Ameisen. Die Entdeckung einer faszinierenden Welt
Aus dem Amerikanischen
von Susanne Böll.
Birkhäuser, Basel 1995.
276 Seiten, DM 58,-.
von Susanne Böll.
Birkhäuser, Basel 1995.
276 Seiten, DM 58,-.
Ameisen faszinieren nicht nur ihre professionellen Erforscher, sondern seit langem auch interessierte Laien durch Leistungen, wie sie sonst nur von menschlichen Gemeinschaften bekannt sind. Bilder und Filme von diesen Insekten mit ihren straff organisierten Sozietäten sind deshalb immer wieder in den Medien zu sehen.
Die eingehende Erschließung dieser eigentümlichen Welt verdanken wir vornehmlich zwei Forschern von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts), Bert Hölldobler und Edward O. Wilson, die dafür mit vielen Wissenschaftspreisen geehrt wurden. Hölldobler ist inzwischen wieder an der Universität Würzburg tätig. Mit ihrer monumentalen, mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Monographie "The Ants" hatten die beiden 1990 in erster Linie ihre Fachkollegen angesprochen. Nun liegt in wohlgelungener deutscher Übersetzung ihre für eine breitere Leserschaft gedachte "Journey to the Ants" vor.
Dieses Buch erzählt nicht nur von der Reise zu dem und durch das Reich der Ameisen; die Autoren treten selber an die Öffentlichkeit mit ihren persönlichen und beruflichen Werdegängen, ihren fachlichen Vorlieben und ihren wissenschaftlichen Grundüberzeugungen. Sie bringen auch vieles aus der Diskussion innerhalb der Gemeinschaft der Wissenschaftler zur Sprache und wagen eine Antwort auf die Frage, was aus ihrem Arbeitsgebiet es wert sei, erforscht zu werden.
Unversehens erfährt man, daß Ameisenstaaten mit Problemen zu kämpfen haben, die für menschliche Gesellschaften gleichfalls typisch sind, wie Überpopulation, Konkurrenz und Kämpfe um Ressourcen. Diese Parallelen sind nicht zufällig: Wilson ist der Begründer der modernen Soziobiologie (vergleiche die Auseinandersetzung mit diesem Konzept in Spektrum der Wissenschaft, Juni 1994, Seite 72, Juni 1995, Seite 70, und Dezember 1995, Seite 80).
Der Stil der Autoren ist ebenso anschaulich ausmalend wie exakt erklärend; oft beflügeln sie das Interesse der Leser mit trockenem Humor. Das Werk ist schön und liebevoll mit zahlreichen, meist farbigen Photos und Zeichnungen illustriert.
Woher kommen Ameisen, und was sind ihre vielfältigen Leistungen? Für die Antworten schöpfen die Autoren vorwiegend aus der Fülle ihrer eigenen wissenschaftlichen Ergebnisse. Sie verstehen sich ausdrücklich als Forscher mit einem organismischen Ansatz: Im Vordergrund steht das jeweilige Lebewesen in seiner Einzigartigkeit. Dieses Vorgehen liefert spezielle Lösungen für allgemeingültige biologische Probleme.
Ein Leitfaden ergibt sich aus der Frage: Ameisen sind extrem häufig, warum gerade sie? Überwältigend an Zahl der Arten und Individuen sowie der Vielfalt der Lebensformen sind sie in den tropischen Regenwäldern; an Biomasse sind sie weit bedeutsamer als alle Landwirbeltiere des jeweiligen Biotops zusammen. Alle Ameisen der ganzen Erde würden alle Menschen aufwiegen, was sie bei ihrer Kleinheit und ihren Gewichten im Milligrammbereich nur durch ihre astronomische Anzahl von etwa 10 Billiarden jeweils gleichzeitig lebender Tiere erreichen. Der gesamte Inhalt des Buches gibt eine Erklärung für diesen ungeheuren Erfolg. Würden sie verschwinden, wäre das nach den Überlegungen der Autoren für viele Landökosysteme katastrophal – ganz im Gegensatz zu einem Aussterben des Menschen.
Es fällt schwer, aus der erstaunlichen Vielfalt der Themen einige besonders beachtenswerte herauszugreifen. Nehmen wir die altwelttropische Gattung Oecophylla, die vielerorts von Afrika bis nach Nordaustralien in Baumkronen dominiert. Wilson war von ihrer "unverfrorenen" Aggressivität fasziniert, als er einer kleinen Kolonie aus Kenia erstmals den Auslauf auf seinem Schreibtisch in Harvard gestattete.
Bekannt sind diese Weberameisen hauptsächlich wegen ihres hochkooperativen Verhaltens beim Bau der Nester, indem sie mit der Seide ihrer Larven Blätter zusammenfügen, was durch Farbaufnahmen höchst eindrucksvoll dokumentiert wird.
An ihrem Beispiel vor allem erläutern die Autoren die Verständigung unter Ameisen. Gemeinsam haben sie das chemische Kommunikationsystem von Oecophylla aufgeklärt, das an Komplexität sogar in der Welt der staatenbildenden Insekten seinesgleichen sucht und wesentlich zum Erfolg dieser Gattung beigetragen hat. Gleich aus vier verschiedenen Drüsen stammen die Substanzen, die in unterschiedlichen Kombinationen die komplizierte und hocheffektive Zusammenarbeit bei Nahrungserwerb, Territorialabgrenzung sowie Feind- und Konkurrenzabwehr regulieren.
In weiteren Kapiteln werden die besten Krieger mit ihren ausgefeilten Massenkampfstrategien vorgestellt. Wir erfahren das Neueste über die Todesschwadronen der Treiberameisen, über das Superorganismus-Konzept, über Symbiosen mit pflanzensaugenden und -fressenden Insekten und mit Pflanzen, über echte und lebende Fossilien und über Signaltäuschung durch Parasiten.
In einem Kapitel über die seltsamsten Ameisen der Welt berichten die Autoren von einer Art, deren Kiefer einem stachelbewehrten Korb gleichen. Die Funktion dieser abenteuerlich anmutenden Konstruktion war lange völlig unklar und wurde erst in jüngster Zeit von einer brasilianischen Jungforschergruppe aufgedeckt: Die Tiere ernähren sich ausschließlich von kleinen Tausendfüßlern, die wie winzige Stachelschweine über und über mit sperrigen Borsten bedeckt sind; mit dem Kieferkorb aber können die Ameisen sie fangen und zum Nest schaffen, wo sie entborstet und gefressen werden.
Bei allem Staunen sind gerade solche Passagen über hochspezifische evolutive Anpassungen Fundgruben für ein modernes Biologieverständnis, das die Autoren maßgeblich mitgeformt haben. Nebenbei erklären sie auch, wie man Ameisen findet, sammelt und hält – eine Hilfe für all jene, die durch die Lektüre zu eigenen Beobachtungen angeregt werden.
Das Buch bietet Informationen über alle Bereiche der Ameisenforschung und ist angesichts der reichen Farbbebilderung wirklich preiswert. Ich wünsche dem in jeder Hinsicht bemerkenswerten und gelungenen Werk eine breite Leserschaft.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1996, Seite 126
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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