Lebens, der Moleküle, verstehen, braucht man eine erheblich bessere Auflösung, und zwar in alle drei Raumrichtungen.
Im Jahre 1968 veröffentlichten drei Arbeitsgruppen unabhängig voneinander Artikel, in denen sie ein anderes Prinzip beschrieben, das ohne Schnitte auskommt. Wie bei einer traditionellen medizinischen Röntgenaufnahme von einem Patienten entsteht bei konventioneller Elektronenmikroskopie ein zweidimensionales Abbild des inneren Aufbaus einer Zelle. Für eine räumliche Darstellung musste man Bilder, die aus verschiedenen Projektionsrichtungen aufgenommen wurden, im Computer miteinander kombinieren.
Zellen im Kälteschlaf
Praktisch ist es dafür allerdings nötig, das zu mikroskopierende Objekt im Strahl zu drehen und aus möglichst vielen Blickwinkeln Aufnahmen zu machen. Das Präparat ist also sehr lange der Elektronenstrahlung ausgesetzt und zerfällt darin regelrecht; etwa die Hälfte der Masse eines in Kunststoff gebetteten Objekts kann so verloren gehen. An eine naturgetreue Abbildung von Zellen und ihren Bestandteilen war unter diesen Bedingungen natürlich nicht zu denken. Und so fiel die Methode der Elektronentomografie bis auf wenige Pionierstudien erst einmal für mehrere Jahrzehnte in einen Dornröschenschlaf.
Vor allem zwei Arbeitsgruppen haben die Idee weiter verfolgt – eine in USA, eine in Deutschland. Mit computergesteuerten Elektronenmikroskopen zur Positionierung der Probe und mit empfindlichen digitalen Kameras gelang es ihnen im Verlaufe der 1990er Jahre, einen Großteil der technischen Schwierigkeiten zu lösen. Während das Team an der Universität von Kalifornien in San Francisco sich hauptsächlich auf relativ dicke Objekte konzentriert, die in Kunststoff eingebettet werden, steht am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried die Forschung an schockgefrorenen Zellen und an den darin befindlichen Molekülkomplexen im Vordergrund.
Dafür werden die Proben innerhalb von Sekundenbruchteilen auf die Temperatur von flüssigem Stickstoff (-196 °C) abgekühlt. Den Wassermolekülen bleibt dabei keine Zeit, das typische Kristallgitter von Eis einzunehmen, sie verharren stattdessen in einem amorphen Zustand. Diese als Kryofixierung bezeichnete Technik friert die Zelle buchstäblich schlagartig ein, ohne die empfindlichen Strukturen in ihrem Inneren zu beschädigen. Würde man die ganzen Zellen wieder auftauen, wären viele von ihnen weiterhin lebensfähig. Die Temperatur wird jedoch während der gesamten Untersuchung – also auch bei der Betrachtung im Elektronenmikroskop – mit flüssigem Stickstoff niedrig gehalten. Im Gegensatz zu der klassischen Einbettung in Kunststoff sind die Zellen bei der Kryofixierung somit lebendig oder zumindest in einem sehr lebensnahen Zustand.
Die schockgefrorene Probe kommt in ein Elektronenmikroskop, das für Aufnahmen bei Tiefsttemperaturen ausgelegt ist. Da das Objekt aus mehreren Winkeln aufgenommen werden soll, muss es möglich sein, den Probenhalter im Mikroskop zu kippen. In Größenbereichen von tausendstel Millimetern stellt dies hohe Anforderungen an die Präzision der Mechanik, damit das Objekt nicht zu sehr aus dem Fokus des Elektronenstrahls oder gar aus dem Blickfeld gerät. Die Martinsrieder Wissenschaftler haben für diese Aufgabe eine automatisierte Prozedur entwickelt, die schneller und zuverlässiger ist als manuelle Korrekturen. So konnten sie die Strahlenbelastung der Probe während des Neujustierens auf ein Minimum herabsenken, und nur Elektronen, die zur Bilderzeugung genutzt werden, belasten das Objekt.
Für ein räumliches Modell von guter Qualität muss das Präparat schrittweise über einem möglichst großen Winkelbereich mit kleinen Drehungen von ein bis zwei Grad zwischen den Einzelbildern aufgenommen werden. Dem steht jedoch das Risiko entgegen, dass die Elektronen die empfindlichen Strukturen beschädigen und im schlimmsten Fall eine Rekonstruktion des Objekts im Computer unmöglich machen. Die Forscher müssen daher mit einem Kompromiss zwischen den beiden widersprüchlichen Anforderungen arbeiten. Sie regeln den Elektronenstrahl so, dass die Gesamtdosis bei allen Aufnahmen zusammen unter einem kritischen Schwellenwert bleibt. Jede einzelne Projektion ist deshalb extrem "unterbelichtet" und enthält gerade so viele Informationen, dass sie mit den benachbarten Ansichten zur Deckung gebracht werden kann.
Die rekonstruierte Zelle kann der Wissenschaftler dann am Computer nach Belieben in Schichten zerlegen und Strukturen im Inneren erkennen, ohne die echte Zelle jemals zerschnitten zu haben. Insgesamt reicht die Auflösung aus, um viele große Moleküle schon anhand ihrer Form zu identifizieren. Eine solche Rekonstruktion zeigt Strukturen, die mit keiner anderen Methode sichtbar gemacht werden könnten.
Allerdings nimmt auch die Qualität der Tomogramme mit steigender Objektdicke ab. Fallen die Elektronen beispielsweise nicht direkt von oben nach unten durch die Probe, sondern schräg in einem siebzig Grad flacheren Winkel müssen sie schon aus geometrischen Gründen fast die dreifache Strecke durch Material zurücklegen. Bei kleineren biologischen Objekten macht das nicht viel aus.
Viren, Bakterien und die als Organellen bezeichneten Körperchen aus Zellen höherer Organismen können als Ganzes aufgenommen werden; dabei werden derzeit Auflösungen von etwa vier Nanometern erreicht. Strukturen, die dicker als ein tausendstel Millimeter sind, müssen jedoch vor der Tomografie bei tiefen Temperaturen in Scheiben geschnitten werden. Dies ist vor allem bei Zellen höherer Organismen und bei Zellverbänden der Fall.
Computerschulung an Phantomzellen
In Zukunft soll die Grenze des Erkennbaren weiter verschoben werden bis hin zu zwei Nanometern. Dann ließen sich auch molekulare Vorgänge, die in jenen Größenordnungen ablaufen, studieren. Die Elektronentomografie schließt somit die Lücke zwischen der Lichtmikroskopie, deren Objekte ganze Zellen oder übergeordnete Strukturen sind, und den hochauflösenden Techniken wie Röntgenstrukturanalyse, mit denen Wissenschaftler den atomaren Aufbau einzelner Moleküle ermitteln (Kasten rechts). Lichtmikroskopische Bilder liefern zwar einen guten Überblick von lebenden Zellen, zeigen aber keine molekularen Details. Daran mangelt es bei Molekülmodellen keinesfalls, doch wo die Stoffe in der Zelle vorkommen, wie sie interagieren und welche Funktion sie dort auf welche Weise ausüben, ist nicht ersichtlich. Biochemische Versuche, bei denen verschiedene Moleküle im Reagenzglas miteinander reagieren, geben keine endgültige Antwort, ob diese Abläufe auch in der Zelle wirklich so vor sich gehen. Zudem überstehen nur relativ fest verbundene Komplexe die einzelnen Isolierungsschritte, und seltene oder nur kurzzeitig zusammengelagerte Molekülgruppen werden dabei leicht ganz übersehen.
Da die Zellen oder ihre Scheibchen bei der Datenaufnahme in einem lebensnahen Zustand sind, könnte die Elektronentomografie mit Bildern, die buchstäblich aus dem Leben gegriffen sind, eine Verbindung von Detail und Übersicht liefern. Dazu ist es jedoch notwendig herauszufinden, welche Zellstrukturen und Moleküle sich hinter den grauen Schattierungen und Körnungen in der rekonstruierten Zelle verbergen.
Die Aufgabe gleicht der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen, weshalb die Wissenschaftler in Martinsried sie vom Computer erledigen lassen. Die ersten Versuche führten sie nicht an echten Zellen durch, sondern an so genannten Phantomzellen – künstlichen membranumgebenen Hohlkügelchen, die sie mit wenigen, genau bekannten Proteinen gefüllt hatten. Damit die Aufgabe nicht zu einfach für den Computer wurde, handelte es sich allerdings um verschiedene Proteinarten mit sehr ähnlicher Gestalt.
Quasi als Steckbrief der gesuchten Objekte dienten genaue Strukturdaten, wie sie beispielsweise mit Röntgenanalysen an Kristallen des jeweiligen Proteins gewonnen und heutzutage in großer Zahl aus elektronischen Datenbanken abgefragt werden können. Anhand dieser räumlichen Vorlagen durchsuchen spezielle Programme dann die tomografische Rekonstruktion. Erschwert wird ihre Arbeit dadurch, dass die Proteine um jede beliebige Achse gedreht sein können. Bei echten Zellen kommt noch hinzu, dass viele Proteine in verschiedenen Zuständen auftreten, in denen sie unterschiedlich geformt sind. Von manchen dieser Varianten liegen keine hinreichend genauen Strukturdaten vor, sodass die Programme sich in solchen Fällen nur nach ungefähren Vorlagen richten können.
Selbst unter den vereinfachten Bedingungen der Phantomzellen müssen sie so viele mögliche Blickwinkel und Orientierungen der Moleküle berücksichtigen, dass ein einzelner Mikroprozessor schon zur schrittweisen Überprüfung eines winzigen Teilvolumens des Tomogramms mehrere Tage benötigen würde. Deshalb wählen die Programme in einem ersten groben Vorlauf jene Regionen aus, die überhaupt Teilchen passender Größe enthalten, und führen darin anschließend eine genauere Kontrolle durch. Dabei werden die einzelnen viel versprechenden Regionen auf mehrere Prozessoren aufgeteilt und parallel überprüft, wodurch die Rechenzeit bis zur fertigen Verteilungskarte der Proteine auf einige Stunden herabsinkt. Im Prinzip ließe sich auf diese Weise die Gesamtheit aller Proteine einer Zelle, das so genannte Proteom, in einem lebensnahen Schnappschuss bei der Arbeit beobachten.
Ist ein Tomogramm einmal erstellt, können Wissenschaftler es, wenn später passende Strukturdaten für irgendein beliebiges Molekül hinzukommen, erneut durchsuchen. Zusätzliche Markierungen mit Goldkörnchen, die im Elektronenmikroskop mit hohem Kontrast erscheinen, dienen nur als Orientierungspunkte für den Computer, damit er die vielen Einzelbilder korrekt miteinander kombinieren kann. Denn die Metallkügelchen kommen nicht in die Zellen, sondern nur auf den Objektträger und in das Eis. Die Proteine und makromolekularen Komplexe selbst erkennt der Computer ohne jede Markierung an ihren Formen.
Auch die Wechselwirkungen verschiedener Moleküle untereinander sind ein interessantes Anwendungsfeld für die Elektronentomografie. Viele dieser Kontakte sind nur schwach oder von kurzer Dauer. Bei einer biochemischen Präparation zerfallen solche Komplexe leicht, für ein Tomogramm werden sie hingegen blitzschnell durch Einfrieren fixiert. Sogar ganze Reaktionsketten ließen sich mit all ihren Teilschritten entschlüsseln. Denn da wirklich jedes einzelne Teilchen in seinem aktuellen Zustand zum Zeitpunkt der Fixierung eingefroren ist, wäre es möglich, individuelle Unterschiede von Molekülen einer Sorte zu untersuchen. Ein und dasselbe Tomogramm kann so immer wieder nach unterschiedlichen Fragestellungen analysiert werden.
Wie Luftbildaufnahmen einer geschäftigen Baustelle
Zur Demonstration der Möglichkeiten haben die Wissenschaftler am Max-Planck-Institut den Aufbau des Zellskeletts und seine Verbindungen zur Zellmembran am Beispiel der überaus beweglichen sozialen Amöbe Dictyostelium discoideum untersucht. Viele Proteine dieses Einzellers, auch die seines "Innengerüsts", ähneln übrigens Eiweiß-Sorten in menschlichen Zellen. Sein Zellskelett besteht aus einem Netzwerk von Aktin-Molekülen, das beim Kriechen auf einer Oberfläche, bei der Nahrungsaufnahme und bei der Zellteilung innerhalb von Sekunden umgebaut wird. Eine ganze Reihe verschiedener Proteine ist an dieser Aktion beteiligt, während andere mithelfen, die unbeteiligten Abschnitte des Zellskeletts stabil zu halten.
Die Tomogramme der Amöben zeigen an den Zellrändern dicht gepackte Ansammlungen von Aktin-Fäden und Ribosomen, den Proteinfabriken der Zellen (Bild rechts). Dies deutet auf einen regen Umsatz von Proteinen hin: Ständig werden Aktin-Bausteine entfernt oder hinzugefügt und müssen in den Ribosomen nachproduziert werden. In manchen Regionen kreuzen sich die Aktin-Stränge oft, in anderen liegen sie eher parallel zueinander, wobei spezielle Verbindungsproteine die Kontakte zwischen ihnen herstellen. Auch dort, wo das Zellskelett auf die Membran trifft, scheinen bestimmte Proteine die beiden Strukturen miteinander zu verknüpfen. Häufig ist im Tomogramm an diesen Stellen ein Knick im Aktin-Strang zu sehen. Wie eine Luftbildaufnahme von einer geschäftigen Baustelle liefert das rekonstruierte Zellmodell einen Überblick von dem Geschehen. In Kombination mit dem Wissen aus biochemischen und genetischen Untersuchungen lassen sich dessen einzelne Akteure identifizieren und lokalisieren.
Die Studie des Zellskeletts repräsentiert lediglich ein erstes Beispiel für die heutigen Möglichkeiten der Elektronentomografie. Doch schon ein kurzer Blick auf die Bilder macht klar, dass in der Zellbiologie ein Umdenken vonnöten ist: Hatten lange Zeit Zellen als weitgehend leere Räume gegolten, durch die Moleküle relativ ungehindert zu diffundieren vermögen, kann nun jeder leicht sehen, welches Gedränge in Wirklichkeit herrscht. Trotz eines Wasseranteils in Zellen von rund siebzig Prozent füllen Proteine und andere große Moleküle das Innere weitgehend aus. Theoretischen Berechnungen zufolge beträgt der Abstand eines durchschnittlichen Proteins zu seinen Nachbarn nicht mehr als ein Viertel seines eigenen Radius. Tomogramme, in denen mehrere Zellstrukturen und Molekülkomplexe gleichzeitig farblich hervorgehoben werden, zeigen deutlich, dass Zellen wie moderne Fabriken durchorganisiert sind und dass Proteine, die gemeinsam an einer Aufgabe arbeiten, oft auch räumlich eng benachbart vorliegen (Bild Seite 50). Die Vorstellung von übersichtlichen Anordnungen und weiten Freiräumen, wie sie Lehrbücher oder der Blick durch das Lichtmikroskop suggerieren, gehört damit der Vergangenheit an.
Obwohl Elektronentomogramme die eindrucksvollsten Bilder vom Getümmel in den Zellen liefern, stellt gerade dieses Gedränge die Entwickler der Methode vor gewaltige Schwierigkeiten. Denn je enger die Strukturen aneinander liegen, umso häufiger berühren oder verformen sie sich gegenseitig. Ohne wenigstens einen kleinen Abstand verschmelzen die Komplexe jedoch bis zur Unkenntlichkeit und lassen sich nicht mehr voneinander unterscheiden. Wollen Wissenschaftler dennoch zwischen den ver-schiedenen Strukturen und Proteinen differenzieren können, brauchen sie Tomogramme mit einer höheren Auflösung. Die ließe sich beispielsweise erreichen, wenn die Präparate widerstandsfähiger gegen den Elektronenstrahl wären. Allerdings müssten die Proben dafür auf noch niedrigere Temperaturen abgekühlt werden, um Strahlenschäden zu vermeiden. Als Kühlmittel bietet sich flüssiges Helium an, das kälter als -260 °C ist und in der neuesten Generation von Elektronenmikroskopen verwendet werden kann.
Gute Ergebnisse haben die Martinsrieder Forscher auch mit einem selbst konstruierten Probenhalter gemacht, den sie um zwei statt nur um eine Achse drehen können. Ihren Standardhalter können sie um etwa siebzig Grad nach links und rechts kippen, mehr erlaubt die Geometrie der Technik nicht. Es bleibt ein "toter Winkel", der mit einem Kippmechanismus um zwei Achsen kleiner ist. Dadurch nimmt das Ausmaß von Verzerrungen in den Tomogrammen ab. Weitere Verbesserungen sind schließlich an den Detektoren der Mikroskope geplant. Bislang treffen die Elektronen hinter der Probe auf einen Szintillationsschirm und erzeugen dort ein Bild, das eine CCD-Kamera über Lichtleiter aufnimmt, digitalisiert und an den Computer weiterleitet (siehe Kasten Seite 48). Mit einer optimierten Anordnung, die weniger anfällig für Störeffekte ist, könnte die Leistungsfähigkeit des Systems möglicherweise verdoppelt werden. Eine Auflösung von zwei Nanometern auch für größere Zellen halten die Martinsrieder in Zukunft für realistisch.
Mit der Entwicklung und Verbreitung der Elektronentomografie gewinnen Biologen neue Einblicke in die Zelle und ihre Lebensvorgänge. Auf anschauliche Weise können sie die detaillierten Erkenntnisse über einzelne Molekülkomplexe in den zellulären Zusammenhang einordnen. Da Tomogramme die Zelle in ihrer Gesamtheit und mit allen Details abbilden, wird in Zukunft die Herausforderung weniger darin bestehen, Daten mit hohem Informationsgehalt zu gewinnen, als vielmehr darin, die relevanten Informationen aus der Fülle zu extrahieren.l
Literaturnachweise
Macromolecular Architecture in Eukaryotic Cells Visualized by Cryoelectron Tomography. Von Ohad Medalia et al. in: Science, Bd. 298, S. 1209, 8. November 2002.
In Vivo Veritas: Electron Cryotomography of Cells. Von Jürgen M. Plitzko et al. in: Trends in Biotechnology, Bd. 20, Nr. 8 (Suppl.), S. 40, 2002.
Perspectives of Molecular and Cellular Electron Tomography. Von Abraham J. Koster et al. in: Journal of Structural Biology, Bd.120, S. 276, 1997.
Glossar
- Bei der Kryofixierung werden biologische Proben in Bruchteilen von Sekunden auf die Temperatur von flüssigem Stickstoff (-196 °C) abgekühlt. Die Strukturen bleiben in ihrem natürlichen Zustand und sind häufig noch lebensfähig.
- Elektronentomografie ist ein Verfahren, mit dem zweidimensionale elektronenmikroskopische Aufnahmen von Zellen oder Zellteilen zu einem hoch aufgelösten dreidimensionalen Modell kombiniert werden.
- Die Kryo-Elektronentomografie ist eine neue Methode, die durch eine Kombination der beiden genannten Methoden räumliche Abbilder lebensnaher Objekte erzeugt.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2003, Seite 44
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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