Am Rande: Mit der Maul- und Klauenseuche zurück ins Mittelalter
Wie in Großbritannien eine Tierkrankheit bekämpft wird
Im Seminarraum, zwei Stockwerke unter meinem Büro, hängt er als Trophäe an der Wand, der Erreger der Maul- und Klauenseuche, kurz MKS-Virus. Im Februar 1989 veröffentlichte die Arbeitsgruppe von David Stuart am 1988 gegründeten Oxford Centre for Molecular Sciences, die hochaufgelöste Struktur des Virus und errang damit eine besondere Auszeichnung für Wissenschaftler – eine Abbildung des Virus auf dem Titelblatt von Nature. Wie Stuart in Nature schrieb, "sollte das Wissen um die Struktur des Studienobjekts bei der Entwicklung verbesserter und neuartiger Impfstoffe behilflich sein und könnte zu anti-viralen Medikamenten führen."
Fast auf den Tag genau zwölf Jahre später sucht ebendieses Virus Viehbestände in Großbritannien heim. Zwölf Jahre, sollte man meinen, müssten hinreichend sein, um einen verbesserten Impfstoff, ein Medikament und/oder eine wirkungsvolle Diagnostik zu entwickeln. Man könnte also, im Lande des Ur-Impfers Edward Jenner, der die Pockenimpfung einführte, und am Beginn des 21. Jahrhunderts, einem solchen wohl erforschten molekularbiologischen Problem mit wohl durchdachten wissenschaftlich fundierten Lösungen begegnen?
Falsch gedacht. Was wirklich geschah war, dass das Landwirtschaftsministerium auf einen Katastrophenplan aus den zwanziger Jahren zurückgriff, der hinwiederum sich von seinen Vorgängern im Mittelalter nur dadurch unterscheidet, dass es damals noch keinen Dieselkraftstoff und keine Traktoren gab. Kurz gesagt, erkrankte Tiere und die gesunden Tiere in einem gewissen Umkreis wurden geschlachtet, zu riesigen Kadaverbergen aufgehäuft, mit Diesel übergossen und open air verbrannt.
Dass dabei jede Menge Diesel in den Boden sickert und das Grundwasser verseucht, wen kümmert’s? Dass bei den schlechten und unvollständigen Verbrennungsbedingungen infektiöse Viruspartikel in die Luft geschleudert und mit dem Wind zu anderen Bauernhöfen getragen werden, ist auch nur wenigen aufgefallen. Dass Füchse, Ratten und andere räuberische Gesellen sich an den Kadaverbergen schon vor der Verbrennung gütlich tun und dann in Missachtung des Bewegungsverbots für Tiere die Seuche weitertragen, auch eine bedauerliche Panne.
Und warum das alles? Ließe man der Seuche ihren Lauf, so würden daran nach Erfahrungen aus anderen Ländern vielleicht fünf Prozent der Tiere sterben. Eine Extrapolation der gegenwärtigen Strategie könnte hingegen bedeuten, dass die Hälfte des Viehbestands ins Gras beißt. Ließe man die gefährdeten Tiere impfen, so würde sich – trotz aller Zweifel an der vollständigen Wirksamkeit der existierenden Impfstoffe – ein sehr viel unblutigeres Ende abzeichnen. Aber dann, und das ist der Haken, könnte Großbritannien über Jahre hinweg kein Vieh mehr exportieren (weil man nämlich immer noch die alte, zu unempfindliche Diagnostik und damit dann keine Methode hat, ein infiziertes von einem geimpften Tier zu unterscheiden: Die gebildeten Antikörper sind gleich).
Und das ist der Punkt, wo mein Hirn nicht mehr mitmacht. Um ein Exportgeschäft zu schützen, das nach Ansicht Vieler ebenso sinnlos wie grausam ist und lediglich 50 Millionen Pfund im Jahr an Gewinn erwirtschaftet, werden Milliarden verheizt und neuerdings auch von der Armee, die ja hinreichend Erfahrung mit sinnlosen Manövern hat, verbuddelt. Zusätzlich gehen Milliarden im Tourismus verloren, der bisher – Stichwort "Ferien auf dem Bauernhof" – das einträglichste Geschäft der britischen Bauern war. Bei den Strategiebesprechungen ist offenbar nicht nur die Molekularbiologie, sondern auch die Arithmetik draußen vor der Tür geblieben.
Doch die erschreckendste Frage ist: Was, wenn ein ebenso infektiöses, aber für Menschen lebensgefährliches Virus eine neue Epidemie auslöst – werden wir dann ebenfalls auf die Rezepte des Mittelalters zurückgreifen, auf Pestmasken und Weihwasser?
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2001, Seite 91
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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