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Als die Erde ein Eisklumpen war

Vor Hunderten von Millionen Jahren wechselte unser Planet zwischen Tiefgefrierphasen, in denen er unter einer dicken Eisschicht erstarrte, und extremen Treibhausperioden. Organismen, die diese ernormen Klimaschwankungen überlebten, schufen die erste komplexe Tierwelt.


Die Frühmenschen in Eurasien hatten es nicht leicht. Zur tagtäglichen Bedrohung durch Säbelzahntiger und zottelige Mammuts kam als langfristige Herausforderung ein äußerst raues Klima. Während der letzten Jahrmillion folgte eine Kältephase auf die andere. Auf dem Höhepunkt der jüngsten Eiszeit vor 20000 Jahren bedeckten mehr als zwei Kilometer mächtige Gletscher große Teile Europas.

So unwirtlich diese Lebensbedingungen waren, so verblassen sie vor dem, was einige unserer mikroskopisch kleinen stammesgeschichtlichen Ahnen vor etwa 600 Millionen Jahren erdulden mussten. Kurz vor dem Erscheinen von ersten tierischen Lebensformen mit Kalkschalen – im so genannten Neoproterozoikum – herrschte eine Eiszeit von solchen Ausmaßen, dass selbst die Tropen zufroren.

Stellen Sie sich eine Erde vor, die für zehn Millionen Jahre oder länger als kosmischer Schneeball durchs All rast. Zwar verhindert der Wärmefluss aus dem noch immer heißen Erdinneren, dass die Ozeane bis auf den Grund gefrieren. Aber bei Temperaturen um –50 Grad Celsius überzieht ein kilometerdicker Eispanzer die Weltmeere. Die noch primitiven Organismen auf dem Planeten gehen sämtlich zu Grunde – bis auf einen winzigen Rest von besonders zähen Gesellen.

Abgesehen vom stetigen Schürfen der Gletscher und dem Bersten des Meereises durchbrechen nur Vulkane die tödliche Erstarrung. Sie bohren sich wie Schweißbrenner durch die gefrorene Erdoberfläche und speien ihre glühende Lava aus. Wichtiger aber ist ein Gas, das sie in die Luft blasen: Kohlendioxid. Es lässt den Planeten, der für ewig zur Eiswüste verdammt scheint, schließlich doch wieder aus seinem Kälteschlaf erwachen.

Kohlendioxid ist ein Treibhausgas, das Wärme speichern kann. Normalerweise wird es durch chemische Prozesse fortwährend der Atmosphäre entzogen und als Carbonat in Gestein gebunden. Doch auch diesen geochemischen Kreislauf hat der weltweite Frost lahm gelegt. Dadurch kann sich das Kohlendioxid der Vulkane auf Rekordwerte anreichern. Mit seinem Treibhauseffekt erwärmt es den Planeten, und das Eis beginnt zu schmelzen. Das Auftauen dauert nur einige hundert Jahre, und nun kippt das Klima in das andere Extrem um: Da der wieder freigelegte Erdboden und das Meerwasser Sonnenstrahlung sehr viel stärker absorbieren als Schnee und Eis, heizt sich die Erde zusätzlich auf: Alle Lebewesen, die das Kühlhaus überlebt haben, finden sich plötzlich in einer Sauna wieder.

So unwahrscheinlich es auch klingen mag, sehen wir deutliche Hinweise darauf, dass sich ein derart jäher Klimaumschwung – der extremste, den man sich auf unserem Planeten vorstellen kann – vor 580 bis 750 Millionen Jahren vier Mal ereignet hat. Wissenschaftler waren lange der Meinung, das Klima der Erde sei nie wirklich extrem gewesen. Gewaltige Temperatursprünge hielten sie eher auf anderen Planeten wie der Venus für möglich (siehe "Klima und Vulkanismus auf der Venus" Spektrum der Wissenschaft, 5/1999, S. 38). Erste Hinweise auf die raue Vergangenheit der Erde tauchten zwar schon in den frühen sechziger Jahren auf, aber erst in den letzten acht Jahren fanden unsere Kollegen und wir neue Indizien, mit deren Hilfe wir die irdische Klimageschichte genauer rekonstruieren konnten. Das Ergebnis lässt Geologen, Biologen und Klimatologen gleichermaßen aufhorchen.

Mächtige uralte Felsschichten bieten den einzigen Schlüssel zum Klima des Neoproterozoikums. Doch jahrzehntelang schien dieser Schlüssel voller Widersprüche zu sein. Das erste Paradoxon war das Auftreten von Gletscherabraum nahe dem Meeresspiegel in den Tropen. Heute können sich Gletscher in Äquatornähe nur oberhalb von 5000 Metern Höhe halten. Selbst in den kältesten Perioden der letzten Eiszeit reichten sie nie tiefer als bis auf 4000 Meter herab.

Außerdem sind mit dem Gletscherschutt ungewöhnliche Ablagerungen von stark eisenhaltigem Gestein vermischt. Diese können sich nur gebildet haben, wenn Ozeane und Atmosphäre im Neoproterozoikum wenig oder gar keinen Sauerstoff enthielten. Doch andererseits weiß man, dass die Lufthülle damals bereits fast dieselbe Zusammensetzung hatte wie heute. Um die Verwirrung komplett zu machen, scheint Gestein, das sich normalerweise in warmem Wasser bildet, schon kurz nach dem Zurückweichen der Gletscher entstanden zu sein. Wenn die Erde jemals so kalt war, dass sie völlig zufror, wie kann sich das Meerwasser dann wenig später schon wieder derart erwärmt haben? Zudem weisen die Kohlenstoff-Isotope in den Gesteinen darauf hin, dass die biologische Produktivität lange Zeit darniederlag. Wie kam es zu dem dramatischen Niedergang des Lebens?

All diese lange ungelösten Rätsel erhalten plötzlich einen Sinn, wenn man sie als Schlüsselereignisse in der Geschichte eines "Schneeballs namens Erde" ansieht. Vor eineinhalb Jahren stellten wir unsere Schneeball-Erde-Theorie in der Zeitschrift "Science" erstmals vor. Seither hat sie in Wissenschaftlerkreisen vorsichtige Zustimmung gefunden. Wenn wir Recht behalten, wird unsere Theorie aber nicht nur die Klimarätsel des Neoproterozoikums lösen und die bisherigen Annah-men zur Stabilität des irdischen Klimasystems in Frage stellen. Vermutlich wirft sie auch ein neues Licht auf die Entwicklung des Lebens. Die extremen Vergletscherungen ereigneten sich direkt vor einer rasanten Auffächerung der mehrzelligen Lebensformen, die in der so genannten kambrischen Explosion vor 575 bis 525 Millionen Jahren gipfelte – der sprunghaften Entfaltung einer vielgestaltigen Fauna und Flora. Ironischerweise könnten die langen Zeiten der Isolation und die extremen Umweltbedingungen auf einer Schneeball-Erde die Mutationsrate beschleunigt und so den enormen Evolutionsschub im Kambrium begünstigt haben.

Die Fahndung nach den überraschend handfesten Belegen für diese Klima-Eskapaden hat uns um die ganze Welt geführt. Inzwischen untersuchen wir Gestein aus dem Neoproterozoikum in Australien, China, dem Westen der USA und den arktischen Svalbard-Inseln. Doch 1992 begannen wir unsere Forschungen an den Felsklippen der Skelettküste Namibias. Im Neoproterozoikum gehörte dieser Teil Südwestafrikas zu einem ausgedehnten, sich langsam senkenden Kontinentalschelf, das sich in niedrigen Breiten auf der Südhalbkugel befand.

Dort erkennen wir Gletscherspuren in Gestein, das sich aus der Schmutz- und Schuttfracht des schmelzenden Eises bildete. Unmittelbar über dem zusammengebackenen Gletscherschutt lagern dagegen Sedimente, in denen Calcium- und Magnesiumcarbonate dominieren. Sie liefern den chemischen Beweis für das nachfolgende Treibhaus. Hunderte von Millionen Jahren lagen diese Gesteine im Erduntergrund verborgen; doch dann wurden sie durch geotektonische Prozesse wieder herausgehoben. Und jetzt haben sie begonnen, ihre Geschichte zu erzählen – eine Geschichte, zu der Wissenschaftler vor 35 Jahren bereits die ersten Puzzle-Teile beisteuerten.

W. Brian Harland von der Universität Cambridge wies 1964 darauf hin, dass Aufschlüsse von neoproterozoischem Gestein auf praktisch allen Kontinenten das typische gesprenkelte Aussehen von Gletscherschutt-Ablagerungen zeigen. Anfang der sechziger Jahre hatte sich die Theorie der Plattentektonik durchgesetzt, wonach die dünne Gesteinshaut unseres Planeten in riesige Stücke zerbrochen ist, die auf einer brodelnden Masse heißen Gesteins umhertreiben. Harland schloss aus der magnetischen Ausrichtung winziger Mineralkörner in den Gletscherablagerungen, dass sich die Kontinente im Neoproterozoikum dicht am Äquator zusammendrängten. Bevor sich die Gesteine verhärteten, richteten sich die Mineralkörnchen am Erdmagnetfeld aus, das in Äquatornähe praktisch horizontal verläuft (in Polnähe ist es dagegen fast vertikal orientiert).

Beiden Befunden zufolge waren offenbar auch die Tropen von Gletschern bedeckt. Harland behauptete deshalb als erster Geologe, dass die Erde im Neoproterozoikum eine gewaltige Eiszeit durchgemacht hätte. Einige seiner Zeitgenossen bezweifelten die Verlässlichkeit der magnetischen Daten. Inzwischen haben andere Forscher jedoch bestätigt, dass Harlands Behauptung stimmte. Niemand konnte sich freilich erklären, wie die Gletscher die tropische Hitze überlebt haben.

Als Harland seine Befunde über die Eiszeit im Neoproterozoikum veröffentlichte, waren die Physiker gerade dabei, erste mathematische Klimamodelle zu entwickeln. Michail Budyko vom Geophysikalischen Hauptobservatorium in Leningrad konnte die tropischen Gletscher erklären, indem er Gleichungen benutzte, die beschreiben, wie die Sonnenstrahlung mit der Erdoberfläche und der Atmosphäre zusammenwirkt und so das Klima steuert. Demnach reflektieren einige Oberflächenformen mehr von der einfallenden Strahlung als andere. Die entsprechende Messgröße heißt Albedo. Weißer Schnee reflektiert die Sonnenenergie am besten und hat eine sehr hohe Albedo. Das wesentlich dunklere Meerwasser hat dagegen eine niedrige Albedo. Landoberflächen weisen mittlere Werte auf, die von der Vegetationsart und -verteilung abhängen.

Je mehr Strahlung der Planet reflektiert, desto kälter wird er. Schnee und Eis kühlen mit ihrer hohen Albedo die Atmosphäre ab und stabilisieren sich damit selbst. Budyko wusste, dass dieses positive Feedback die Eiskappen an den heutigen Polen wachsen lässt. Aber seine Klimasimulationen zeigten auch, dass der Rückkopplungsprozess außer Kontrolle geraten kann. Je weiter die Gletscher zum Äquator vorrücken, desto schneller steigt die Albedo der Erde, da die direkte Sonneneinstrahlung mit zunehmendem Abstand von den Polen eine immer größere eisbedeckte Landfläche je Breitengrad überstreicht. Ab dem 30. Breitengrand wurde die Rückkopplung in Budykos Simulationen so stark, dass die Oberflächentemperaturen rapide absackten und der ganze Planet überfror.

Diese Ergebnisse stießen auf großes Interesse in der jungen Welt der Klimamodellierer, aber nicht einmal Budyko selbst glaubte, dass die Erde tatsächlich eine solche galoppierende Vereisung durchgemacht haben könnte. Nach fast einhelliger Auffassung hätte die Kältekatastrophe alles Leben ausgelöscht. Spuren mikroskopisch kleiner Algen in bis zu einer Milliarde Jahre alten Gesteinen ähneln jedoch den heutigen Formen sehr stark und lassen daher auf eine ununterbrochene Lebenskette schließen. Außerdem: hätte nicht die hohe Albedo des Eisüberzugs auf der tiefgefrorenen Erde die Oberflächentemperaturen so abgesenkt, dass es keinen Weg zurück geben konnte? Budyko und andere hielten eine völlige Vergletscherung des Planeten deshalb für unumkehrbar und dauerhaft.

Asyl an heißen Quellen


Der erste Einwand gegen eine vollständige Vereisung wurde in den späten siebziger Jahren hinfällig. Damals entdeckten Forscher in Tieftauchbooten exotische Lebensgemeinschaften an Stellen, die vorher als zu unwirtlich für eine Besiedlung durch Organismen galten. Heiße Quellen am Meeresboden ernähren Mikroben, die Energie aus chemischen Substanzen statt aus Sonnenlicht gewinnen. Der Vulkanismus, der solche Quellen speist, hat aber im Innern des Schneeballs Erde unvermindert angehalten.

Noch rosiger waren die Überlebenschancen für psychrophile, das heißt kälteliebende Organismen, wie sie heute in den extrem frostigen und trockenen Gebirgstälern der östlichen Antarktis leben. Cyanobakterien und bestimmte Algenarten bevölkern dort Lebensräume wie Schnee, poröses Gestein und die Oberfläche von Staubpartikeln, die im Treibeis eingeschlossen sind.

Den Schlüssel zur Rückkehr aus dem tiefgefrorenen Zustand, dem zweiten Problem, liefert das Kohlendioxid. In weniger als einem Menschenleben kann sich der Anteil dieses Gases in der Atmosphäre merklich ändern, wenn das Gleichgewicht zwischen seinem Verbrauch durch Pflanzen während der Photosynthese und seiner Zufuhr durch Tiere bei der Atmung gestört wird. Auch der Mensch hat unter anderem durch die Verfeuerung fossiler Brennstoffe seit dem Beginn der Industriellen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts die Atmosphäre mit Kohlendioxid angereichert. Gemessen am Alter der Erde, sind diese Kohlendioxidquellen und -senken jedoch unbedeutend gegenüber geologischen Prozessen.

Kohlendioxid ist eines der vielen Gase, die von Vulkanen ausgestoßen werden. Normalerweise wird dieser endlose Eintrag von Kohlenstoff in die Atmosphäre kompensiert durch die Erosion von Silicat-Gestein. Dieses nimmt bei seiner Verwitterung in Regenwasser gelöstes Kohlendioxid aus der Luft auf und verwandelt es in Hydrogencarbonat, das von den Flüssen in die Ozeane ausgewaschen wird. Dort verbindet es sich mit Calcium- und Magnesium-Ionen und lagert sich in Form von Carbonat-Sedimenten ab, die einen großen Teil des Kohlenstoffs speichern (siehe "Simulation des geochemischen Kohlenstoffkreislaufs", Spektrum der Wissenschaft, 5/1989, S. 54).

Der Geobiologe Joseph L. Kirschvink vom California Institute of Technology in Pasadena wies 1992 darauf hin, dass die wandernden tektonischen Platten während der globalen Vergletscherung, für die er übrigens erstmals die Bezeichnung Schneeball-Erde verwendete, weiterhin Vulkane entstehen ließen und die Atmosphäre dadurch unvermindert mit Kohlendioxid versorgten. Zugleich aber war das Wasser, das für die Verwitterung des Gesteins nötig ist und das entstehende Hydrogencarbonat ins Meer schwemmt, als Eis gebunden. Da kein Kohlendioxid mehr verbraucht wurde, sammelte sich das Gas in der Atmosphäre an. Dabei erreichte es nach Kirschvink so hohe Konzentrationen, dass sein Treibhauseffekt den Planeten schließlich wieder erwärmte und auftaute.

Rätselhafte Eisenablagerungen


Kirschvink hatte die Theorie, dass die Erde im Neoproterozoikum zur Gefriertruhe erstarrte, von Anfang an unterstützt – unter anderem wegen der merkwürdigen Eisenablagerungen innerhalb des Gletscherschutts. Diese so genannten Itabirite (Eisenbändertone) treten sonst nur viel früher in der Erdgeschichte auf, als die Ozeane (und die Atmosphäre) noch kaum Sauerstoff enthielten; dadurch lag das Eisen im zweiwertigen Zustand vor, in dem es im Meerwasser löslich ist (durch Sauerstoff wird es dagegen in den unlöslichen dreiwertigen Zustand überführt und ausgefällt). Kirschvink argumentierte, dass die Ozeane durch die Eisbedeckung über Jahrmillionen vom Kontakt mit der Atmosphäre abgeschnitten waren, so dass ihnen schließlich der Sauerstoff ausging. Dadurch konnte sich das zweiwertige Eisen, das die heißen Quellen am Meeresboden freisetzten, in der Tiefsee ansammeln. Sobald ein vom Kohlendioxid verursachter Treibhauseffekt die Eisdecke abschmelzen ließ, gelangte wieder Luftsauerstoff ins Meerwasser und fällte das Eisen aus, so dass es sich mit dem Schutt von Gletschern und Meereis zusammen ablagerte.

Kenneth Caldeira vom Lawrence-Livermore-Nationallaboratorium der USA in Kalifornien und James F. Kasting von der Pennsylvania State University in University Park modellierten 1992 dieses Treibhaus-Szenarium. Ihren Berechnungen zufolge musste die Atmosphäre ungefähr 350-mal so viel Kohlendioxid enthalten wie heute, damit die tiefgefrorene Erde wieder auftaute.

Angenommen, die Vulkane bliesen im Neoproterozoikum etwa so viel Gas in die Atmosphäre wie heute. Dann wäre der Planet für mehrere zehn Millionen Jahre in seiner Kältestarre gefangen geblieben, bevor sich genug Kohlendioxid angesammelt hatte, um das Meereis schmelzen zu lassen. Eine Schneeball-Erde-Phase wäre also nicht nur die strengste Eiszeit gewesen, die man sich vorstellen kann, sondern auch die längste.

Kirschvink ahnte noch nichts von zwei neu auftauchenden Indizienketten, die seine Theorie vom Schneeball Erde entscheidend stützen sollten. Der ersten zufolge sind Gletscherablagerungen aus dem Neoproterozoikum fast überall von Carbonat-Gestein überlagert. Das aber bildet sich typischerweise in warmen, flachen Gewässern wie der Bahamas-Bank, die jetzt zum Atlantik gehört. Wenn zwischen der Vereisung und der Warmwasserphase Millionen von Jahren gelegen hätten, wäre niemand überrascht gewesen. Doch der Übergang vom Gletscherschutt zur Carbonat-Schicht ist abrupt. Nichts deutet darauf hin, dass zwischen dem Moment, als die Gletscher ihre letzte Fracht abluden, und der Ablagerung der ersten Carbonate längere Zeit verstrichen sein könnte. Die Geologen taten sich schwer, einen derart plötzlichen Wechsel von glazialen zu tropischen Bedingungen zu erklären.

Aufschlussreiche Carbonat-Schichten


Als wir unsere Feldbeobachtungen in Namibia überdachten, ging uns auf, dass dieser Wechsel durchaus kein Widerspruch ist. Mächtige Carbonat-Schichten sind die natürliche Konsequenz von extremen Treibhausbedingungen, die sich ihrerseits nur als vorübergehende Folge einer Schneeball-Erde einstellen können. Wenn der Globus ganz überfroren ist, muss der Kohlendioxid-Gehalt der Atmosphäre wegen der hohen Albedo der Eisdecke extreme Werte annehmen, damit die Temperaturen am Äquator über den Gefrierpunkt steigen. Sobald das Abtauen beginnt, tritt jedoch Meerwasser mit seiner niedrigen Albedo an die Stelle des Eises. Die eskalierende Erstarrung schlägt dann in eine überschießende Erwärmung um (siehe Kasten auf der vorherigen Doppelseite). Nach Berechnungen, die Raymond T. Pierrehumbert von der Universität Chicago im letzten Sommer durchführte, klettern die Oberflächentemperaturen dadurch in kürzester Zeit auf fast 50 Grad Celsius.

Die wieder einsetzende Verdunstung trägt ein Weiteres zur Erwärmung der Atmosphäre bei, da Wasserdampf ein sehr wirksames Treibhausgas ist. Andererseits beschleunigt die steigende Luftfeuchte den Wasserkreislauf. Wolkenbruchartige Regenfälle waschen einen Teil des Kohlendioxids aus und führen es als Kohlensäure dem Gesteinsschutt zu, der seit dem Rückzug der Gletscher frei liegt. Dies steigert die Verwitterungsrate. Das resultierende Hydrogencarbonat sammelt sich rasch in großen Mengen im Meerwasser, wo es mit Calcium- und Magnesium-Ionen unlösliche Carbonate bildet, die sich am Meeresgrund ablagern und schließlich zu Gesteinen verhärten. Gewisse Strukturen, die sich in den Carbonat-Decken Namibias erhalten haben, deuten darauf hin, dass deren Sedimentation vielleicht nur wenige tausend Jahre beanspruchte. Beispielsweise können die Kristalle des Minerals Aragonit, die sich zu mannshohen Fächern auftürmen, nur aus mit Calciumcarbonat hoch gesättigtem Meerwasser entstanden sein.

Als zweite Indizienkette, die Kirschvinks Vorstellungen vom Entrinnen aus dem Eisschrankklima stützt, enthalten die Carbonat-Decken in Namibia ein ungewöhnliches Mengenverhältnis der zwei wichtigsten natürlichen Kohlenstoff-Isotope: des Kohlenstoffs-12 und des seltenen Kohlenstoffs-13, der ein zusätzliches Neutron in seinem Kern hat. Dasselbe Verhältnis findet sich in den Carbonat-Überzügen aus dem Neoproterozoikum auf der ganzen Welt, aber niemand hat es bisher mit der Schneeball-Erde in Verbindung gebracht. Zusammen mit dem Isotopen-Geochemiker Alan Jay Kaufman, der jetzt an der Universität von Maryland in College Park tätig ist, und unserem Doktoranden Galen Pippa Halverson konnten wir nachweisen, dass das Isotopenverhältnis frei liegenden Gesteins im Norden Namibias über viele hundert Kilometer gleich bleibt.

Kohlendioxid, das aus Vulkanen ins Meer gelangt, enthält etwa ein Prozent Kohlenstoff-13 und 99 Prozent Kohlenstoff-12. Würde es in den Ozeanen nur zur Bildung von Carbonat-Gestein verwendet, müsste dieses den gleichen Anteil von Kohlenstoff-13 haben wie das aus den Vulkanen entwichene Gas selbst. Aber die weichen Gewebe der Algen und Bakterien, die im Meerwasser wachsen, verbrauchen ebenfalls Kohlendioxid. Und ihre Photosynthesemaschinerie bevorzugt das Isotop 12C gegenüber 13C. Folglich hat der verbleibende Kohlenstoff, der für die Carbonat-Bildung zur Verfügung steht, in einem belebten Ozean wie dem heutigen ein höheres Verhältnis von 13C zu 12C als frisch aus Vulkanen freigesetztes Kohlendioxid.

Die Kohlenstoff-Isotope im Gestein Namibias aus dem Neoproterozoikum erzählen eine andere Geschichte. Dicht unter den ersten Gletscherablagerungen sinkt der Gehalt an 13C auf den typischen Wert für Kohlendioxid vulkanischen Ursprungs. Der Grund dafür ist unserer Meinung nach ein Rückgang der biologischen Produktivität, weil die Ozeane in den hohen Breiten sich mit Eis bedeckten und die Erde am Beginn einer Tiefkühlphase stand. Sobald die Meere völlig zugefroren waren, versiegte die biologische Produktivität ganz. Aus dieser Zeit gibt es allerdings keine Daten über das Verhältnis der beiden Kohlenstoff-Isotope; denn in einem eisbedeckten Ozean kann sich kein Carbonat-Gestein bilden. Der niedrige 13C-Gehalt kennzeichnet aber auch die Carbonat-Überzüge der Gletscherablagerungen. Der Anteil des schwereren Kohlenstoff-Isotops kehrt erst mehrere hundert Meter weiter oben allmählich zu höheren Werten zurück – wahrscheinlich als Folge des wieder erwachten Lebens am Ende der Treibhausperiode.

Plötzliche Änderungen im Kohlenstoff-Isotopenverhältnis zeugen auch in den Carbonat-Gesteinen aus anderen Epochen von Massensterben, aber keine ist so stark oder hält so lange an. Selbst der Meteoriteneinschlag, der vor 65 Millionen Jahren die Dinosaurier ausgerottet hat, ließ die biologische Aktivität nicht so dauerhaft zusammenbrechen.

Tiefgefroren und geröstet


Insgesamt liefert die Theorie vom Schneeball Erde eine stimmige Deutung für viele geologische Besonderheiten des Neoproterozoikums: die Variation im Mengenverhältnis der Kohlenstoff-Isotope unter- und oberhalb der Gletscherablagerungen, das Paradoxon der Carbonat-Überzüge, die Spuren einer langanhaltenden Vereisung auf Meeresniveau in den Tropen und die ungewöhnlichen Eisensedimente in Verbindung mit dem Gletscherschutt. Die Stärke dieser Theorie ist, dass sie die genannten Phänomene, von denen keines zuvor zufrieden stellend erklärbar war, alle auf einmal verständlich macht. Überdies bringt sie unseres Erachtens Licht in die frühe Evolution der Tierwelt.

In den sechziger Jahren vertrat Martin J. S. Rudwick, der damals mit Harland zusammenarbeitete, bereits die Auffassung, die Rückkehr zu einem freundlicheren Klima nach der großen Vereisung im Neoproterozoikum habe der explosionsartigen Entfaltung des mehrzelligen tierischen Lebens im Kambrium den Weg bereitet. Spuren der ersten Eukaryoten – Organismen aus Zellen mit membranumschlossenem Kern, von denen alle Pflanzen und Tiere abstammen – finden sich schon über eine Milliarde Jahre vorher. Aber die komplexesten Lebewesen, die sich bis zur ersten Vereisung im Neoproterozoikum entwickelten, waren Blaualgen und einzellige Urtierchen (Protozoen). Es war immer ein Rätsel, warum die primitiven Eukaryoten so lange brauchten, um die elf Tierstämme hervorzubringen, die dann urplötzlich in den kambrischen Fossilien auftauchen (siehe Bild auf Seite 64).

Ein wiederholter Wechsel zwischen Tiefgefrieren und Rösten hätte einen natürlichen Filter für die Entwicklung des Lebens dargestellt. Alle existierenden Eukaryoten müssten demnach von den Überlebenden der verheerenden Klimakapriolen im Neoproterozoikum abstammen. Gewisse Anhaltspunkte zum Ausmaß der Auslöschung unter den Urtierchen könnte der Stammbaum des Lebens geben. Er zeigt, wie die Organismen sich auseinander entwickelt haben, und basiert auf dem Grad der Ähnlichkeit zwischen den verschiedenen Lebewesen. Heute ermitteln Evolutionsforscher die verwandtschaftlichen Beziehungen meist durch Vergleich der Abfolge der Nucleinsäuren im Erbgut der Organismen (siehe den Artikel auf Seite 52).

Stammbäume der Eukaryoten zeigen meist ein buschiges Verästelungsmuster am Ende eines langen, unverzeigten Stammes (Bild auf Seite 64). Das Fehlen von frühen Verzweigungen kann bedeuten, dass die meisten Eukaryoten-Zweige in den Zeiten der Schneeball-Erde abgeschnitten wurden. Die Lebewesen, die die Vergletscherungen überstanden, hatten vielleicht in der Nähe der heißen Quellen am Meeresboden oder nahe der Eisoberfläche, wo die Photosynthese weiterhin möglich war, Zuflucht gesucht.

Die steilen, stark schwankenden Gradienten in Temperatur und chemischer Zusammensetzung, die ein Merkmal kurzzeitiger heißer Quellen sind, prädisponierten für das Überleben im späteren höllischen Klima. Auf starken Stress reagieren viele Tierarten mit einer steigenden Mutationsrate. Wechselnde Umweltbedingungen fördern eine hohe Flexibilität und die Fähigkeit zum raschen Wandel, da die Organismen, die sich am schnellsten genetisch umprogrammieren können, die besten Chancen haben, sich an ein geändertes Milieu anzupassen und darin fortzupflanzen.

Lebensformen, die während der Tiefkühlphase isoliert an den weit verstreuten heißen Quellen am Meeresgrund "überwinterten", konnten sich über die Jahrmillionen weit auseinander entwickeln. Wenn zwei Populationen einer Art lange genug geographisch getrennt unter verschiedenen Umweltbedingungen leben, stehen die Chancen gut, dass sie sich durch Mutationen in zwei Arten aufspalten. Während der Wiederbesiedlung nach jeder Vereisung herrschten ungewöhnliche, rasch wechselnde Selektionsdrücke, die sich stark von denen vor der Vereisung unterschieden. Dies förderte zweifellos das Auftreten neuer Lebensformen.

Martin Rudwick ging mit seiner Vermutung, die Klimaverbesserung nach der großen Eiszeit im Neoproterozoikum habe den Weg für die Evolution der ersten Tiere geebnet, also vielleicht noch nicht weit genug. Die extremen Klimaumschwünge könnten selbst aktiv zur Entwicklung mehrzelligen tierischen Lebens beigetragen haben.



Droht eine neue Schneeball-Erde-Episode?


Am Ende unserer Rekonstruktionen bleibt noch zu fragen: Wie kam es zu der erstaunlichen Klima-Instabilität im Neoproterozoikum, und warum ist die Erde seither von solchen katastrophalen Klimaturbulenzen verschont geblieben? Eine erste denkbare Antwort wäre, dass die Sonne im Neoproterozoikum ungefähr sechs Prozent schwächer strahlte und die Erde dadurch anfälliger für eine globale Vereisung machte. Ihre allmähliche Aufheizung mit zunehmendem Alter könnte erklären, warum seither nie wieder eine Schneeball-Episode auftrat. Aber ernst zu nehmende geologische Zeugnisse deuten darauf hin, dass auch in der Jahrmilliarde vor dem Neoproterozoikum keine weltweite Vereisung stattfand, obwohl die Sonne damals sogar noch kühler war.

Die ungewöhnliche Anordnung der Kontinente in Äquatornähe während des Neoproterozoikums könnte dagegen besser erklären, wie die Erde zum Schneeball wurde (siehe Bild auf Seite 61). Wenn, wie heute, ausgedehnte Landmassen in der Nähe der Pole liegen, bleibt stets genügend Kohlendioxid in der Atmosphäre, um den Planeten warm zu halten. Angenommen, die Erde kühlt so weit ab, dass Gletscher die Kontinente in den hohen Breiten überziehen, wie das derzeit in der Antarktis und auf Grönland der Fall ist. Dann verhindern diese Eisdecken die chemische Erosion des Gesteins darunter. Da dadurch weniger Kohlenstoff aus der Luft gebunden werden kann, stabilisiert sich das Kohlendioxid in der Atmosphäre bei einer Konzentration, die hoch genug ist, um das Vorrücken des Eises zu stoppen.

Wenn dagegen sämtliche Landmassen zusammen in den Tropen liegen, bleiben sie auch beim Absinken der globalen Temperaturen lange eisfrei. So kann die Erde die kritische Grenze erreichen, bei der sie unaufhaltsam vollständig zufriert. Die Notbremse über das Kohlendioxid versagt, weil der Kohlenstoffentzug bis fast zum Schluss unvermindert weitergeht.

Könnte sich die Erde eines fernen Tages wieder in einen Schneeball verwandeln? Während der letzten Jahrmillion hatte sie ihre kälteste Phase seit dem Auftreten der Tiere im Kambrium, aber die eiszeitlichen Gletscher erreichten selbst bei ihrem weitesten Vorstoß vor 20000 Jahren nicht annähernd die kritische Grenze, an der unser Planet in den Schneeball-Zustand abrutscht. Außerdem wird uns in den nächsten Jahrhunderten eher die problematische Erwärmung der Erde durch die anthropogenen Kohlendioxid-Emissionen beschäftigen.

Vom voraussichtlichen Höhepunkt der nächsten Eiszeit sind wir noch etwa 80000 Jahre entfernt. Bis dahin besteht sicherlich keine Gefahr einer globalen Vereisung. Wie sich das Klima dagegen in der weiteren Zukunft entwickeln wird, lässt sich nur schwer beurteilen; dazu sind unsere Einsichten in die Steuerungsmechanismen des irdischen Klimasystems noch längst nicht detailliert genug. Falls der Trend der letzten Jahrmillion anhält und die Notbremse der polaren Kontinente irgendwann versagen sollte, könnte allerdings durchaus eine weitere globale Eiskatastrophe auftreten, die das Leben wiederum unweigerlich dezimieren und dann in eine neue Richtung lenken würde.

Literaturhinweise

Origin and Early Evolution of the Metazoa. Von J. H. Lipps und P. W. Signor (Hg.). Plenum Publishing, 1992.

The Origin of Animal Body Plans. Von D. Erwin, J. Valentine und D. Jablonski in: American Scientist, Bd. 85, Nr. 2, S. 126–137, März/April 1997.

A Neoproterozoic Snowball Earth. Von P. F. Hoffman, A. J. Kaufman, G. P. Halverson und D. P. Schrag in: Science, Bd. 281, S. 1342–1346, 28. August 1998.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2000, Seite 58
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