Zoologie: Aktive Atmung bei Insekten
Nach bisheriger Meinung werden Insekten über ein verzweigtes Röhrensystem rein passiv mit Sauerstoff versorgt. Doch nun zeigten Untersuchungen mit einem leistungsfähigen Röntgenmikroskop, dass die vermeintlich starren Röhren rhythmisch pulsieren können.
Letztlich war es Zufall. Für gewöhnlich erkundet Wah-Keat Lee die Struktur unbelebter Materie. Nur aus einer Laune heraus hatte er eine Ameise unter sein spezielles Röntgenmikroskop gelegt – und war hellauf begeistert: Die Aufnahmen, die der Synchrotron-Teilchenbeschleuniger lieferte, zeigten detailgetreu das Innenleben des Tieres. Die "Advanced Photon Source" (APS) des Argonne-Nationallaboratoriums bei Chicago (Illinois) beschleunigt Elektronen auf einem 1104 Meter langen Rundkurs fast auf Lichtgeschwindigkeit. Dabei geben die Teilchen, die zusätzlich zu einer Slalombewegung gezwungen werden, intensive Röntgenstrahlung ab, die so stark gebündelt ist, dass sie sich auf sehr kleine Objekte fokussieren lässt – so zum Beispiel auf die inneren Organe von Insekten.
Doch mit der Anatomie von Tieren kannte sich der Physiker nicht aus. Deshalb wandte er sich an Mark Westneat, Kurator am Field Museum of Natural History in Chicago. Gemeinsam erkannten sie die enormen Möglichkeiten der neuen Untersuchungsmethode. Und so trommelten sie eine Mannschaft aus Biomechanikern und Zoologen zusammen, die sich nun schon seit zwei Jahren einem faszinierenden Thema widmet: der Atmung der Insekten. Dabei entdeckte die Truppe, dass die Tiere noch auf ganz andere Art Luft holen können als bisher gedacht (Science, Bd. 299, S. 558).
Nur starre Röhren zum Luftholen?
In allen einschlägigen Lehrbüchern steht, dass hohle Röhren die Sauerstoffversorgung der Insekten gewährleisten. Diese so genannten Tracheen beginnen an der Körperoberfläche mit verschließbaren Atemöffnungen und durchziehen von dort aus den gesamten Organismus. Dabei werden die Äste immer feiner. Besonders stark verzweigen sie sich an Stellen hohen Sauerstoffbedarfs – so an den Flugmuskeln und im Kopfbereich. Der Gastransport erfolgt durch passive und damit recht langsame Diffusionsprozesse. Dabei entscheidet das Druckgefälle zwischen Körpergewebe und feinster Tracheen-Endzelle (Tracheole) darüber, wie viel Atemgas übertritt.
Ein zentrales Organ zur Steigerung des Sauerstofftransports an die Gasaustauschfläche und des Abtransports von Kohlendioxid – analog zur menschlichen Lunge – hatte man bei Insekten bisher nicht gefunden. Nur eine "intermittierende Atmung" durch Veränderung der Körperform war als unterstützende Maßnahme bekannt. Beispielsweise flachen Käfer sowie Lang- und Kurzfühlerschrecken bei hohem Sauerstoffbedarf ihren Körper ab, während Zweiflügler und Hautflügler ihr Hinterteil teleskopartig verkürzen. Diese Bewegungen lassen den Blutdruck ansteigen, was die Tracheen zusammendrückt und die mit Kohlendioxid angereicherte Luft herauspresst (Exspiration).
Das anschließende Einatmen (Inspiration) geschieht passiv: Die Röhren dehnen sich wegen der Elastizität ihrer Wände wieder aus und saugen dabei Luft ein. Zwar ähneln diese im Hinterleib stattfindenden Bewegungen einer aktiven Atmung, aber als Organ, das wie unsere Lunge ein Leben lang rhythmisch Luft pumpt, schien das Tracheensystem nicht zu funktionieren.
Doch jetzt sind sich die Insektenforscher nicht mehr sicher. Als das Team um Lee und Westneat lebende Insekten mit Röntgenstrahlung der Advanced Photon Source durchleuchtete, machte es eine erstaunliche Entdeckung. Die erhaltenen Echtzeitfilme zeigten, dass die Tracheen auch im Vorderkörper, speziell im sehr starren Kopf und im ersten Brustsegment (Prothorax), pulsieren können. Sogar verzweigte Röhren höherer Ordnung wurden dabei in rascher Folge aktiv zusammengezogen und wieder gedehnt. Wie sich bei insgesamt zwölf Zweiflügler-Arten nachweisen ließ, tritt diese Atmung unabhängig von Körperbewegungen auf.
Bei drei der zwölf Spezies – Laufkäfer (Platynus decentis), Riesenameise (Camponotus pennsylvanicus) und Heimchen (Achaeta domesticus) – führten die Forscher eine genaue Analyse des Respirationszyklus von einer Ausatmung zur nächsten durch. Die gemessenen Atemfrequenzen variierten zwischen 0,7 Hertz beim Laufkäfer und 0,4 Hertz bei der Ameise. Dabei dürfte es sich um Maximalwerte handeln, da die intensive Strahlung und starke Wärmeentwicklung während der Untersuchung eine hohe Belastung für die Tiere bedeutete.
Noch ist allerdings unklar, welcher Motor die rhythmische Atembewegung antreibt. Nach Meinung des Entomologen Oliver Betz, des einzigen Deutschen im Team, könnten spezielle Muskelgruppen die einheitliche Bewegung im Vorderkörper erzeugen. Aber auch ein bislang unentdecktes Organ, das die Pulsation steuert, ist nicht auszuschließen.
Eroberung des Festlands dank besserer Sauerstoffversorgung
In jedem Fall scheint die Atmung ähnlich effizient wie beim Menschen zu sein. So ergaben Berechnungen, welche die Forscher anhand der beobachteten Inspirations- und Exspirationsvorgänge anstellten, dass sowohl das Verhältnis des ausgetauschten zum gesamten Gasvolumen in den Tracheen als auch die Geschwindigkeit dieses Austausches ähnlich hoch ist wie bei einer Person, die leichte sportliche Übungen verrichtet. Demnächst geplante Experimente, bei denen während der Beobachtung im Röntgenmikroskop die Menge an einströmendem Sauerstoff und ausströmendem Kohlendioxid gemessen wird, sollen konkrete Daten dazu liefern.
Schon jetzt lässt sich sagen, dass die aktive tracheale Atmung von großer Bedeutung für die Evolution der Insekten gewesen sein muss. Erst sie dürfte besondere Leistungen wie schnelles Laufen oder Fliegen ermöglicht haben. "Zugleich war sie wohl eine Grundvoraussetzung für komplexe Sinnesfunktionen, die eine gute Sauerstoffversorgung des Gehirns erforderten", vermutet Betz. Auch eine bessere Versorgung des Komplexauges und der Mundwerkzeuge könnte entscheidend zum Siegeszug landbewohnender Insekten beigetragen haben.
Je nachdem, wie verbreitet der neue Atemmechanismus ist und wie sein Motor aussieht, eignet er sich vielleicht auch als systematisches Merkmal, das den Stammbaum der Insekten genauer klären hilft. Bis heute streiten sich Entomologen sowohl über einzelne Zweige als auch über das Wurzelsystem der Klasse Insecta. Erst vor kurzem weckten Ergebnisse einer neuen DNA-Analyse sogar Zweifel, ob die Sechsbeinigkeit wirklich, wie bisher gedacht, ein charakteristisches Unterscheidungsmerkmal dieser riesigen Tiergruppe ist. Demnach schlugen die als Urinsekten geltenden Springschwänze schon lange, bevor sich im Stammbaum der Gliederfüßer die Insekten beispielsweise von den Krustentieren trennten, unabhängig einen Weg auf sechs Beinen ein (Science, Bd. 299, S. 1887).
Das Argonne-Team erwartet, in fünf bis maximal zehn Jahren Klarheit über die phylogenetische Bedeutung des Motors der Pulsationen gewonnen zu haben. Zunächst aber konzentriert es sich auf die Verbesserung der Röntgenmethode. Vor allem die Überlebenszeit der durchleuchteten Tiere soll verlängert werden; denn noch halten die Winzlinge wegen der Hitze nur etwa 15 Minuten durch.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2003, Seite 20
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