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Am Rande: Fußball geht vor



Der Ball ist rund und das Spiel dauert neunzig Minuten. Eine simple Weisheit, die seit Sepp Herberger nicht nur für eingefleischte Fußballfans längst zu den Grundsteinen der Allgemeinbildung gehört, kann bei Nichtbeachtung so manche lange geplante Konferenz ins Chaos führen. Wer hätte auch unter den österreichischen Gastgebern einer internationalen Fachtagung, die ich kürzlich besuchte, damit rechnen können, dass ausgerechnet das italienische Team, haushoher Verlierer im konferenzinternen abendlichen Fußballturnier, das Finale der Europameisterschaft erreicht. Und das Endspiel fiel prompt auf den Abend des Abschlussdinners.

Die Azzurri, gefolgt von ihren französischen Kollegen, hatten ihre Teilnahme daraufhin auf den Nachtisch beschränken wollen, um den Spielverlauf vorher live und in voller Länge verfolgen zu können. Doch auf geheimnisvolle Weise war es den Organisatoren gelungen, beide Delegationen bereits zum Begrüßungscocktail in die gediegenen Räumlichkeiten des Restaurants zu locken, das schließlich schon im Vorjahr eigens für diesen Anlass reserviert worden war. "Da planen wir monatelang dieses Treffen, achten auf Feiertage, vermeiden Überschneidungen mit anderen Veranstaltungen und übersehen doch das Wesentliche ...", begann der Gastgeber seine Rede, "...die Europameisterschaft". Zustimmendes Nicken, "Si, si"- und "Mon Dieu"-Rufe aus der italienisch-französischen Ecke.

Ein Kollege aus Paris rollte derweil eine kleine Tricolore aus, während neben mir ein bekannter Theoretiker "Pronto!" in sein Handy flüsterte und sich schnell noch die Aufstellung des eigenen Teams durchgeben ließ. "Stefano Fiore? Mamma mia!" "Aber in der Forschung, so wie im realen Leben, kommt doch oft alles anders, als man denkt", fuhr der Redner, unbeachtet von der Mehrheit der Zuschauer, fort. "Non, pas Henry, c‘est Fabien Barthez", klärte hinter mir ein Spezialist seine junge Berufsgenossin über den Mann im Tor auf. Das Fußballfieber hatte mittlerweile jeden erfasst und wollte sich auch nicht legen angesichts des festlichen Rahmens, den diese Abschlussveranstaltung eigentlich haben sollte.

"Flexibilität gehört heute zu den wichtigsten Bedingungen für Erfolg", tönte es weiter durch die Lautsprecher. Ja, ja, aber entscheidend war im Moment doch etwas ganz anderes. "Noch eine Minute bis zum Anstoß", murmelte jemand. "Und deshalb haben wir uns entschieden, das Dinner etwas später zu servieren und …" – einige Teilnehmer horchten auf – "... vorher das Spiel live aus Rotterdam zu übertragen."

Die Tür zum Nebenraum öffnete sich und gab den Blick auf eine große Leinwand frei. Stille. Doch schon hallte ein Ruf durch den Saal: "Allez les Bleus!" Und sogleich stürmte die ganze Gemeinschaft hinüber, gerade rechtzeitig zum Anpfiff.

Ende gut, alles gut, sollte man meinen. Aber um zukünftig ähnliche Konflikte von vorneherein zu vermeiden, haben die Organisatoren einen besonderen Plan ausgeheckt: Die folgende Konferenz in zwei Jahren wird passend zur WM direkt in Japan stattfinden – Karten für das Endspiel inklusive. Denn es gilt, das wissen wir nun: nach dem Spiel ist vor dem Spiel.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2000, Seite 96
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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