An den Grenzen des Wissens. Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften.
Aus dem Amerikanischen
von Thorsten Schmidt.
Luchterhand, München 1997.
464 Seiten, DM 48,-.
von Thorsten Schmidt.
Luchterhand, München 1997.
464 Seiten, DM 48,-.
Zaghaft überschreibt der Verlag das Buch mit "An den Grenzen...", wo doch das Original 1996 mit der aufdringlichen Fanfare "The End of Science" ein Kassenschlager in den USA wurde. Mit der Wissenschaft seien wir also ans Ende gelangt? John Horgan ist ein angesehener, gebildeter und oft unkonventioneller Journalist, langjähriger Redakteur des Scientific American, bis er dort – wegen dieses Buches – den Hut nehmen mußte. Bekannt und preisgekrönt wurde er durch intellektuell anspruchsvolle Interviews mit führenden Wissenschaftlern, in denen er Resultate und Stil der Forschung sezierte, besonders jedoch die Wirkungen naturwissenschaftlichen Tuns und mathematischen Nachdenkens auf unsere Gesellschaft, die Philosophie, auf heutige Erkenntnis und die Vorstellung vom Universum und vom Menschen.
Horgan sammelt in seinem Buch diese Gespräche und knüpft sie – mit geschickten und faßlichen Einleitungen – zum Grabgebinde. Alle heutige Wissenschaft stoße an ihr Ende: Wissenschaftstheorie, Physik samt Kosmologie, Chaostheorie, die Erforschung biologischer Evolution – sogar die Sozialwissenschaften! Jede dieser Disziplinen erhält ein Kapitel; dort trifft man auf Steven Weinberg, John Eccles, Noam Chomsky, Mitchell Feigenbaum und gut zwei Dutzend weitere Berühmte. Bis auf den in Texas befragten Belgier Ilya Prigogine sind Kontinentaleuropäer nicht vertreten.
Akribisch, meist mit freundlicher Anerkennung, aber auch spöttisch, manchmal bewußt respektlos schildert er seine Partner, ihr privates Milieu, ihre Einsichten und Absichten. Aus dem Olymp entführt er die Halbgötter; Dämmerung umfängt sie allenthalben und Melancholie.
Wer sich dieser Friedhofsstimmung entzieht, dem bietet Horgan einen durchaus lebendigen, persönlichen Eindruck von den Grenzen heutiger Forschung und von vielen ihrer führenden Vertreter – immerhin! Schließlich wäre es ja ein beachtlicher Erfolg, die Erkenntnis bis an die – angeblich prinzipiellen – Grenzen getrieben zu haben. Aber weiter gehe es nun nicht mehr; aller künftige Fortschritt sei triviale Ingenieuranwendung ohne Tiefe, ohne Bedeutung, nur noch unwesentliche Einzelheiten. Wie schade.
Endzeitstimmungen scheinen unwiderstehlich zu reizen, nicht nur heute und nicht nur bei alternden Weisen. Max Planck (1858 bis 1947) wurde vor dem Physikstudium gewarnt, es gäbe bei dem endgültigen Erfolg der allumfassenden klassischen Physik bestenfalls noch kleine unergiebige "Schmutzecken". Ein falscher Rat, denn aus solchen Ecken un-geordneten Schmutzes entstand – unter Plancks Beteiligung - die Quantentheorie! Horgan erwähnt anfangs auch diese immer wiederkehrenden Untergangsvisionen, von Francis Fukuyamas modernem "Ende der Geschichte" bis zurück zum abendländischen Oswald Spengler. Die eigentlich recht lehrreiche Anekdote von der Schmutzecke fehlt bei Horgan, dafür erscheint Max Planck gemeinsam mit Woody Allen als Zeuge der Ansicht, das eigentliche Rätsel der Naturwissenschaften liege beim Menschen selbst. Für Horgan ist also das Bewußtsein kritischer Schlüssel und unerreichbares Ziel der gesamten wissenschaftlichen Mühen.
Woher rührt diese Verliebtheit in solchen Endzeit-Pessimismus? Einerseits von dem Stolz, ein abgeschlossenes und vom Nachwuchs nicht mehr erweiterbares Gebäude geschaffen zu haben. Wer in Vortrag und Lehrbuch, in Vorlesung und Prüfung nach einem solchen System strebt, wird leicht und ganz gern Opfer dieses ja doch arroganten Anspruchs einer Finalität. In den USA herrscht zudem jetzt eine verzweifelte Bedrängnis, gerade bei Horgans Zeugen. Anwendbares Wissen allein ist überall gefordert, selbst vom staatlichen Förderer. Gelder für die Höchstenergiephysik und deren kilometerlange Beschleunigertunnel wurden brüsk gestrichen. Diese Physiker verlieren nun ihre Werkzeuge und damit die Grundlage dafür, mit ihrem Wissen die eigentlichen Naturphilosophen zu bleiben – welch bittere Entthronung!
Forscher der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts sind enttäuscht, trotz all ihrer neuen Methoden nicht mit den Vorgängern, den Schöpfern der frühen Quantenphysik oder der Relativitätstheorie, mithalten zu können. Es fehlen heute die überzeugend einfachen und deshalb so tiefgreifenden Folgerungen, wie es die Unschärferelation, die Verknüpfung von Masse und Energie oder das Atommodell für eine breite Öffentlichkeit waren. Solche entmutigenden Stimmungen erwachsen natürlich besonders in den USA. In Berkeley und an der Columbia-Universität schmerzt der Maßstab aus dem alten Cambridge und weiland Göttingen; das spürt man in vielen der Gespräche.
Der Untertitel der deutschen Ausgabe lautet "Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften". Ganz recht, denn gerade der Siegeszug der letzten Jahrzehnte ist Ursache des Innehaltens und des Pessimismus. Neue Provinzen zur Eroberung sind eben nicht klar erkennbar.
Ein treffendes Beispiel ist das Einordnen der Elementarteilchen. Ich entsinne mich noch der schieren Hoffnungslosigkeit mancher Hochenergiephysiker vor ungefähr dreißig Jahren. Man könne wohl niemals die den Atomkern zusammenhaltenden starken Kräfte verstehen, trotz aller massiven Experimente und vielfacher theoretischer Ansätze. Das menschliche Gehirn funktioniere nun einmal nicht gemäß diesen Kernkräften, also sei ein Zugang grundsätzlich unmöglich. Diese rein psychologisch-physiologisch befüchtete Grenze aber wurde überschritten. Die Quantenchromodynamik liefert mit den gebrochenzahlig elektrisch geladenen Quarks und einer tiefen Einsicht in die Symmetrien von Teilchen und Kräften beeindruckende Erklärungen. Selbstverständlich behandelt Horgan dieses Thema ausführlich.
Die Vereinigung naturwissenschaftlicher Beschreibungen für viele scheinbar unzusammenhängende Erscheinungen unter dem Dach einer umfassenden Theorie ist hehres Idealziel der Forschung. Isaac Newton (1643 bis 1727) wurde gefeiert, denn sein fallender Apfel und die Planetenbewegungen gehörten plötzlich zusammen. Überschwengliche Gedichte wurden verfaßt, als James Clerk Maxwell (1831 bis 1879) im vorigen Jahrhundert die Vereinigung von elektrischen, magnetischen und optischen Phänomenen unter den Anweisungen eines Quartetts eleganter Gleichungen gelang. In unserer Zeit glückte die Vereinigung der physikalischen Kräfte, ein enormer Erfolg, auch wenn bis heute die Schwerkraft sich hartnäckig sträubt, mit den anderen Kräften, der starken, der schwachen und der elektromagnetischen, eingemeindet zu werden. Auf diesen Siegeszug der zeitgenössischen Theorie mußte einfach Innehalten und Verschnaufen folgen; das endgültige Finale ist aber wohl nicht zu fürchten. Man sollte nie nie sagen, erst recht nicht, wenn einem das Haar ergraut ist – was bei den meisten Partnern Horgans wohl zutrifft.
Fast noch imposanter als die Verschmelzung der Kräfte und die neue Ordnung der Teilchen ist die Verbindung des Verstehens vom All und seiner Entwicklung mit der elementaren Physik. Urknall und Einheit der Wechselwirkungen gehören zusammen. Mit dem Abkühlen der Welt brechen die Symmetrien, neue Vielfalt entsteht. Dazu passen dann auch wieder die eindrucksvollen Experimente wie die von Arno Penzias, als er beim technischen Überprüfen einer Radioantenne den Urknall nachwies – spannend von Horgan festgehalten (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1990, Seite 104).
Unbehagen äußert mancher Kritiker am Zerlegen und Zerteilen, dem Suchen nur nach kleinsten elementaren Einheiten. Die Wissenschaft verliere so den Blick und Sinn für das Ganze, das Zusammenwirken und das Komplexe. Murray Gell-Mann, von Horgan als QuarkMeister gelobt und als typischer Reduktionist vorgestellt, schrieb das Buch "Das Quark und der Jaguar" (Spektrum der Wissenschaft, März 199, Seite 121), in dem er diesen Gegensatz zwischen dem Teil und dem Ganzen zu erläutern versuchte. Das Komplexe sei zu schwierig, Fortschritt könne wohl doch nur von weiteren Vorstößen in den Mikrokosmos erwartet werden, so zitiert Horgan den Pessimismus von Gell-Mann.
Was uns Naturwissenschaftler sicherlich auch quält, ist die Schwierigkeit, diese großartigen Entdeckungen mit ihrer inhärenten Ästhetik dem Laien zu vermitteln. Je allgemeiner eine Theorie, desto weiter muß sie sich von den menschlichen Maßstäben entfernen. Der Trick, Newton mit Fallobst populär zu machen, muß heute scheitern, selbst wenn die Hochenergieforscher das Wort quark bei James Joyce entlehnen und die Eigenschaften der Quarks mit Wörtern wie Charme, Farbe und strangeness umschreiben. Diese vertrauensbildenden Begriffe sind Namen aus fernen, unvermeidlich stark abstrahierten mathematischen Räumen. Noch schlimmer wird es bei weit im dunkeln liegenden Ansätzen wie einer erhofft universellen Theorie der strings, fadenförmiger, geisterhafter und vielleicht gar nicht für die Beschreibung von Teilchen und ihren Wirkungen zutreffender Gebilde mathematischer Verallgemeinerungen; Horgan schildert treffend den trotzigen Versuch und die nagenden Zweifel mit derlei Vermutungen.
Eine Gesellschaft flacher Medien und primitiver Allgemeinplätze liegt dem Forscher nicht; im Kampf um Einschaltquoten des menschlichen Interesses unterliegt er – das schmerzt natürlich und schürt Untergangsstimmung. Galileo Galilei und Giordano Bruno, diese Vorfahren wurden doch noch von den Mächtigen bitterernst genomen! Albert Einstein hatte eine ganz einfache Formel zu bieten, zudem gab es da den im Weltraumflug langsamer alternden Zwillingsbruder als sehr menschliche Anschauung. Auch unter den Quanten und der Unschärfe konnte man sich noch etwas vorstellen und ahnen, daß hier die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis irgendwie berührt werden. Die bedrohlich riesigen Energievorräte im Atomkern gingen noch jedermann etwas an. Die Quarks aber spüren wir nicht als einzelne Bestandteile der Natur – und der Urknall ist ja so lange her. Die vielen heutigen Probleme der Menschheit scheinen von den Grundlagen der Naturerkenntnis gar nicht mehr berührt zu sein. Dazu wären eher die umsetzenden Ingenieure und deren angewandte Forschung gefragt, aber jenen verweigern Horgan und seine Freunde jeglichen Adel des Fundamentalen. Auch dieses öffentliche Verschmähen der Grundlagen verursacht Enttäuschung und Endzeitfrust.
Wissenschaftler dürfen sich nicht wie Künstler oder Filmstars zeigen. Zu ihrem Grundprinzip der Objektivität gehört Zurückhaltung. Besonders die Naturwissenschaftler verdrängen bewußt und hart das Persönliche, erst recht die Psyche, die für Horgan so wesentlich ist. Die kritischen Fachkollegen mit ihren Verpflichtungen zur Überprüfung durch Falsifizierung sind die allein gültigen Wertmesser. Metaphysische Spekulation ist schon seit Newton verpönt. Horgans Buch verstößt ganz gezielt gegen diese Regeln; gerade das macht es so ungewöhnlich und spannend. Für den Fachmann wirkt manche Subjektivität ärgerlich oder sogar verletzend. Anspruch auf Tiefe und Exaktheit kann einer solchen Reportagensammlung nicht abverlangt werden; eigentlich ist auch kein Vorwurf der Schlampigkeit angebracht, vor allem weil Horgan seinen Text weitgehend auf wörtliche Zitate abstützt. Der Laie aber wird – trotz großer Mühen Horgans und trotz seines Geschicks – die entscheidenden Konsequenzen kaum selbständig bewerten können. Der Text ist meist doch recht schwierig.
Den Fernerstehenden wird also der Blick in die von Forschung geprägten Persönlichkeiten der Gelehrten die vermutlich stärkste Faszination bescheren; hierauf ist das Buch optimiert worden, sein Autor ist schließlich Journalist! Anerkennung gebührt John Horgan für sein jahrelanges Streben, mit den Exponenten der angelsächsischen Forschung sorgfältig vorbereitete, bedeutsame Gespräche zu führen und hier zusammenzustellen. Das heute wohl unvermeidliche Reißerische hält sich in Grenzen. Auch die deutsche Übersetzung ist annehmbar. Dem Leser wird jedenfalls der Blick auf die Grenzen geschärft, er wird ermuntert und vorbereitet, den Fortgang moderner Forschung kritischer zu verfolgen und gespannt zu prüfen, ob wir denn tatsächlich am Ende angelangt seien.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1997, Seite 138
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben