Am Rande: Verrückt durch Rudern im Weltraum
Seit jeher träumt der Mensch von Vehikeln, die ihm die Mühsal des Laufens ersparen oder – besser noch ihn vom Erdboden abheben und schwerelos durch den Raum gleiten lassen. Wie schon die Erfindung des Rades zeigt, ist dabei die Natur nicht immer Vorbild. Gewiss, in Wasser kommen Frösche und Menschen durch geschicktes Strampeln vorwärts, in Luft fliegen Vögel durch kompliziert verdrillte Flügelschläge. Aber spätestens im Vakuum des Weltraums ist Rucken und Zucken, Zappeln und Flattern völlig vergebens; da hilft nur das gute alte Rückstoßprinzip. Demnach gilt: Wer im All nach vorne kommen will, muss etwas nach hinten werfen. Beim Raketenantrieb sind das die ausgestoßenen Verbrennungsgase. Ein Weltraumspaziergänger kann seinen Schraubenschlüssel opfern, um sich einem entgegen der Wurfrichtung gelegenen Ziel zu nähern. Doch unweigerlich geht ihm dadurch das geworfene Objekt verloren – so wie der Rakete ihr Treibstoff. Der Impulserhaltungssatz lässt sich auch nicht austricksen, indem der Raumfahrer etwa, wie einst von einem Leser dieser Zeitschrift vorgeschlagen, den fortgeschnellten Gegenstand an einem in weiser Voraussicht angebrachten Bindfaden wieder zurückholt. Denn was er zieht, das zieht auch ihn, und am Ende sind Werfer und Wurfobjekt wieder genau dort, wo der Wurf begann.
Dennoch hat ein Forscher kürzlich zumindest auf dem Papier gezeigt, wie man im Weltall auch ohne Rakete von der Stelle kommen könnte (Science, 21.3. 2003, S. 1865). Der Trick besteht darin, die »Krümmung« des Raumes zu nutzen. Wie der Physiker Jack Wisdom vom Massachusetts Institute of Technology vorrechnet, kann eine Weltraumgaleere mit (mindestens) drei »Rudern« auf diese Weise durch kalkuliertes Verändern der Ruderlängen und Winkel ihren Ort geringfügig in eine gewünschte Richtung verrücken. Dazu müssen die wackeren Raumschiffer die immer gleichen Paddelbewegungen unermüdlich wiederholen – mit fast unendlicher Geduld. Nach Einsteins Allgemeiner Relativititätstheorie verformen Massen die vierdimensionale Raumzeit in ihrer Umgebung – und zwar umso stärker, je größer sie sind. Bei den im Kosmos üblichen kleinen Massen und deren riesigen Abständen ist das All jedoch fast überall ziemlich platt. Da mögen sich die Raumruderer noch so in die Riemen legen, die Galeere käme trotzdem nicht vom Fleck. Nur in der Nähe sehr massereicher Himmelskörper vorzugsweise Neutronensterne oder Schwarze Löcher – könnte das Strampeln etwas bringen. Denn dort macht es wegen der starken Raumkrümmung einen Unterschied, wo das Ruder gerade eintaucht.
Doch selbst hart am Rande eines Schwarzen Lochs wäre der Lohn der Mühe erbärmlich. Auch bei einer extremen Raumzeit-Verzerrung, die der Krümmung der Erdoberfläche entspricht, käme die Galeere nach Wisdoms Berechnung je Ruderschlag nur 10-23 Meter voran. Bei diesem Tempo würde das Gefährt für das Durchqueren eines Atomdurchmessers etwa so viel Zeit brauchen, wie seit dem Auftreten des Neandertalers vergangen ist. Hinzu kommt, dass jedes Objekt bei Annäherung an eine große Masse ohnehin so stark beschleunigt wird, dass der winzige Effekt des Ruderns in der Gesamtbewegung völlig untergeht. Um ihn überhaupt bemerkbar zu machen, müsste Wisdoms Jolle in eine enge Kreisbahn um das Massemonster einschwenken. Dann ließe sich das Paddeln gerade mal für minimale Korrekturen des Bahnradius einsetzen. Darum werden wohl auch in ferner Zukunft keine Raum-Galeeren mit majestätischem Ruderschlag durchs Weltall ziehen. Als überraschender relativistischer Effekt verdient Wisdoms Fund aber einen Ehrenplatz im Museum der Gedankenexperimente.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2003, Seite 13
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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