Architekturen des Lebens
Einfache mechanische Grundprinzipien, wie sie in manchen Werken der Architektur und Kunst angewendet werden, könnten auch organischen Strukturen zugrunde liegen. Selbst wesentliche biologische Funktionsweisen dürften sich zumindest teilweise aus ihnen ableiten lassen.
Organismen sind komplexe dynamische Systeme aus einer Vielzahl miteinander und zudem mit der Umwelt wechselwirkender Komponenten, die wiederum aus nicht minder komplexen Subsystemen bis hin zu molekularen Bausteinen bestehen. Zwar hat man viele davon mittlerweile recht gut erforscht, doch ihr Zusammenwirken beziehungsweise die spontane Ausbildung größerer Einheiten gibt nach wie vor Rätsel auf. Das jeweils Ganze ist gerade in diesem Falle weit mehr als die Summe seiner Teile, zumal dieses Ganze bei steter Veränderung durch Ein-, Auf-, Um- und Abbau auf charakteristische Weise es selbst bleibt.
Deshalb reicht es nicht, alle Gene – die Blaupausen der Proteinsynthese – im Strang der menschlichen Erbsubstanz zu identifizieren, um zu begreifen, wie unser Körper aus einer befruchteten Eizelle entsteht und wie er funktioniert (oder versagt). Vielmehr müssen auch grund-legende Gesetzmäßigkeiten verstanden werden, nach denen biochemische Bausteine zu Molekülen zusammenfinden, diese zu Organellen, und so weiter über Zellen, Gewebe und Organe bis zum vollständigen Lebewesen.
Daß es in der Natur auf molekularer wie auf makroskopischer Größenskala allgemeine Organisationsprinzipien gibt, wird meines Erachtens durch die Wiederkehr gewisser Grundstrukturen wie Spiralen und aus Fünf- oder Dreiecken aufgebauter Gebilde belegt. Solche Muster findet man in unbelebter Materie, so in streng regelmäßigen Kristallen, aber eben auch in organismischer, etwa in vergleichsweise unübersichtlich gefalteten Proteinen, und zwar bei allen Lebensformen vom Einzeller bis zum Menschen. Sicherlich begünstigt die begrenzte Auswahl biochemischer Elemente – hauptsächlich Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Phosphor – formale Ähnlichkeiten. Wie aber läßt sich die spontane Verbindung von Bausteinen zu größeren, strukturell und funktional dynamischen Einheiten mit neuen, nicht von ihren Bestandteilen herleitbaren Eigenschaften erklären? Welch fundamentales Kräftespiel trägt zu dieser Selbstorganisation bei?
Der amerikanische Ingenieur und Architekt Richard Buckminster Fuller (1895 bis 1983) hat eine Möglichkeit aufgezeigt, wie sich komplexe mechanische Gebilde unter Einwirkung äußerer Kräfte selbst stabilisieren können; auch hier ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Er bezeichnete das Konstruktionsprinzip als Tensegrität (dieses Kunstwort leitete er aus englisch tension für Spannung oder Gespanntheit und integrity für Vollständigkeit oder Unversehrtheit ab). Nach diesem Prinzip erbaute architektonische Systeme tragen sich selbst und halten Wind und Schneelast stand, indem Zug kontinuierlich und Druck diskontinuierlich innerhalb der gesamten Struktur verteilt und ausbalanciert werden, beispielsweise mittels druckaufnehmender Streben in einem Netz zugaufnehmender Seile.
Tensegrität als ein Prinzip des Lebens
In meinen frühen Studienjahren beschäftigte ich mich außer mit Zellbiologie auch mit Bildhauerei. Dabei gewann ich die Überzeugung, charakteristisch für lebende Formen sei weniger die chemische Zusammensetzung als Bildung und Erhalt architektonischer Muster. Während viele individuelle Bausteine – Moleküle und Zellen – unablässig ausgewechselt werden, bleibt die Gestalt von Geweben, Organen und des gesamten Organismus im wesentlichen bestehen.
Bei mechanischen Systemen, deren Statik auf Tensegrität beruht, sind zwei Kategorien zu unterscheiden. Zu der einen gehören Fullers geodätische Kuppeln. Sie bestehen aus starren Streben, die sowohl Zug als auch Druck aufnehmen, weil sie zu einem Rahmenwerk aus Dreiecken, Fünfecken oder Sechsecken verbunden sind; jede Strebe ist so ausgerichtet, daß sie ihren Verbindungspunkt mit anderen Streben in seiner Position hält. Damit ist die Stabilität der Gesamtstruktur gewährleistet (Bild 2).
Der Bildhauer Kenneth Snelson variierte dieses Prinzip durch stabilisierende Vorspannung. Er benutzte für seine abstrakten Skulpturen starre druck- und flexible zugaufnehmende Elemente. Erstere spannen die flexiblen Komponenten, während diese wiederum die starren Streben komprimieren. Weil die entgegengesetzten Kräfte sich innerhalb der Struktur die Waage halten, verleihen sie selbst einem extrem filigranen, scheinbar äußerst labilen Gesamtgebilde Stabilität und Widerstandsfähigkeit gegenüber äußeren Einflüssen (Bild 1).
Den Strukturen beider Kategorien ist gemeinsam, daß ein lokaler Zuwachs an Zugspannung durch erhöhten lokalen Druck ausgeglichen beziehungsweise über alle Komponenten global verteilt wird. Im Gegensatz dazu verleiht den meisten konventionellen Gebäuden die Schwerkraft durch von oben nach unten zunehmende Druckbelastung ihre Standfestigkeit. Weil die Elemente von Objekten nach Fullers oder Snelsons Bauart ihre Verknüpfungspunkte zudem geradlinig verbinden, läßt sich maximale Belastbarkeit bei einer gegebenen Menge Baumaterial erzielen – deshalb können solche Strukturen trotz eindrucksvoller Größe atemberaubend leicht wirken.
Meines Erachtens finden sich diese modernen architektonischen Gestaltungsprinzipien auch praktisch in jeder uns erkennbaren Dimension des menschlichen Körpers. Ein Beispiel des makroskopischen Bereichs sind die 206 vor allem Druck aufnehmenden Knochen des Skeletts und die Zug ausübenden oder übertragenden Muskeln, Sehnen und Bänder. Im mikroskopischen Bereich ist zum Beispiel ein Proteinmolekül nicht die denkbar dichteste Packung seiner Komponenten, sondern ein kompliziert aufgebautes Gebilde, das durch den Ausgleich anziehender und abstoßender Kräfte zustande kommt.
Mich interessiert insbesondere ein mittlerer Bereich, jener der lebenden Zellen. Bereits als Student bei James D. Jamieson an der Yale-Universität in New Haven (Connecticut) untersuchte ich mechanische Wechselwirkungen darin. Damals – Ende der siebziger Jahre – war durchaus bekannt, daß Zellmembran und Cytoplasma nicht die einzigen mechanisch-strukturellen Hauptkomponenten einer Zelle sind, sondern daß sie auch ein inneres Gerüst aus drei Arten faserför-miger Protein-Polymere hat: besonders dünne Actin-Filamente, seilähnliche Intermediär-Filamente und röhrenartige Mikrotubuli (Bild 5). Deren Bedeutung für die Form des Ganzen verstand man allerdings noch kaum.
Nicht recht erklärlich war ferner die Art und Weise, wie sich isolierte Zellen auf verschiedenen Oberflächen verhalten. Zwar wußte man seit langem, daß sie sich etwa auf der harten, glatten Wandung eines gläsernen Kulturgefäßes ausdehnen und abflachen; doch entdeckte Albert K. Harris von der Universität von Nord-Carolina in Chapel Hill 1980, daß sie sich auf Gummi rund zusammenziehen, wobei sich sogar die flexible Unterlage ein wenig kräuselt.
Aus sechs Holzstäbchen und einem Gummiband als Druck- und Zugelementen baute ich zunächst ein Tensegritätsmodell, dann – analog dem Zellkern – ein gleichartiges kleineres, das ich wiederum mit Gummibändern als Pendant zellulärer Gerüstfilamente in die größere Struktur einhängte. Damit konnte ich das Kräftespiel in einer sich anhaftenden Zelle qualitativ nachahmen (Bild 4): Drückte ich das Modell nieder, nahm es eine flache Form an; beim Loslassen sorgte die Spannung in den Bändern dafür, daß es wieder in die ursprüngliche Gestalt schnellte. Nahm ich als Unterlage ein Tuch, wurde es beim Aufrichten der Struktur von den aufsitzenden Stäben gefältelt – so wirken auch die Adhäsionsmoleküle auf der Oberfläche einer Zelle, die sich auf Gummi zusammenzieht.
Mittlerweile kennt man die mechanischen Funktionen des Zellskeletts besser. Eine seiner wesentlichen Komponenten ist ein Netzwerk aus kontraktilen Actin-Filamenten, das sich durch die ganze Zelle erstreckt. Es zieht die Membran und alle inneren Bestandteile zum Zentrum, richtet sie also zum Kern hin aus. Die Gegenkraft liefern im Zellinnern hauptsächlich Mikrotubuli oder Bündel von Actin-Filamenten; ihnen helfen die Strukturen der extrazellulären Matrix, einer Art Kittsubstanz, in der sich die Zelle verankert. Die intermediären Filamente haben integrierende Funktion: Sie verbinden die beiden anderen Fasertypen miteinander, mit der Außenmembran und mit dem Zellkern. Dabei wirken sie wie Spannseile, die den zentralen Kern stützen und in seiner Position fixieren. Mein Mitarbeiter Andrew Maniotis demonstrierte die durchgehende elastische Verbindung aller Bestandteile, indem er Bindungsstellen auf der Oberfläche lebender Zellen mit Mikropipetten nach außen zog. Daraufhin richteten sich Strukturen von Zellskelett und Zellkern entsprechend aus.
Mechanik und Biochemie
Mit dem Tensegritätskonzept lassen sich zahlreiche biologische Phänomene erklären. Steven R. Heidemann, der Mitte der achtziger Jahre mit Harish Joshi und Robert E. Buxbaum an der Universität von Michigan in East Lansing zusammenarbeitete, untersuchte unter diesem Aspekt, wie Nervenzellen Neuriten ausbilden, also ihre der elektrischen Signalleitung dienenden, in ganzer Länge von Mikrotubuli durchzogenen Fortsätze. Diesen Prozeß möchte man schon deswegen verstehen, weil er für die Regeneration peripherer Nerven nach Verletzungen entscheidend ist.
Die Gruppe stellte fest, daß die Mikrotubuli an dem vom Zellkörper entfernt gelegenen Ende gewöhnlich von Actin-Filamenten komprimiert werden, die diese feinen Röhren umschließen; der Druck verhindert weiteres Wachstum (Bild 6). Verankern sich aber Ausläufer des Neuriten an entfernterer Stelle, entsteht im Netzwerk der Actin-Filamente ein Zug, und ihr Druck wird verringert; mithin können sich die Mikrotubuli in dieser Richtung verlängern.
In unserem Zusammenhang ist auch ein Befund von Andrew Matus vom Friedrich-Miescher-Institut in Basel interessant: An fluoreszenzmarkierten Mikrotubuli konnte er sehen, wie sie sich unter Gegendruck bogen.
Das den architektonischen Ideen Fullers entlehnte Konzept legt nahe, daß Änderungen des Kräftegleichgewichts über der Zelloberfläche die Struktur des Cytoskeletts modifizieren. Dies ist eine wichtige Erkenntnis, denn viele Enzyme und andere Substanzen, die Proteinsynthese, Energieumwandlung oder Zellwachstum steuern, sind an dem Fasergespinst fixiert, und eine Änderung seiner Geometrie und Mechanik könnte deshalb biochemische Reaktionen beeinflussen und sogar Gene an- und abschalten.
Mitarbeiter meiner Gruppe entwarfen deshalb zusammen mit George M. Whitesides, der ebenfalls an der Harvard-Universität arbeitet, folgenden Versuchsaufbau: Auf eine teflonartige Oberfläche, auf der sich Zellen nicht anheften können, setzten sie winzige Flecken extrazellulärer Matrix von unterschiedlicher Form und Größe. So waren darauf gegebene Zellen gezwungen, sich entsprechend auszurichten; dabei wurden sie hochgewölbt oder abgeflacht, gerundet oder eher eckig. Durch diese bloße Variation der Gestalt konnten die Forscher nun zwischen verschiedenen genetischen Programmen hin- und herschalten: Zellen, die sich flach ausbreiteten, also praktisch unbegrenzt Platz hatten, zeigten größere Neigung zur Teilung. Hingegen aktivierten stark gerundete, also sozusagen sehr eingeengte, den Apoptose genannten vorprogrammierten Selbstmord (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1997, Seite 26). Unter Bedingungen zwischen diesen Extremen differenzierten sich die Zellen gewebespezifisch aus – so begannen isolierte Leberzellen Proteine zu produzieren, die das Organ gewöhnlich ins Blut abgibt.
Diese Befunde sind gut verständlich. So wird eine Zelle, die sich allseits strecken kann und damit ihr Cytoskelett flach ausspannt, sozusagen animiert, den freien Raum – etwa eine Wunde – mit Tochterzellen auszufüllen. Zu große Enge hingegen kann signalisieren, daß schon ein zu reges Wachstum des Gewebes stattgefunden hat; der Gefahr einer unkontrollierten Wucherung ist unverzüglich durch das Absterben einiger Zellen zu begegnen. Allein die Gestalt von Zelle und innerem Skelett vermittelt also bereits Informationen über den Zustand der Umgebung und die speziellen Erfordernisse; daraufhin werden entsprechende genetische Programme aktiviert. Dies könnte für die Kultur beispielsweise von Hautersatz zum Abdecken großflächiger Brandverletzungen oder gar für die Krebstherapie bedeutsam werden.
Variation der Steifigkeit
Die nächstkomplexere Ebene in der Hierarchie der biologischen Strukturbildung sind Gewebe, die durch die Anlagerung von Zellen untereinander und an die extrazelluläre Matrix entstehen. Muskeln, Knorpel, Blutgefäße, Haut und andere Gewebetypen versteifen sich proportional zu einer einwirkenden Kraft, leisten also immer mehr Widerstand.
Mein Mitarbeiter Ning Wang und James P. Butler von der Harvard-Fakultät für Öffentliche Gesundheit entwickelten 1993 eine Vorrichtung, um Moleküle der Zellmembran – Integrine – zu verdrehen, die durch sie hindurchreichen und den Halt zwischen Cytoskelett und extrazellulärer Matrix herstellen; gleichzeitig läßt sich die Reaktion der Zellen messen. Diese versteiften bei zunehmender Belastung der Integrine mehr und mehr, ebenso wie Gewebe. Auch Ändern der Vorspannung von Actin-Filamenten beeinflußte die Flexibilität von Zellen.
Diese Befunde lassen sich wieder qualitativ an einem einfachen Modell aus Streben und Bändern veranschaulichen: Alle miteinander verbundenen strukturellen Elemente richten sich infolge einer lokalen Belastung neu aus, so daß die gesamte Struktur steifer wird (Bild 3). Gemeinsam mit Dimitrije Stamenovic von der Universität Boston entwickelten wir auch ein entsprechendes mathematisches Modell, das für unterschiedliche Anwendungen dienlich werden könnte. So wären Materialien, die sich gerichtet versteifen, vielleicht für Schutzkleidung oder Prothesen zu gebrauchen, und das Programm könnte beim Modellieren neuartiger Moleküle etwa in der Entwicklung von Arzneimitteln ebenfalls nützlich sein.
Ein weiterer Befund zeigt, daß Effekte aufgrund von Tensegrität spezifisch sind: In den dargestellten Experimenten beeinflußte nämlich die Belastung von Rezeptoren, die nicht der Anbindung der Zelle an die Umgebung dienen, sondern Funktionen im Stoffwechsel haben, das Zellinnere kaum. Mechanische Kräfte wirken also offenbar nur über bestimmte molekulare Pfade. Dies hilft, den Einfluß solcher Faktoren bei der Regulation der Gewebeentwicklung zu verstehen – sei es das Muskelwachstum oder die Reaktion von Pflanzenwurzeln auf die Schwerkraft.
Mikroskopische geodätische Kuppeln
Nun können sich viele Zellen spreizen und abflachen, ohne daß sie Mikrotubuli als Druckstreben enthielten, die doch im bisher diskutierten Modell so wichtig sind. Wie kommt dabei ein Gleichgewicht der Kräfte zustande?
Vermutlich läßt sich bereits das Gitterwerk aus Actin-Filamenten als Tensegritätsstruktur charakterisieren. Je nach Umgebung kann es sich nämlich verschieden anordnen, mal in großen Bündeln, mal als geodätisches Gerüst. Um das Prinzip hinter diesem Mechanismus zu erkunden, baute ich wieder ein sehr simples Modell. Diesmal bildeten Strohhalme ein Rahmenwerk aus sechs Quadraten und acht Dreiecken (Bild 7 links). Das Ganze wurde von einem durch jeden Halm gezogenen Gummiband flexibel zusammengehalten, dessen Spannung den Zug simulierte, der in einem Actin-Gitter beim Verkürzen der Filamente entsteht. Wenn diese kontrahieren, versteifen sie sich auch; deshalb schienen mir die Halme als zweite Art von Komponenten gut geeignet.
Das unbelastete Modell sollte zunächst eine Zellskelett-Einheit repräsentieren, wie sie in allen Richtungen mit vergleichbaren Modulen innerhalb einer isolierten, in Nährlösung schwebenden und keinerlei sonstigem Zug oder Druck ausgesetzten Zelle verbunden wäre. Dann ahmte ich die Verankerung einer solchen Zelle in der extrazellulären Matrix nach. Dies geschieht natürlicherweise, wie angedeutet, nicht durch flächiges Verkleben, sondern sozusagen durch Punktschweißen mit Hilfe der Adhäsionsmoleküle. Actin-Filamente reagieren darauf mit Verkürzung, was die Zugspannung im Netzwerk erhöht. Das Modell zeigte demgemäß eine Tendenz zur Bündelung von Halmen in der Ebene zwischen den Kontaktpunkten (Bild 7 rechts oben); Vergleichbares läßt sich an lebenden Zellen tatsächlich beobachten.
In der dem Kontaktbereich gegenüberliegenden Kappe der Zelle hingegen muß der Zug kontrahierender Fasern durch Gegenzug und Versteifung der benachbarten Actin-Filamente ausgeglichen werden. Fuller hat bereits gezeigt, daß flexible geodätische Gebilde aus Quadraten und Dreiecken bei hoher Last in nur aus Dreiecken bestehende Oktaeder oder Tetraeder umklappen; das geschah auch mit meiner Struktur (Bild 7 rechts unten).
Als ich schließlich viele dieser Modelle miteinander verband, zogen sich die einzelnen Module unter Belastung immer mehr zusammen, und es entstand ein geodätisches Gebilde mit flacher Basis, in dem sich dicht aneinandergelagert Oktaeder und Tetraeder abwechselten. In einer Zelle sollte das Zusammenziehen von Actin-Filamenten beim Anheften an eine feste Matrix das Gitter oberhalb des kugelförmigen Kerns herunterbiegen und die ursprünglich kugelige Zelle somit in eine Art geodätischer Kuppel verwandeln. Derartige Transformationen fanden Elias Lazarides, der damals am Cold Spring Harbor Laboratory in New York arbeitete, sowie Mary Osborn-Weber und Klaus Weber vom Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen im Bereich des Zellplasmas oberhalb des Kerns bei sich flach ausbreitenden Zellen.
Ein universelles Muster
Geodätische Strukturen finden sich überall in der Natur, nicht nur als fußballförmige Kohlenstoffmoleküle, die denn auch Fullerene genannt wurden (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1991, Seite 88, und Dezember 1996, Seite 18), sondern ebenso unter Viren, Enzymen, Organellen, Zellen und kleinen Organismen (Bild 8). Doch selten hat man überlegt, warum. Meiner Ansicht nach ist dieses wiederkehrende Schema ein sichtbarer Beweis für die Existenz grundlegender Regeln der Selbstorganisation. All diese Strukturen stabilisieren sich in den drei Dimensionen des Raums durch eine Anordnung ihrer Bausteine, die Energie und Masse durch Tensegrität minimiert.
Beispielsweise entsteht die Hülle von Viren, den kleinsten Lebensformen auf Erden, indem sich viele gleiche Proteinmoleküle vereinen und das genetische Material umschließen. Dabei überlappen ihre linearen Fortsätze mit ähnlichen benachbarter Moleküle und bilden ein aus Dreiecken bestehendes geodätisches Gerüst. Jede Verbindung darin stabilisiert sich selbst durch das Gleichgewicht zwischen dem Zug von intermolekularen Anziehungskräften – den Wasserstoffbindungen – und dem Vermögen der Fortsätze, einer Kompression oder Biegung zu widerstehen.
Dasselbe Grundschema ist an Fullerenen zu erkennen. Im Buckminsterfulleren etwa bilden 60 Kohlenstoffatome eine löchrige Hohlkugel aus 20 Sechs- und 12 Fünfecken; die perfekte Symmetrie und die äußerst stabile Form gewährleisten die 90 Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindungen, die unter gleicher sterischer Spannung stehen.
Nicht derart augenfällig ist dieses Bauprinzip, wenn es unregelmäßigen Strukturen zugrundeliegt, etwa biologischen Molekülen, die keine geodätischen Formen aufweisen. So bestehen Proteine aus langen Strängen von Aminosäuren, die sich aufknäueln. Haben sie enzymatische Funktion, wird diese von der dreidimensionalen Gestalt bestimmt – und die zeigt Merkmale der Tensegrität: Bestimmte kleinere Abschnitte falten sich zu Helices, die in sich aufgrund der Balance zwischen anziehenden und einer weiteren Stauchung oder Faltung widerstrebenden Kräften im Molekül selbst stabil sind.
Eine von außen an einer Stelle einwirkende Kraft, wie das Andocken eines anderen Moleküls sie ausübt, kann die Konfiguration des gesamten vorgespannten Moleküls ändern. Dann ordnen die Helices ihre Positionen zueinander unter Umständen auf der ganzen Länge des Proteins neu an. Wenn sich zum Beispiel ein signaltragendes Molekül mit einem Rezeptor verbindet, der durch eine Zellmembran ragt, kann dies eine Strukturänderung an seinem Ende im Zellinneren bewirken und dort eine Kaskade molekularer Umordnungen auslösen.
Von Molekülen bis hin zu Knochen, Muskeln und Sehnen des menschlichen Körpers ist Tensegrität das bevorzugte Bauprinzip der Natur. Nur mit seiner Hilfe kann man verstehen, warum sich bei jeder Armbewegung auch die Haut spannt und dieser Zug bis in das innere Gerüst von Zellen hinein wirkt, ohne daß etwas bräche oder risse.
Überdies läßt sich mit Tensegrität erklären, wie all diese Phänomene in lebenden Wesen koordiniert sind. An der Medizinischen Fakultät der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (Maryland) fanden Donald S. Coffey und Kenneth J. Pienta, daß nach diesem Prinzip gebaute Strukturen gekoppelte Oszillatoren bilden. Die Erbsubstanz DNA ebenso wie Zellkerne und die Filamente des Zellskeletts, Ionenkanäle in Membranen, ja ganze Zellen und Gewebe haben demnach charakteristische Resonanzfrequenzen. Stark vereinfacht gesagt, kann so ein System durch die Übertragung von Kräften zwischen allen verbundenen Elementen mechanisch feinabgestimmt werden.
Das von Fuller in reiner Form angewandte Bauprinzip dürfte wohl manche noch offene Frage auf überraschend einfache Weise klären helfen. Da Tensegrität Effizienz optimiert, könnte sie gar die Entwicklung von Vorformen des Lebens begünstigt und auch die weitere Evolution beeinflußt haben. So vermuten manche Forscher, die allerersten Systeme, die sich durch natürliche Auslese fortzuentwickeln vermochten, seien Tonkristalle mit charakteristischen Baufehlern gewesen (Spektrum der Wissenschaft, August 1985, Seite 82, und April 1991, Seite 78). Das Mineral Ton ist selbst schon ein poröses räumliches Gitterwerk von Atomen, die in Oktaeder- und Tetraeder-Formen geodätisch angeordnet sind. Ihre Packung ist jedoch locker genug, um gegeneinander verschiebbar zu sein. Dies macht Ton zu einem Katalysator vieler chemischer Reaktionen, möglicherweise auch solcher, bei denen erste molekulare Bausteine des Lebens entstanden.
Im Laufe der Zeit könnten sich daraus durch Selbstorganisation Strukturen mit speziellen Fähigkeiten herausgebildet haben, Vorläufer von Organellen, die sich schließlich zu einfachen Zellen verbanden. Selbstorganisation unter den Regeln der Tensegrität schuf dann die weiteren, hierarchisch höheren Strukturen – Gewebe, Organe und komplexe Organismen. In gewisser Weise ist diesem Prozeß die Individualentwicklung eines jeden von uns aus einer befruchteten Eizelle vergleichbar.
Erbsubstanz und Gene bildeten allerdings einen neuen Mechanismus, strukturelle Vielfalt zu erzeugen. Aber die Anordnung von Muskeln und Knochen folgte bei einem Tyrannosaurus rex keinen anderen mechanischen Erfordernissen als bei einem Homo sapiens; alle Pflanzen und Tiere sind vorgespannte Systeme.
Literaturhinweise
– On Growth and Form. Von D'Arcey W. Thompson. Cambridge University Press, 1992 (Reprint der überarbeiteten Fassung von 1942).
– Movement and Self-Control in Protein Assemblies. Von Donald L. D. Caspar in: Biophysical Journal, Band 32, Heft 1, Seiten 103 bis 138, Oktober 1980.
– Cellular Tensegrity: Defining New Rules of Biological Design that Govern the Cytoskeleton. Von Donald E. Ingber in: Journal of Cell Science, Band 104, Heft 3, Seiten 613 bis 627, März 1993.
– Mechanotransduction across the Cell Surface and through the Cytoskeleton. Von Ning Wang, James P. Butler und Donald E. Ingber in: Science, Band 260, Seiten 1124 bis 1127, 21. Mai 1993.
– Geometric Control of Cell Life and Death. Von Christopher S. Chen, Milan Mrksich, Sui Huang, George M. Whitesides und Donald E. Ingber in: Science, Band 276, Seiten 1425 bis 1428, 30. Mai 1997.
– Tensegrity: The Architectural Basis of Cellular Machanotransduction. Von Donald E. Ingber in: Annual Review of Physiology, Band 59, Seiten 575 bis 599, 1997.
– Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde und andere Schriften. Von R. Buckminster Fuller. Verlag der Kunst, Amsterdam, Neuauflage 1997
Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1998, Seite 32
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