Anthropologie: Anthropologische Spuren
Zur Natur des Menschen Herausgegeben von Volker Sommer Hirzel, Stuttgart 2000. 256 Seiten, DM 68,–
Christian Vogel, der Mann, der die Anthropologie in Deutschland modernisierte, ist mit erst 61 Jahren im Dezember 1994 gestorben. Und weil sein außergewöhnliches Naturell die anthropologische und primatologische Landschaft des deutschsprachigen Raums über Jahrzehnte so stark mitbestimmte, ist es wohl gerechtfertigt, dass ein dankbarer Schüler ihn mit diesem Kompendium würdigt.
Die Kapitel des Buches repräsentieren Stationen einer lebenslangen Forschungslinie. Mit einem biologischen Rätsel fing es in Studentenzeiten an: Wie beispielsweise kann eine komplexe Musterung auf den Flügeln eines Eichelhähers über die Einzelontogenese jeder Feder entstehen? Wie kann ein komplexes Ganzes aus einfacheren Teilen allmählich heranwachsen, wo doch die Zwischenstufen keinerlei Überlebensvorteil bieten? Ein bisschen aufrechter Gang bringt dem Menschen nichts. Die Flosse des Schiffshalters ist zum Saugnapf umfunktioniert und taugt nicht mehr zum Schwimmen; wie überlebt ein Tier mit einem Organ, das nicht mehr Flosse und noch nicht Saugnapf ist?
Daraus entwickelte sich die Kernfrage der Tiersoziologie (und auch der Soziologie des Menschen): Wie kann aus der Interessenlage von Individuen eine übergeordnete Gemeinschaft entstehen? Wie wird Egoismus überwunden und gar zum Altruismus? Beispiele für Letzteres gibt es in der Tierwelt zuhauf: In Insektenstaaten verzichten sämtliche Angehörigen gewisser Kasten auf die Reproduktion; ein Tier, das einen Warnruf ausstößt, mag zwar andere retten, gefährdet aber sich selbst.
Bis Anfang der siebziger Jahre schien gleichwohl die Welt in Ordnung. Soziale Strukturen im Tierreich, so die herrschende Auffassung, dienen vielleicht nicht der Reproduktion des Individuums, aber doch der Arterhaltung.
Doch manches beobachtete Verhalten war noch nicht einmal der Art dienlich – ganz im Gegenteil. Die Vertreter der alten Schule, deren prominenteste Figur Konrad Lorenz war, begnügten sich damit, solches Verhalten als aberrant zu deklarieren oder ihm eben doch eine arterhaltende Funktion zuzuweisen. Wenn Tiere der gleichen Art einander beschädigten oder gar umbrachten, musste das als harter Regulationsmechanismus dazu dienen, der Art oder der Gruppe das Überleben zu sichern, indem es Überbevölkerung verhinderte.
Doch Anfang der siebziger Jahre beobachtete Vogel bei den Grauen Languren Indiens, dass erwachsene Männchen Jungtiere töteten, Angehörige nicht nur ihrer Art, sondern sogar Mitglieder ihrer eigenen Gruppe. Nahrungsmangel oder drohende Überbevölkerung kam angesichts der ökologischen Verhältnisse nicht als Erklärung in Betracht.
Als einer der ersten im deutschen Sprachraum erkannte Vogel die Bedeutung des Infantizids. Mit dieser blutigen Methode maximieren Paschas, die soeben einen neuen Harem übernommen haben, ihren persönlichen Fortpflanzungserfolg. Ein Langurenweibchen, das Junge säugt, ist nicht empfängnisbereit und aus Sicht der egoistischen Gene des Paschas totes Kapital. Erst nach dem Tod des Säuglings setzt der weibliche Zyklus wieder ein.
Der serielle Kindermord in Langurengesellschaften war jedoch damals noch so spärlich dokumentiert, dass Vogel sich mit seiner Auffassung im Kreis der etablierten Fachkollegen fast blamierte. Mutig stand er dennoch dazu, und mit dem erwachten Interesse der Fachwelt wurde der Infantizid immer häufiger und bei den verschiedensten Tierstämmen zuverlässig beobachtet und durch Fotografie und Filmaufnahmen belegt. Sehr zur Überraschung der Biologen stießen dann auch Anthropologen und Soziologen auf durchaus vergleichbare Phänomene in menschlichen Gesellschaften. Bei den Yanomami-Indianern und bis ins 19. Jahrhundert bei den Bauern von Krummhörn (Ostfriesland) scheint der Egoismus der Gene massiven Einfluß auf die Überlebenschancen Neugeborener auszuüben (Spektrum der Wissenschaft 6/1995, S. 70), wie es im Kapitel über Evolution und Moral durch eindrückliche Zahlen belegt wird.
Vogels beharrliches Verfechten seiner Theorien brachte die entscheidende Wende in der Biologie, die der Soziobiologie bei uns ganz entscheidend den Weg bereitete. Ein Triumph, der Vogels späteren Aufsätzen deutlich anzumerken ist. So, wenn er sich im letzten Kapitel "leichtfertig", wie er selbst sagt, an Goethes "Faust" wagt, höchst vergnüglich, aber schlüssig die "Soziobiologie der Gretchen-Tragödie" untersucht und im Egoismus der Gene "des Pudels Kern" entdeckt.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2001, Seite 104
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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