Am Rande: Concerto grosso für Laptop und Orchester
Endlich erprobt: der digitale Notenständer
Der Dirigent betritt das Pult, der Applaus verebbt. Atemlose Stille. Er hebt den Taktstock – und erstarrt. Auf seinem Pultmonitor sollte die Orchesterversion von John Cage's Schweigewerk 4'33" zu sehen sein, stattdessen erscheint ein Notenstückchen, das der Meister sofort als Mozarts "Kleine Nachtmusik" identifiziert. Ein grinsender Mozartkopf taucht auf, dazu der Schriftzug "Weg mit der Atonalität!" Virusangriff!
Diese Schreckensvision gehört zu den Szenarien, die im Rahmen des Projekts "Digitalisierung des Konzertwesens" entworfen wurden, Protagonisten sind die Bamberger Symphoniker. Mit Fujitsu Siemens als Sponsor versuchten die Künstler eine neue Synthese von musikalischem Geist und moderner Technik, um neue Events zu schaffen. Software-Spezialisten entwickelten zunächst ein einfaches Computer-Konzertpult-System als Ersatz für herkömmliche Notenblätter: Diese wurden mit den Eintragungen der Musiker eingescannt und dann auf Laptops installiert. Während des Konzerts blätterten die Musiker darin mittels einer "Fußmaus". Der höhere Kontrast des Bildschirms ebenso wie seine gleichmäßige Beleuchtung erleichterten das Lesen der Noten und ermöglichten am 11. April 2001 erstmals Alexander Skrjabins Mysterien-Symphonie für Farbenklavier (ein Scheinwerfer-steuerndes Keyboard), Chor und Orchester aufzuführen. Anfängliche Probleme wie das Suchen des Einschaltknopfes im Dunkeln waren schnell vergessen. Publikum und Fachpresse honorierten diese Innovation mit frenetischem Beifall.
Es lag nahe, die Entwicklung weiter voran zu treiben, obwohl nun die Richtlinien für Bildschirmarbeitsplätze einzuhalten waren. Schnell wurden ergonomische Drehstühle angeschafft und eine Unterbrechung jeder Aufführung nach 50 Minuten vereinbart. Gerade bei längeren Werken schätzten Publikum wie Musiker diese willkommene Gelegenheit, die Angebote des Catering-Service zu nutzen.
Inzwischen sind die Einzelplatz-Notenpultrechner vernetzt und ins Web eingebunden, wo Software-Agenten nach neuen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten fahnden. Die erste Vorführung, eine Neueinspielung von Wagners "Tannhäuser" mit Zuschaltung von Umweltgeräuschen aus dem Spessart via Internet, hätte fast verschoben werden müssen: Der Dirigent erkrankte und musste das Bett hüten. Doch das Technische Team des illustren Hauses realisierte mittels 3D-Tracking und Videoüberwachung einen Taktstock, dessen Bewegungen elektronisch erfasst und auf den Pultcomputern wiedergegeben wurden. Der Meister leitete vom Krankenbett aus sein Orchester, den tosenden Publikumsapplaus empfing er auf dem Rückkanal in Dolby-Surround-Qualität. Die Intendanz erwägt nun generell, das Dirigat bei einem Teil der Konzerte mit Internet-Unterstützung zu bestreiten, um Reisekosten für Gaststars zu sparen. Oder den Dirigenten ganz durch ein geeignetes Programm zu ersetzen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2000, Seite 90
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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