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Archaea-Genom komplettiert das Bild der drei Urreiche des Lebens

Von vier Organismen, die alle drei Urreiche des Lebens abdecken, konnte inzwischen das gesamte Erbgut entschlüsselt werden. Erste Vergleiche auf der Genom-Ebene bestätigen alte Hypothesen, werfen aber auch interessante neue Fragen auf.

Die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Bakterien lassen sich nicht anhand der äußeren Gestalt feststellen – ob ein Mikroorganismus Stäbchen- oder Kugelform hat, hängt meist nur von wenigen Genen ab; jede denkbare Gestalt konnte daher von der Evolution unzählige Male neu erfunden werden. Um den Familienstammbaum der Einzeller zu erforschen, muß man deshalb die Verwandtschaft der informationshaltigen Moleküle untersuchen; dazu zählen außer dem Erbmolekül DNA die ähnlich aufgebaute RNA und die Proteine.

Carl Woese wählte im Jahre 1969 für ein solches Forschungsprojekt an der Universität von Illinois in Urbana-Champaign als Modellsystem die RNA der kleinen Untereinheit des Ribosoms – das heißt jenes Organells, das als zelluläre Proteinfabrik dient. RNA besteht ebenso wie DNA aus einer gewöhnlich sehr langen Kette, in der vier Grundbausteine – Nucleotide genannt – wie die Buchstaben eines Textes in einer bestimmten Abfolge aneinandergereiht sind; und wie bei Texten steckt die Botschaft in der Sequenz der Bausteine (Buchstaben).

Ende der sechziger Jahre war es allerdings undenkbar, die Nucleotidsequenz der gesamten ribosomalen RNA zu ermitteln. Deshalb zerlegte Woese das Molekül in kürzere Abschnitte (gleichsam Wörter), die jeweils mit einem Guanin-Nucleotid endeten. Daraus wählte er diejenigen, die genau sechs Bausteine enthielten, und bestimmte, wieviele dieser Sechs-Buchstaben-Wörter bei den verschiedenen Mikroben jeweils übereinstimmend auftraten. Aufgrund dieser statistischen Analyse stellte er 1977 die Hypothese auf, daß außer den echten Bakterien (Eubakterien) und den komplexeren kernhaltigen Zellen (Eukaryoten) ein drittes Urreich existiere, dessen Mitglieder er Archaebakterien nannte (Spektrum der Wissenschaft, August 1981, Seite 74). Sie unterschieden sich in der Sequenz ihrer ribosomalen RNA ebenso stark von den Vertretern der beiden anderen Reiche wie diese untereinander.

Nicht einmal 20 Jahre nach dieser mühevollen statistischen Fleißarbeit ist die Entschlüsselung von Genen Routine geworden; selbst die Sequenzierung des kompletten Erbguts von Organismen ließ sich überraschend schnell realisieren. Und da nach zwei Eubakterien (Haemophilus influenzae und Mycoplasma genitalium) und der (eukaryotischen) Bierhefe Saccharomyces cerevisiae jetzt auch das Archaebakterium Methanococcus jannaschii vollständig sequenziert ist ("Science", Band 273, Seiten 1066 bis 1073, 23. August 1996), läßt sich durch Vergleich des gesamten Erbguts der vier Modell-Organismen nunmehr genauer überprüfen, ob Woeses einst heftig umstrittene Hypothese zutrifft.

M. jannaschii wurde 1982 an einem hydrothermalen Schlot am Boden des Pazifik in 2000 Meter Tiefe gefunden und nach dem am Ozeanographischen Institut in Woods Hole (Massachusetts) tätigen deutschen Mikrobiologen Holger Jannasch benannt. Seine Sequenzierung bedeutet einen sensationellen Hat-Trick (drei komplette Genomsequenzen in dreizehn Monaten) für einen Forscher, der ursprünglich als Außenseiter in das durch das Humangenom-Projekt angestachelte Rennen um die erste Genomsequenzierung gegangen war: Craig Venter und seine Mitarbeiter errangen diesen bemerkenswerten Erfolg mit der Methode der Schrotflinten-Sequenzierung, die sie am Institut für Genomforschung in Gaithersburg (Maryland) entwickelt hatten (Bild 1). Dabei wird ein riesiger DNA-Abschnitt – zum Beispiel das gesamte, 1,8 Millionen Nucleotide lange Genom von H. influenzae – in Tausende von Zufallsfragmenten zerlegt. Von diesen sequenziert man zunächst nur die Enden; dann kümmern sich Computerprogramme darum, zueinander passende Endstücke mit Überlappungen von mindestens 50 Nucleotidbausteinen herauszufinden und die zugehörigen Fragmente in der richtigen Reihenfolge zusammenzusetzen, bis sie eine durchgehende Kette ergeben, die das ganze Genom repräsentiert (Bild 1). Anschließend werden für die in dieser Kette enthaltenen Fragmente auch die noch fehlenden Nucleotide im Mittelteil bestimmt. Bei den konventionellen Verfahren ermittelt man dagegen zunächst mühsam die Anordnung der einzelnen Gene, und selektiert und sequenziert diese dann einzeln.

Venters geniale Alternative wurde zunächst nicht ernst genommen – so scheiterte er mit seinem Förderantrag für die Sequenzierung des Genoms von H. influenzae beim National Institute of Health (NIH). Dennoch konnte er das Projekt in nur 13 Monaten erfolgreich abschließen und damit die erste vollständige Nucleotidkarte des Erbguts eines zellulären Organismus vorlegen ("Science", Band 269, Seite 496, 28. Juli 1995). Drei Monate später veröffentlichte er zudem die komplette Abfolge der 580000 Nucleotide des kleinsten bekannten Zell-Genoms (M. genitalium, "Science", Band 270, Seite 397, 20. Oktober 1995).

Vierzig Wissenschaftler von Venters Institut und fünf weiteren Forschungseinrichtungen in den Vereinigten Staaten zeichnen nun für die Bestimmung des 1,7 Millionen Nucleotide umfassenden Genoms von M. jannaschii verantwortlich. Insgesamt 36718 Fragmente wurden sequenziert und mit Computerhilfe zu der Gesamtstruktur des ringförmigen Chromosoms und zweier kleinerer extrachromosomaler Elemente (ECEs) zusammengepuzzelt (Bild 2). Nach den typischen Start- und Stopp-Signalen für Ablese- und Übersetzungsenzyme zu schließen, liegen auf dem Chromosom 1682 sowie auf den beiden ECEs 44 und 12 für Proteine codierende Abschnitte.

Bereits die ersten vorläufigen Ergebnisse des Vergleichs dieser Gene mit den bekannten Sequenzen anderer Organismen liefern eine triumphale Bestätigung für Woeses Einteilung der Lebewesen in drei Urreiche. Lediglich 56 Prozent der Erbfaktoren von M. jannaschii ließen sich analogen Sequenzen aus anderen Bakterien oder Eukaryoten zuordnen; bei dem ungefähr gleich umfangreichen Genom von H. influenzae wurden hingegen für annähernd 80 Prozent der Gene Entsprechungen in den vorhandenen Datenbanken gefunden, deren Einträge hauptsächlich von Eubakterien und Eukaryoten stammen.

Macht diese pauschale Statistik bereits klar, daß M. jannaschii zu Recht einem dritten Urreich zugeordnet wird, so sprechen die direkten Vergleiche der bekannten Gene eine noch deutlichere Sprache. Wenn man diese Erbeinheiten nach den Aufgabenbereichen ihrer Proteinprodukte in der Zelle gruppiert, ähneln manche Gengruppen von Archaebakterien den entsprechenden von Eukaryoten in verblüffendem Ausmaß, während andere mehr mit denen der gewöhnlichen Bakterien übereinstimmen.

Den höheren Lebewesen gleichen die Archaebakterien zum Beispiel in der molekularen Maschinerie, die DNA und RNA vervielfältigt und die genetische Information in Proteine umsetzt. Sie funktioniert in M. jannaschii ganz ähnlich wie in Hefen, Mäusen oder Menschen, aber anders als in echten Bakterien. Bei vielen grundlegenden Stoffwechselreaktionen hingegen sind die Archaebakterien offenbar stärker mit den Eubakterien verwandt als mit den Eukaryoten.

Eine lohnende Aufgabe ist es nun, die Funktion der 1738 Gene von M. jannaschii zu identifizieren, die bisher großenteils nur anhand des Start- und Stoppsignals als solche erkannt wurden. Immerhin glauben Venter und seine Kollegen bereits alle diejenigen herausgefunden zu haben, die für die Spezialität dieses Archaebakteriums verantwortlich sind: die Bildung von Methan. Außerdem kann der Mikroorganismus aber auch Stickstoff fixieren (also den reaktionsträgen Hauptbestandteil der Erdatmosphäre in eine biochemisch verwertbare Verbindung umwandeln). Dieser Funktionsbereich ließ sich im Genom gleichfalls vollständig identifizieren.

Generell dürfte sich M. jannaschii mit seiner großen Zahl noch unbekannter Gene als Goldgrube für Bakteriengenetiker erweisen. Um die Funktion dieser Erbfaktoren zu erschließen, schaltet man sie durch Mutation einzeln aus und beobachtet die dadurch ausgelösten Veränderungen oder Schädigungen. Mit ziemlicher Sicherheit wird man dabei auf völlig neuartige Proteine stoßen – darunter auch solche mit Anwendungsmöglichkeiten in Medizin und Biotechnologie.

Umgekehrt läßt sich, nachdem das Erbgut dieses Archaebakteriums vollständig bekannt ist, nun erstmals auch feststellen, welche Gene anderer Mikroorganismen bei ihm fehlen. Daraus ergeben sich gleichfalls wertvolle Aufschlüsse. Zum Beispiel hat M. jannaschii nicht für jede der 20 Aminosäuren eine sogenannte tRNA-Synthetase, die sie spezifisch an die zugehörige Transfer-RNA bindet. (Transfer-RNAs bilden gewissermaßen das genetische Lexikon, das die Verknüpfung zwischen jeweils einem Wort aus drei Nucleotid-Buchstaben und der zugehörigen Aminosäure herstellt.) Man vermutet, daß statt dessen zunächst eine nahe verwandte Aminosäure – zum Beispiel Glutamin – angehängt und nachträglich durch chemische Modifikation in die richtige – in diesem Falle Glutaminsäure – umgewandelt wird.

Selbstverständlich erlauben die Genome von ein oder zwei Vertretern jedes Urreiches nur begrenzte Schlußfolgerungen. Doch dürften weitere Totalsequenzierungen nicht lange auf sich warten lassen; sie werden die Datenbasis für genauere Vergleiche erheblich verbessern. Schließlich könnte es so gelingen, den Stammbaum des Lebens bis zu seinen Wurzeln zurückzuverfolgen und eines der vertracktesten Rätsel der Molekularbiologie endgültig zu lösen – den Ursprung der eukaryotischen Zelle.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1996, Seite 32
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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